EuGH, Beschluss v. 2. Dezember 2022, C‑229/22

Entscheidung ohne Relevanz für den deutschen Sprachraum.

Leitsätze der Kanzlei Woicke.

In der Rechtssache C‑229/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunalul Specializat Cluj (Fachgericht Cluj, Rumänien) mit Entscheidung vom 25. Januar 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 29. März 2022, in dem Verfahren

NC

gegen

Compania Naţională de Transporturi Aeriene Tarom SA

erlässt

DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Safjan sowie der Richter N. Jääskinen und M. Gavalec (Berichterstatter),

Generalanwältin: L. Medina,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund der nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Entscheidung, gemäß Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden,

folgenden

Beschluss

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 5 Abs. 1 Buchst. c Ziff. iii der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (ABl. 2004, L 46, S. 1).

2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen einem Fluggast, NC, und dem Luftfahrtunternehmen Compania Naţională de Transporturi Aeriene Tarom SA (im Folgenden: Tarom) wegen der Weigerung von Tarom, ihm nach der Verschiebung der ursprünglichen planmäßigen Abflugzeit seines Fluges einen Ausgleich zu leisten.

Rechtlicher Rahmen

3 Die Erwägungsgründe 1 und 12 der Verordnung Nr. 261/2004 lauten:

„(1) Die Maßnahmen der [Union] im Bereich des Luftverkehrs sollten unter anderem darauf abzielen, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen. Ferner sollte den Erfordernissen des Verbraucherschutzes im Allgemeinen in vollem Umfang Rechnung getragen werden.

(12) Das Ärgernis und die Unannehmlichkeiten, die den Fluggästen durch die Annullierung von Flügen entstehen, sollten ebenfalls verringert werden. Dies sollte dadurch erreicht werden, dass die Luftfahrtunternehmen veranlasst werden, die Fluggäste vor der planmäßigen Abflugzeit über Annullierungen zu unterrichten und ihnen darüber hinaus eine zumutbare anderweitige Beförderung anzubieten, so dass die Fluggäste umdisponieren können. Andernfalls sollten die Luftfahrtunternehmen den Fluggästen einen Ausgleich leisten und auch eine angemessene Betreuung anbieten, es sei denn, die Annullierung geht auf außergewöhnliche Umstände zurück, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären.“

4 In Art. 5 („Annullierung“) dieser Verordnung heißt es:

„(1) Bei Annullierung eines Fluges [wird] den betroffenen Fluggästen

c) vom ausführenden Luftfahrtunternehmen ein Anspruch auf Ausgleichsleistungen gemäß Artikel 7 eingeräumt, es sei denn,

ii) sie werden über die Annullierung in einem Zeitraum zwischen zwei Wochen und sieben Tagen vor der planmäßigen Abflugzeit unterrichtet und erhalten ein Angebot zur anderweitigen Beförderung, das es ihnen ermöglicht, nicht mehr als zwei Stunden vor der planmäßigen Abflugzeit abzufliegen und ihr Endziel höchstens vier Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit zu erreichen, oder

iii) sie werden über die Annullierung weniger als sieben Tage vor der planmäßigen Abflugzeit unterrichtet und erhalten ein Angebot zur anderweitigen Beförderung, das es ihnen ermöglicht, nicht mehr als eine Stunde vor der planmäßigen Abflugzeit abzufliegen und ihr Endziel höchstens zwei Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit zu erreichen.

…“

5 Art. 7 („Ausgleichsanspruch“) Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 sieht vor:

„(1) Wird auf diesen Artikel Bezug genommen, so erhalten die Fluggäste Ausgleichszahlungen in folgender Höhe:

a) 250 [Euro] bei allen Flügen über eine Entfernung von 1 500 km oder weniger,

Bei der Ermittlung der Entfernung wird der letzte Zielort zugrunde gelegt, an dem der Fluggast infolge der Nichtbeförderung oder der Annullierung später als zur planmäßigen Ankunftszeit ankommt.“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

6 Der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens buchte bei Tarom einen Flug von Cluj-Napoca (Rumänien) nach Bukarest (Rumänien). Der Flug sollte von diesem Luftfahrtunternehmen am 18. Mai 2020 mit einem planmäßigen Abflug um 19.40 Uhr und einer planmäßigen Landung um 20.50 Uhr am selben Tag durchgeführt werden.

7 Als sich der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens am 18. Mai 2020 um 18 Uhr zum Boarding am Flughafen von Cluj-Napoca einfand, wurde er davon unterrichtet, dass der Direktflug Cluj-Napoca–Bukarest, für den er eine Buchung vorgenommen hatte, durch einen Flug mit einer Zwischenlandung in Iași (Rumänien) ersetzt worden sei. Er akzeptierte diesen Flug, der am selben Tag um 19.55 Uhr in Cluj-Napoca startete und um 22.30 Uhr in Bukarest landete.

8 Da der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens der Ansicht war, der Flug vom 18. Mai 2020, für den er eine Buchung vorgenommen hatte, sei annulliert worden, beantragte er am selben Tag per E‑Mail bei Tarom eine Ausgleichszahlung in Höhe von 250 Euro gemäß Art. 7 Abs. 1 Buchst. a in Verbindung mit Art. 5 Abs. 1 Buchst. c Ziff. iii der Verordnung Nr. 261/2004.

9 Nach Ablehnung seines Antrags durch Tarom erhob der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens am 17. August 2020 bei der Judecătoria Cluj-Napoca (Gericht erster Instanz Cluj-Napoca, Rumänien) Klage auf die beantragte Ausgleichszahlung. Mit Urteil vom 26. Februar 2021 wies dieses Gericht die Klage mit der Begründung ab, dass die in Art. 5 Abs. 1 Buchst. c Ziff. iii dieser Verordnung vorgesehene Ausnahme vom Anspruch eines Fluggasts auf Ausgleichleistungen bei Annullierung eines Fluges anwendbar sei, da der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens bei der Ankunft nur eine Verspätung von einer Stunde und 40 Minuten erlitten habe.

10 Gegen dieses Urteil legte der Rechtsmittelführer des Ausgangsverfahrens beim Tribunalul Specializat Cluj (Fachgericht Cluj, Rumänien) ein Rechtsmittel ein. Er macht insbesondere geltend, dass gegen Art. 5 Abs. 1 Buchst. c Ziff. iii der Verordnung Nr. 261/2004 verstoßen worden sei, da der Alternativflug nicht weniger als eine Stunde vor der planmäßigen Abflugzeit abgeflogen sei.

11 Das vorlegende Gericht weist insoweit darauf hin, dass diese Bestimmung in ihrer Fassung in rumänischer Sprache vorsehe, dass bei Annullierung eines Fluges den betroffenen Fluggästen vom ausführenden Luftfahrtunternehmen ein Anspruch auf Ausgleichsleistungen gemäß Art. 7 dieser Verordnung eingeräumt werde, es sei denn, sie würden über die Annullierung des Fluges weniger als sieben Tage vor der planmäßigen Abflugzeit unterrichtet und erhielten von diesem Luftfahrtunternehmen ein Angebot zur anderweitigen Beförderung, das es ihnen ermögliche, nicht weniger als eine Stunde vor der planmäßigen Abflugzeit abzufliegen und ihr Endziel höchstens zwei Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit zu erreichen („în cazul în care sunt informați despre această anulare cu mai puțin de șapte zile înainte de ora de plecare prevăzută și li se oferă o redirecționare care să le permită să plece cel târziu cu o oră înainte de ora de plecare prevăzută și să ajungă la destinația finală în mai puțin de două ore după ora de sosire prevăzută“).

12 Das vorlegende Gericht weist jedoch darauf hin, dass die Fassung dieser Bestimmung in rumänischer Sprache hinsichtlich der Festlegung der Abflugzeit der anderweitigen Beförderung von anderen Sprachfassungen dieser Bestimmung abweiche. Während nämlich die Fassung von Art. 5 Abs. 1 Buchst. c Ziff. iii der Verordnung Nr. 261/2004 in rumänischer Sprache vorsehe, dass die Abflugzeit der anderweitigen Beförderung auf „nicht weniger als“ eine Stunde vor der planmäßigen Abflugzeit des annullierten Fluges festgelegt werden müsse, sähen die Fassungen in englischer Sprache („no more than one hour before the scheduled time of departure“) und in französischer Sprache („au plus tôt une heure avant l’heure de départ prévue“) vor, dass die Abflugzeit der anderweitigen Beförderung gegenüber der Abflugzeit des annullierten Fluges um nicht mehr als eine Stunde vorverlegt werden dürfe. Das vorlegende Gericht weist zwar darauf hin, dass sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu dieser Verordnung offenbar ergebe, dass der in ihrem Art. 5 Abs. 1 Buchst. c Ziff. iii vorgesehenen Ausnahme die Bedeutung beizumessen sei, die sich insbesondere aus der Fassung dieser Bestimmung in englischer und französischer Sprache ergebe, hält es aber für erforderlich, dass der Gerichtshof über die korrekte Auslegung der Bestimmung entscheidet.

13 Unter diesen Umständen hat das Tribunalul Specializat Cluj (Fachgericht Cluj) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist Art. 5 Abs. 1 Buchst. c Ziff. iii der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen,

a) dass das Luftfahrtunternehmen von der Zahlung der Ausgleichsleistung befreit ist, wenn die betroffenen Fluggäste weniger als sieben Tage vor der planmäßigen Abflugzeit über die Annullierung unterrichtet werden und ein Angebot zur anderweitigen Beförderung erhalten, das es ihnen ermöglicht, nicht weniger als eine Stunde vor der planmäßigen Abflugzeit abzufliegen und ihr Endziel höchstens zwei Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit zu erreichen,

oder im Gegenteil dahin,

b) dass das Luftfahrtunternehmen von der Zahlung der Ausgleichsleistung befreit ist, wenn die betroffenen Fluggäste weniger als sieben Tage vor der planmäßigen Abflugzeit über die Annullierung unterrichtet werden und ein Angebot zur anderweitigen Beförderung erhalten, das es ihnen ermöglicht, nicht mehr als eine Stunde vor der planmäßigen Abflugzeit abzufliegen und ihr Endziel höchstens zwei Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit zu erreichen?

Zur Vorlagefrage

14 Nach Art. 99 seiner Verfahrensordnung kann der Gerichtshof, wenn die Antwort auf eine zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage klar aus der Rechtsprechung abgeleitet werden kann oder die Beantwortung einer solchen Frage keinen Raum für vernünftige Zweifel lässt, auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts jederzeit die Entscheidung treffen, durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden.

15 Diese Bestimmung ist im Rahmen des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens anzuwenden.

16 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 5 Abs. 1 Buchst. c Ziff. iii der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen ist, dass den betroffenen Fluggästen bei Annullierung eines Fluges vom ausführenden Luftfahrtunternehmen ein Anspruch auf Ausgleichsleistungen gemäß Art. 7 dieser Verordnung eingeräumt wird, es sei denn, sie werden über die Annullierung weniger als sieben Tage vor der planmäßigen Abflugzeit unterrichtet und erhalten von diesem Luftfahrtunternehmen ein Angebot zur anderweitigen Beförderung, das es ihnen ermöglicht, nicht mehr als eine Stunde vor der planmäßigen Abflugzeit abzufliegen und ihr Endziel höchstens zwei Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit zu erreichen.

17 Es ist festzustellen, dass die verschiedenen Sprachfassungen von Art. 5 Abs. 1 Buchst. c Ziff. iii der Verordnung Nr. 261/2004 voneinander abweichen.

18 Aus einem Vergleich dieser Fassungen ergibt sich nämlich, dass in den Fassungen dieser Bestimmung in rumänischer und bulgarischer Sprache den Fluggästen, deren Flug annulliert wurde, vom ausführenden Luftfahrtunternehmen ein Anspruch auf Ausgleichsleistungen gemäß Art. 7 dieser Verordnung eingeräumt wird, es sei denn, sie erhalten, wenn sie weniger als sieben Tage vor der planmäßigen Abflugzeit über die Annullierung des Fluges unterrichtet werden, von diesem Luftfahrtunternehmen ein Angebot zur anderweitigen Beförderung, das es ihnen ermöglicht, „nicht weniger als“ eine Stunde vor der planmäßigen Abflugzeit abzufliegen („cel târziu cu o oră înainte de ora de plecare prevăzută“ und „което им позволява да заминат не по-късно от един час преди началото на полета по разписание“) und ihr Endziel höchstens zwei Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit zu erreichen.

19 Dagegen sieht Art. 5 Abs. 1 Buchst. c Ziff. iii der Verordnung Nr. 261/2004 in der Fassung in französischer Sprache vor, dass den betroffenen Fluggästen bei Annullierung eines Fluges vom ausführenden Luftfahrtunternehmen ein Anspruch auf Ausgleichsleistungen gemäß Art. 7 dieser Verordnung eingeräumt wird, es sei denn, sie werden über die Annullierung des Fluges weniger als sieben Tage vor der planmäßigen Abflugzeit unterrichtet und erhalten ein Angebot zur anderweitigen Beförderung, das es ihnen ermöglicht, „nicht mehr als“ eine Stunde vor der planmäßigen Abflugzeit abzufliegen („leur permettant de partir au plus tôt une heure avant l’heure de départ prévue“) und ihr Endziel höchstens zwei Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit zu erreichen.

20 20 weitere Sprachfassungen dieser Bestimmung entsprechen der französischen Fassung dieser Bestimmung, nämlich die Fassungen in spanischer Sprache („que les permita salir con no más de una hora de antelación con respecto a la hora de salida prevista“), in tschechischer Sprache („které jim umožní odletět nejdříve jednu hodinu před plánovaným časem odletu“), in dänischer Sprache („så de kan afrejse højst en time før det planlagte afgangstidspunkt“), in deutscher Sprache („ermöglicht, nicht mehr als eine Stunde vor der planmäßigen Abflugzeit abzufliegen“), in estnischer Sprache („võimaldab neil välja lennata mitte rohkem kui üks tund enne kavandatud väljumisaega“), in griechischer Sprache („επιτρέπει να φύγουν όχι περισσότερο από μία ώρα νωρίτερα από την προγραμματισμένη ώρα αναχώρησης“), in englischer Sprache („allowing them to depart no more than one hour before the scheduled time of departure“), in kroatischer Sprache („čime im je omogućeno da otputuju ne više od sat vremena ranije od predviđenog vremena polaska“), in italienischer Sprache („partire con un volo alternativo non più di un’ora prima dell’orario di partenza previsto“), in lettischer Sprache („viņi var izlidot ne vairāk kā vienu stundu pirms iepriekš paredzētā izlidošanas“), in litauischer Sprache („išvykstant ne daugiau kaip viena valanda anksčiau už numatytą išvykimo laiką“), in ungarischer Sprache („hogy legfeljebb egy órával a menetrend szerinti indulás időpontja előtt induljanak“), in maltesischer Sprache („li tħallihom jitilqu mhux aktar minn siegħa qabel il-ħin tat-tluq skedat“), in niederländischer Sprache („die niet eerder dan één uur voor de geplande vertrektijd vertrekt“), in polnischer Sprache („umożliwiającą im wylot nie więcej niż godzinę przed planowym czasem odlotu“), in portugiesischer Sprache („que lhes permitisse partir até uma hora antes da hora programada de partida“), in slowakischer Sprache („ktoré im umožní odletieť maximálne hodinu pred plánovaným časom odletu“), in slowenischer Sprache („ki jim zagotavlja odhod največ eno uro pred odhodom po voznem redu in prihod“), in finnischer Sprache („jonka mukaan hänen olisi lähdettävä korkeintaan tuntia ennen aikataulun mukaista lähtöaikaa“) und in schwedischer Sprache („så att de kan avresa högst en timme före den tidtabellsenliga avgångstiden“).

21 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die in einer der Sprachfassungen einer Bestimmung des Unionrechts verwendete Formulierung nicht als alleinige Grundlage für die Auslegung dieser Bestimmung herangezogen werden oder Vorrang vor den anderen sprachlichen Fassungen beanspruchen kann. Die Bestimmungen des Unionsrechts müssen nämlich im Licht der Fassungen in allen Sprachen der Union einheitlich ausgelegt und angewandt werden. Weichen die verschiedenen Sprachfassungen eines Rechtstexts der Union voneinander ab, ist die fragliche Bestimmung nach der allgemeinen Systematik und dem Zweck der Regelung auszulegen, zu der sie gehört (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 27. Oktober 1977, Bouchereau, 30/77, EU:C:1977:172, Rn. 14, vom 9. Juli 2020, Banca Transilvania, C‑81/19, EU:C:2020:532, Rn. 33, und vom 30. Juni 2022, Allianz Elementar Versicherung, C‑652/20, EU:C:2022:514, Rn. 36).

22 Hierzu ist festzustellen, dass die Verordnung Nr. 261/2004, wie sich aus den Erwägungsgründen 1 und 12 ergibt, die Rechte der Fluggäste im Luftverkehr stärken soll. Die Maßnahmen der Union im Bereich des Luftverkehrs zielen nämlich u. a. darauf ab, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen, insbesondere durch die Verringerung des Ärgernisses und der Unannehmlichkeiten, die durch die Annullierung von Flügen entstehen.

23 In diesem Zusammenhang ergibt sich aus Art. 5 Abs. 1 Buchst. c Ziff. iii dieser Verordnung, dass unter den in dieser Bestimmung genannten Voraussetzungen Fluggäste Anspruch auf eine pauschale Ausgleichsleistung haben, die über die Annullierung ihres Fluges weniger als sieben Tage vor der planmäßigen Abflugzeit unterrichtet werden und denen das Luftfahrtunternehmen kein Angebot zur anderweitigen Beförderung mit einem Flug unterbreiten kann, der nicht mehr als eine Stunde vor der planmäßigen Abflugzeit abfliegt und das Endziel höchstens zwei Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit erreicht.

24 Diese Bestimmung sieht somit zwei kumulative Voraussetzungen vor, nämlich eine anderweitige Beförderung mit einem Flug, der zum einen nicht mehr als eine Stunde vor der planmäßigen Abflugzeit abfliegt und zum anderen das Endziel höchstens zwei Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit erreicht. Der betroffene Fluggast hat somit nur dann keinen Anspruch auf Ausgleichsleistungen, wenn beide Voraussetzungen erfüllt sind (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 27. Juni 2018, flightright, C‑130/18, nicht veröffentlicht, EU:C:2018:496, Rn. 17).

25 Hierzu ist festzustellen, dass diese Bestimmung dem ausführenden Luftfahrtunternehmen einen gewissen Handlungsspielraum einräumt, um dem Fluggast eines im letzten Augenblick annullierten Fluges, ohne ihm einen Ausgleich leisten zu müssen, eine anderweitige Beförderung anzubieten, die länger dauert als die des annullierten Fluges. Sollte sich das Luftfahrtunternehmen für eine solche anderweitige Beförderung entscheiden, ermöglicht ihm die Bestimmung, den Abflug des Fluggasts um eine Stunde vorzuverlegen und seine Ankunft um höchstens zwei Stunden zu verschieben.

26 Dieser Handlungsspielraum variiert je nach dem Zeitpunkt, zu dem das ausführende Luftfahrtunternehmen den Fluggast über die Annullierung seines Fluges informiert; er ist in dem in Art. 5 Abs. 1 Buchst. c Ziff. ii der Verordnung genannten Fall größer und in dem in Art. 5 Abs. 1 Buchst. c Ziff. iii dieser Verordnung geregelten Fall kleiner. Im letztgenannten Fall muss der Fluggast vom ausführenden Luftfahrtunternehmen ein Angebot zur anderweitigen Beförderung erhalten, deren Flugzeiten sich so wenig wie möglich von den ursprünglichen planmäßigen Flugzeiten unterscheiden.

27 Die Fassung von Art. 5 Abs. 1 Buchst. c Ziff. iii dieser Verordnung in rumänischer Sprache gewährleistet dagegen nicht, dass sich die Flugzeiten der angebotenen anderweitigen Beförderung so wenig wie möglich von den ursprünglichen planmäßigen Flugzeiten unterscheiden. Diese Sprachfassung ermöglicht es dem ausführenden Luftfahrtunternehmen nämlich ebenso wie die Fassung in bulgarischer Sprache, in der Praxis die Abflugzeit eines Flugzeugs nach Belieben und nahezu unbegrenzt vorzuverlegen, was dem Ziel der Verordnung Nr. 261/2004, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen, zuwiderläuft und, durch die Schaffung eines sehr deutlichen Ungleichgewichts zugunsten dieses Luftfahrtunternehmens, geeignet ist, die Sicherheit der Vertragsverhältnisse zu beeinträchtigen.

28 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 5 Abs. 1 Buchst. c Ziff. iii der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen ist, dass den betroffenen Fluggästen bei Annullierung eines Fluges vom ausführenden Luftfahrtunternehmen ein Anspruch auf Ausgleichsleistungen gemäß Art. 7 dieser Verordnung eingeräumt wird, es sei denn, sie werden über die Annullierung weniger als sieben Tage vor der planmäßigen Abflugzeit unterrichtet und erhalten von diesem Luftfahrtunternehmen ein Angebot zur anderweitigen Beförderung, das es ihnen ermöglicht, nicht mehr als eine Stunde vor der planmäßigen Abflugzeit abzufliegen und ihr Endziel höchstens zwei Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit zu erreichen.

Kosten

29 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 5 Abs. 1 Buchst. c Ziff. iii der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91

ist dahin auszulegen, dass

den betroffenen Fluggästen bei Annullierung eines Fluges vom ausführenden Luftfahrtunternehmen ein Anspruch auf Ausgleichsleistungen gemäß Art. 7 dieser Verordnung eingeräumt wird, es sei denn, sie werden über die Annullierung weniger als sieben Tage vor der planmäßigen Abflugzeit unterrichtet und erhalten von diesem Luftfahrtunternehmen ein Angebot zur anderweitigen Beförderung, das es ihnen ermöglicht, nicht mehr als eine Stunde vor der planmäßigen Abflugzeit abzufliegen und ihr Endziel höchstens zwei Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit zu erreichen.

Unterschriften

https://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=261%252F2004&docid=268559&pageIndex=0&doclang=de&mode=req&dir=&occ=first&part=1&cid=1050072#ctx1