EuGH, Urteil v. 6. März 2025, C‑20/24

Bordkarte entspricht regelmäßig Buchungsbestätigung, sofern nicht Gegenteiliges nachgewiesen wird. EU-VO 261/2004 anwendbar, wenn Reiseveranstalter Flugpreis an Airline zahlt. Auch dann, wenn Preis für Pauschalreise von Drittem an Reiseunternehmen gezahlt wird.

Leitsätze der Kanzlei Woicke

In der Rechtssache C‑20/24 [Cymdek](i)

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sąd Rejonowy dla m. st. Warszawy w Warszawie (Rayongericht für die Hauptstadt Warschau, Polen) mit Entscheidung vom 24. November 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 12. Januar 2024, in dem Verfahren

M1. R.,

M2. R.

gegen

AAA sp. z o.o.

erlässt

DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Gavalec (Berichterstatter) sowie der Richter Z. Csehi und F. Schalin,

Generalanwalt: R. Norkus,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– von M1. R. und M2. R., vertreten durch P. Mędygrał, Radca prawny,

– der AAA sp. z o.o., vertreten durch K. Bień, Radca prawny,

– der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch B. Sasinowska und N. Yerrell als Bevollmächtigte,

aufgrund der nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Entscheidung, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Buchst. g sowie Art. 3 Abs. 2 und 3 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (ABl. 2004, L 46, S. 1).

2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen M1. R. und M2. R., zwei Fluggästen (im Folgenden: im Ausgangsverfahren betroffene Fluggäste), auf der einen Seite und der Gesellschaft AAA sp. z o.o., einem Luftfahrtunternehmen, auf der anderen Seite wegen eines von diesen Fluggästen gestellten und auf die Verordnung Nr. 261/2004 gestützten Antrags auf Ausgleichszahlung nach einer großen Verspätung eines Fluges bei der Ankunft an seinem Endziel.

Rechtlicher Rahmen

3 Die Erwägungsgründe 1 und 5 der Verordnung Nr. 261/2004 lauten:

„(1) Die Maßnahmen der [Europäischen] Gemeinschaft im Bereich des Luftverkehrs sollten unter anderem darauf abzielen, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen. Ferner sollte den Erfordernissen des Verbraucherschutzes im Allgemeinen in vollem Umfang Rechnung getragen werden.



(5) Da die Unterscheidung zwischen Linienflugverkehr und Bedarfsflugverkehr an Deutlichkeit verliert, sollte der Schutz sich nicht auf Fluggäste im Linienflugverkehr beschränken, sondern sich auch auf Fluggäste im Bedarfsflugverkehr, einschließlich Flügen im Rahmen von Pauschalreisen, erstrecken.

…“

4 In Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) dieser Verordnung heißt es:

„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck



f) ‚Flugschein‘ ein gültiges, einen Anspruch auf Beförderungsleistung begründendes Dokument oder eine gleichwertige papierlose, auch elektronisch ausgestellte Berechtigung, das bzw. die von dem Luftfahrtunternehmen oder dessen zugelassenem Vermittler ausgegeben oder genehmigt wurde;

g) ‚Buchung‘ den Umstand, dass der Fluggast über einen Flugschein oder einen anderen Beleg verfügt, aus dem hervorgeht, dass die Buchung von dem Luftfahrtunternehmen oder dem Reiseunternehmen akzeptiert und registriert wurde;



j) ‚Nichtbeförderung‘ die Weigerung, Fluggäste zu befördern, obwohl sie sich unter den in Artikel 3 Absatz 2 genannten Bedingungen am Flugsteig eingefunden haben, sofern keine vertretbaren Gründe für die Nichtbeförderung gegeben sind, z. B. im Zusammenhang mit der Gesundheit oder der allgemeinen oder betrieblichen Sicherheit oder unzureichenden Reiseunterlagen;

…“

5 Art. 3 („Anwendungsbereich“) dieser Verordnung bestimmt:

„(1) Diese Verordnung gilt

a) für Fluggäste, die auf Flughäfen im Gebiet eines Mitgliedstaats, das den Bestimmungen des Vertrags unterliegt, einen Flug antreten;

b) sofern das ausführende Luftfahrtunternehmen ein Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft ist, für Fluggäste, die von einem Flughafen in einem Drittstaat einen Flug zu einem Flughafen im Gebiet eines Mitgliedstaats, das den Bestimmungen des Vertrags unterliegt, antreten, es sei denn, sie haben in diesem Drittstaat Gegen- oder Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen erhalten.

(2) Absatz 1 gilt unter der Bedingung, dass die Fluggäste

a) über eine bestätigte Buchung für den betreffenden Flug verfügen und – außer im Fall einer Annullierung gemäß Artikel 5 – sich

– wie vorgegeben und zu der zuvor schriftlich (einschließlich auf elektronischem Wege) von dem Luftfahrtunternehmen, dem Reiseunternehmen oder einem zugelassenen Reisevermittler angegebenen Zeit zur Abfertigung einfinden

oder, falls keine Zeit angegeben wurde,

– spätestens 45 Minuten vor der veröffentlichten Abflugzeit zur Abfertigung einfinden oder

b) von einem Luftfahrtunternehmen oder Reiseunternehmen von einem Flug, für den sie eine Buchung besaßen, auf einen anderen Flug verlegt wurden, ungeachtet des Grundes hierfür.

(3) Diese Verordnung gilt nicht für Fluggäste, die kostenlos oder zu einem reduzierten Tarif reisen, der für die Öffentlichkeit nicht unmittelbar oder mittelbar verfügbar ist. Sie gilt jedoch für Fluggäste mit Flugscheinen, die im Rahmen eines Kundenbindungsprogramms oder anderer Werbeprogramme von einem Luftfahrtunternehmen oder Reiseunternehmen ausgegeben wurden.



(5) Diese Verordnung gilt für alle ausführenden Luftfahrtunternehmen, die Beförderungen für Fluggäste im Sinne der Absätze 1 und 2 erbringen. Erfüllt ein ausführendes Luftfahrtunternehmen, das in keiner Vertragsbeziehung mit dem Fluggast steht, Verpflichtungen im Rahmen dieser Verordnung, so wird davon ausgegangen, dass es im Namen der Person handelt, die in einer Vertragsbeziehung mit dem betreffenden Fluggast steht.

…“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

6 AAA, ein Luftfahrtunternehmen, das Charterflüge anbietet, schloss mit der BBB sp. z o.o., einem Reiseunternehmen, einen Vertrag, in dessen Rahmen AAA für BBB bestimmte Flüge an bestimmten Tagen durchführte, für die BBB anschließend Flugscheine an Fluggäste verkaufte. BBB zahlte das Entgelt für die Flüge an AAA.

7 Die im Ausgangsverfahren betroffenen Fluggäste nahmen an einer Pauschalreise teil, die auch den Flug von Teneriffa (Spanien) nach Warschau (Polen) am 20. Mai 2021 umfasste, der von AAA durchgeführt wurde. Der Pauschalreisevertrag wurde zwischen der CCC sp. z o.o. zugunsten dieser Fluggäste und BBB geschlossen. Dieser Flug hatte eine Ankunftsverspätung von mehr als 22 Stunden.

8 Zum Nachweis ihrer Aktivlegitimation zur Geltendmachung von Ausgleichsleistungen für die in Rede stehende Flugverspätung legten die im Ausgangsverfahren betroffenen Fluggäste Kopien der Bordkarten für diesen Flug vor. AAA weigerte sich aber, eine Ausgleichszahlung an diese Fluggäste zu erbringen, da sie nicht nachgewiesen hätten, dass sie über eine bestätigte und bezahlte Buchung für den betreffenden Flug verfügten. Die Pauschalreise dieser Fluggäste sei nämlich von CCC zu Vorzugsbedingungen bezahlt worden, so dass sie kostenlos oder zu einem reduzierten Tarif im Sinne von Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 gereist seien, was den Ausgleichsanspruch nach dieser Verordnung ausschließe.

9 Die im Ausgangsverfahren betroffenen Fluggäste sind der Ansicht, dass sie durch die Vorlage der Bordkarten zum Zweck des Erhalts einer solchen Ausgleichszahlung nachgewiesen hätten, dass sie über eine bestätigte Buchung verfügten, da ihnen andernfalls die Bordkarten nicht ausgegeben worden wären. Im Übrigen obliege es AAA, nachzuweisen, dass diese Fluggäste kostenlos gereist seien, und nicht ihnen, nachzuweisen, dass sie den Preis für den von AAA durchgeführten Flug gezahlt hätten. Jedenfalls seien die im Ausgangsverfahren betroffenen Fluggäste nicht kostenlos gereist, da AAA von BBB eine Zahlung für die Durchführung des Fluges erhalten habe und BBB von CCC, die diesen Fluggästen die Pauschalreise bezahlt habe, für die Pauschalreise, einschließlich Flug, bezahlt worden sei. Insoweit spiele es im Hinblick auf Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 keine Rolle, ob der Flug von den Fluggästen selbst oder von einem Dritten bezahlt worden sei, sofern es sich nicht um das Luftfahrtunternehmen handele.

10 Der Sąd Rejonowy dla m. st. Warszawy w Warszawie (Rayongericht für die Hauptstadt Warschau, Polen), das vorlegende Gericht, hat Zweifel, ob die Vorlage einer Bordkarte durch einen Fluggast einen „anderen Beleg“ im Sinne von Art. 2 Buchst. g der Verordnung Nr. 261/2004 darstellt, aus dem hervorgeht, dass die Buchung von dem Luftfahrtunternehmen oder dem Reiseunternehmen akzeptiert und registriert wurde.

11 Das vorlegende Gericht weist insoweit darauf hin, dass die Erkenntnisse aus dem Urteil vom 21. Dezember 2021, Azurair u. a. (C‑146/20, C‑188/20, C‑196/20 und C‑270/20, EU:C:2021:1038), es nicht ermöglichten, die Frage zu beantworten, ob das Unionsrecht in einer Situation wie der, mit der es befasst sei, die Vorlage eines „anderen Belegs“ im Sinne dieser Bestimmung zulasse, aus dem hervorgehe, dass ein Fluggast über eine bestätigte Buchung für einen Flug verfüge, wenn die von diesem Fluggast vorgelegte Bordkarte nicht alle in diesem Urteil genannten Angaben, wie die Ankunftszeit des Fluges, enthalte.

12 Selbst wenn AAA und einige Spruchkörper polnischer Berufungsgerichte der Ansicht sein sollten, dass die in Art. 3 Abs. 2 Buchst. a dieser Verordnung genannten Voraussetzungen eng auszulegen seien, ist das vorlegende Gericht im Übrigen der Ansicht, dass eine Bordkarte nicht an eine beliebige Person ausgegeben werde, sondern an einen Fluggast, der über eine bestätigte Buchung für den betreffenden Flug verfüge, und zwar nach der Abfertigung dieses Fluggasts für diesen Flug, während der die Flugscheinnummer oder die Buchungsnummer angegeben werden müsse. Abgesehen von bestimmten außergewöhnlichen Fällen gebe es jedoch keine andere rationale Erklärungsmöglichkeit, wie ein solcher Fluggast in den Besitz einer Bordkarte kommen könnte, ohne über eine solche Buchung zu verfügen.

13 Außerdem ist das vorlegende Gericht, anders als AAA und einige Spruchkörper polnischer Berufungsgerichte der Ansicht, dass es Sache des Luftfahrtunternehmens sei, zu beweisen, dass der fragliche Flug kostenlos erfolgt sei, und sich nicht darauf zu beschränken, aus einer bloßen dahin gehenden Behauptung für sich günstige Rechtsfolgen abzuleiten.

14 Im Übrigen fragt sich dieses Gericht, wie die Wendung „kostenlos oder zu einem reduzierten Tarif reisen, der für die Öffentlichkeit nicht unmittelbar oder mittelbar verfügbar ist“ in Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 auszulegen ist. Es ist der Ansicht, dass im Fall von Pauschalreisen, wenn eine Reise, die dem Reiseunternehmen entweder unmittelbar von den Fluggästen oder in ihrem Namen von einem anderen Unternehmen bezahlt worden sei, einen Flug umfasse, den das Reiseunternehmen dem Luftfahrtunternehmen bezahlt habe, diese Fluggäste nicht „kostenlos“ im Sinne dieser Bestimmung reisten.

15 Was insbesondere den Begriff „reduzierter Tarif“ im Sinne dieser Bestimmung betrifft, fragt sich das vorlegende Gericht, ob er dahin auszulegen ist, dass damit eine Ermäßigung gemeint ist, die das Luftfahrtunternehmen dem Fluggast anbietet, oder ob diese Bestimmung auch eine Situation erfasst, in der das Luftfahrtunternehmen vom Reiseunternehmen ein markübliches Entgelt erhält, dieses oder ein anderes Unternehmen aber die Fluggäste an der Pauschalreise zu Vorzugsbedingungen teilnehmen lässt. Für dieses Gericht scheint diese letzte Auslegung dem Ziel der Verordnung zuwiderzulaufen und schwerlich anwendbar, weil die entsprechenden Kriterien fehlten, wann von einer Teilnahme an einer Pauschalreise zu Vorzugsbedingungen gesprochen werden könne.

16 Unter diesen Umständen hat der Sąd Rejonowy dla m. st. Warszawy w Warszawie (Rayongericht für die Hauptstadt Warschau) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Kann die Bordkarte eines Fluggasts einen anderen Beleg im Sinne von Art. 2 Buchst. g der Verordnung Nr. 261/2004 darstellen, aus dem hervorgeht, dass die Buchung von dem Luftfahrtunternehmen oder dem Reiseunternehmen akzeptiert und registriert wurde?

2. Ist Art. 3 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen, dass Fluggäste, die über eine Bordkarte für den betreffenden Flug verfügen, sofern kein besonderer, außergewöhnlicher Umstand nachgewiesen wird, als Fluggäste anzusehen sind, die über eine bestätigte Buchung für den betreffenden Flug verfügen?

3. Ist Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen, dass der Fluggast die Beweislast dafür trägt, dass er den Flug bezahlt hat, oder muss gegebenenfalls das Luftfahrtunternehmen nachweisen, dass der Fluggast kostenlos oder zu einem reduzierten Tarif gereist ist, wenn es sich von seinen Verpflichtungen befreien will?

4. Ist Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen, dass der Flug als entgeltlich gilt, wenn der Fluggast beim Reiseunternehmen eine Pauschalreise erworben hat und dieses Unternehmen dem Luftfahrtunternehmen den Flug bezahlt hat?

5. Ist Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen, dass kein Fall von „Fluggäste(n), die … zu einem reduzierten Tarif reisen“, vorliegt, wenn ein Dritter eine Pauschalreise für die im Ausgangsverfahren betroffenen Fluggäste erwirbt, in deren Rahmen das Reiseunternehmen ein marktübliches Entgelt an die Charterfluggesellschaft entrichtet, und zwar unabhängig von der Art und Weise der Abrechnung zwischen dem Dritten und den Fluggästen?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten und zur zweiten Frage

17 Mit seiner ersten und seiner zweiten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 2 Buchst. g und Art. 3 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen sind, dass eine Bordkarte einen „anderen Beleg“ im Sinne der erstgenannten Bestimmung darstellen kann, aus dem hervorgeht, dass die Buchung von dem Luftfahrtunternehmen oder dem Reiseunternehmen akzeptiert und registriert wurde, so dass davon auszugehen ist, dass ein Fluggast, der über eine Bordkarte verfügt, eine „bestätigte Buchung“ im Sinne der letztgenannten Bestimmung für den betreffenden Flug hat, wenn kein besonderer, außergewöhnlicher Umstand nachgewiesen wird.

18 Nach Art. 3 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 261/2004 gilt diese Verordnung nur unter der Bedingung, dass erstens die Fluggäste über eine bestätigte Buchung für den betreffenden Flug verfügen und sich zweitens – außer im Fall einer Annullierung des geplanten Fluges gemäß Art. 5 der Verordnung – rechtzeitig zur Abfertigung einfinden. Da die beiden Voraussetzungen kumulativ sind, kann das Sich-Einfinden eines Fluggasts zur Abfertigung nicht aufgrund dessen vermutet werden, dass er über eine bestätigte Buchung für den betreffenden Flug verfügt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Januar 2024, Laudamotion [Verzicht auf einen verspäteten Flug], C‑474/22, EU:C:2024:73, Rn. 21 und die dort angeführte Rechtsprechung).

19 In der Verordnung Nr. 261/2004 wird der Begriff „bestätigte Buchung“ nicht definiert. Der Begriff „Buchung“ wird hingegen in Art. 2 Buchst. g der Verordnung definiert als der „Umstand, dass der Fluggast über einen Flugschein oder einen anderen Beleg verfügt, aus dem hervorgeht, dass die Buchung von dem Luftfahrtunternehmen oder dem Reiseunternehmen akzeptiert und registriert wurde“. Ferner umfasst der Begriff „Flugschein“ im Sinne von Art. 2 Buchst. f dieser Verordnung alles Gegenständliche oder Papierlose, das einen Anspruch des Fluggasts auf Beförderungsleistung begründet (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. Oktober 2022, flightright [Luftbeförderung von Stuttgart nach Kansas City], C‑436/21, EU:C:2022:762, Rn. 21 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 21. Dezember 2021, Azurair u. a., C‑146/20, C‑188/20, C‑196/20 und C‑270/20, EU:C:2021:1038, Rn. 40).

20 Was im Übrigen den Begriff „anderer Beleg“ im Sinne von Art. 2 Buchst. g der Verordnung Nr. 261/2004 betrifft, kommt, wenn der Fluggast über diesen vom Luftfahrtunternehmen oder vom Reiseunternehmen ausgestellten Beleg verfügt, dieser andere Beleg einer „Buchung“ im Sinne dieser Bestimmung gleich (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2021, Azurair u. a., C‑146/20, C‑188/20, C‑196/20 und C‑270/20, EU:C:2021:1038, Rn. 42).

21 Diese Begriffe sind im Interesse des im ersten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 261/2004 angeführten hohen Schutzniveaus für Fluggäste weit auszulegen (Urteil vom 6. Oktober 2022, flightright [Luftbeförderung von Stuttgart nach Kansas City], C‑436/21, EU:C:2022:762, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung).

22 Im vorliegenden Fall geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass die im Ausgangsverfahren betroffenen Fluggäste über vom Luftfahrtunternehmen ausgegebene Bordkarten verfügten, was es ihnen ermöglichte, einen von dieser Fluggesellschaft durchgeführten Flug von Teneriffa nach Warschau zurückzulegen, indem sie sich zuvor zur Abfertigung einfanden.

23 Wie die im Ausgangsverfahren betroffenen Fluggäste, die polnische Regierung und die Europäische Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen im Wesentlichen geltend gemacht haben, wird einem Fluggast für einen bestimmten Flug eine Bordkarte ausgegeben, die seinen Anspruch auf Beförderungsleistung begründet und ihn berechtigt, in das Flugzeug einzusteigen und den Flug anzutreten, sobald die Abfertigung des Fluggasts, u. a. durch Angabe der Flugscheinnummer oder der Buchungsnummer, durchgeführt wurde.

24 Daraus folgt, dass eine Bordkarte einen „anderen Beleg“ im Sinne von Art. 2 Buchst. g der Verordnung Nr. 261/2004 darstellen kann, aus dem hervorgeht, dass die Buchung von dem Luftfahrtunternehmen oder dem Reiseunternehmen für den betreffenden Flug akzeptiert und registriert wurde.

25 Diese Schlussfolgerung kann nicht durch den vom vorlegenden Gericht angeführten Umstand entkräftet werden, dass das Urteil vom 21. Dezember 2021, Azurair u. a. (C‑146/20, C‑188/20, C‑196/20 und C‑270/20, EU:C:2021:1038), es nicht ermögliche, die Frage zu beantworten, ob eine Bordkarte unter den Begriff „anderer Beleg“ im Sinne von Art. 2 Buchst. g der Verordnung Nr. 261/2004 fallen könne, da die Bordkarte nicht alle in diesem Urteil genannten Angaben, wie insbesondere die Ankunftszeit des Fluges, enthalte.

26 Zwar hat der Gerichtshof in Rn. 51 dieses Urteils für Recht erkannt, dass Art. 3 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen ist, dass der Fluggast über eine „bestätigte Buchung“ im Sinne dieser Bestimmung verfügt, wenn er von dem Reiseunternehmen, mit dem er in einer Vertragsbeziehung steht, einen „anderen Beleg“ im Sinne von Art. 2 Buchst. g der Verordnung erhalten hat, durch den ihm die Beförderung auf einem bestimmten, durch Abflug- und Ankunftsort, Abflug- und Ankunftszeit und Flugnummer individualisierten Flug versprochen wird; dies gilt auch dann, wenn das Reiseunternehmen von dem betreffenden Luftfahrtunternehmen keine Bestätigung in Bezug auf die Abflug- und Ankunftszeit dieses Fluges erhalten hat.

27 Anders als in der vorliegenden Rechtssache hatte das Reiseunternehmen in den Rechtssachen, in denen das Urteil vom 21. Dezember 2021, Azurair u. a. (C‑146/20, C‑188/20, C‑196/20 und C‑270/20, EU:C:2021:1038), ergangen ist, den Fluggästen jedoch andere Informationen über die Abflug- und Ankunftszeiten der Flüge übermittelt als die, die das Luftfahrtunternehmen dem Reiseunternehmen zuletzt übermittelt hatte, wobei die letztgenannten Informationen den Fluggästen nicht übermittelt wurden, so dass sie nur über die Informationen in dem vom Reiseunternehmen übermittelten Dokument verfügten.

28 Im Übrigen hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass, sofern ein bestimmtes Luftfahrtunternehmen die Fluggäste, die über eine bestätigte Buchung für den betreffenden Flug verfügen, an Bord nimmt und sie an ihren Zielort bringt, davon auszugehen ist, dass sie dem Erfordernis, sich vor dem Flug zur Abfertigung einzufinden, nachgekommen sind (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 24. Oktober 2019, easyJet Airline, C‑756/18, EU:C:2019:902, Rn. 28).

29 Umgekehrt ist, soweit Fluggäste wie die im Ausgangsverfahren betroffenen Fluggäste dem Erfordernis, sich zur Abfertigung einzufinden, ordnungsgemäß nachgekommen sind und den betreffenden Flug mit einer Bordkarte für diesen Flug zurückgelegt haben, davon auszugehen, dass sie dem Erfordernis, über eine bestätigte Buchung für diesen Flug zu verfügen, nachgekommen sind.

30 Dieses Ergebnis wird durch das im ersten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 261/2004 genannte Ziel, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen, bestätigt.

31 Tatsächlich haben die Fluggäste, deren Flug eine große Verspätung hatte, so die Möglichkeit, ihren Anspruch auf Ausgleichszahlung geltend zu machen, ohne der der Situation unangemessenen Anforderung zu unterliegen, nachträglich bei Stellung ihres Antrags auf die Ausgleichszahlung nachzuweisen, dass sie über eine bestätigte Buchung für den verspäteten Flug verfügten, mit dem sie jedenfalls befördert wurden (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 24. Oktober 2019, easyJet Airline, C‑756/18, EU:C:2019:902, Rn. 32).

32 Insoweit genügt zu dem von AAA angeführten Fall, dass eine Bordkarte bei Verlust durch eine Person, die Inhaberin dieser Karte ist, von einer anderen Person mit ähnlichen Angaben verwendet werden könnte, die Feststellung, dass, wie aus Art. 2 Buchst. j der Verordnung Nr. 261/2004 hervorgeht, diese es dem Luftfahrtunternehmen erlaubt, die Beförderung u. a. wegen unzureichender Reiseunterlagen zu verweigern.

33 Nach alledem ist auf die erste und die zweite Frage zu antworten, dass Art. 2 Buchst. g und Art. 3 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen sind, dass eine Bordkarte einen „anderen Beleg“ im Sinne der erstgenannten Bestimmung darstellen kann, aus dem hervorgeht, dass die Buchung von dem Luftfahrtunternehmen oder dem Reiseunternehmen akzeptiert und registriert wurde, so dass davon auszugehen ist, dass ein Fluggast, der über eine Bordkarte verfügt, eine „bestätigte Buchung“ im Sinne der letztgenannten Bestimmung für den betreffenden Flug hat, wenn kein besonderer, außergewöhnlicher Umstand nachgewiesen wird.

Zur den Fragen 3 bis 5

34 Mit seiner dritten bis fünften Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen ist, dass ein Fluggast nicht als im Sinne dieser Bestimmung kostenlos oder zu einem reduzierten Tarif, der für die Öffentlichkeit nicht unmittelbar oder mittelbar verfügbar ist, reisend gilt, wenn zum einen das Reiseunternehmen den Flugpreis an das ausführende Luftfahrtunternehmen zu marktüblichen Bedingungen zahlt und zum anderen der Preis für die Pauschalreise nicht vom Fluggast, sondern von einem Dritten an das Reiseunternehmen gezahlt wird. Das vorlegende Gericht möchte auch wissen, ob das Luftfahrtunternehmen beweisen muss, dass der Fluggast kostenlos oder zu einem reduzierten Tarif gereist ist, oder ob es dem Fluggast obliegt, zu beweisen, dass er den Flug bezahlt hat.

35 Nach Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 gilt diese Verordnung nicht für Fluggäste, die kostenlos oder zu einem reduzierten Tarif reisen, der für die Öffentlichkeit nicht unmittelbar oder mittelbar verfügbar ist.

36 Hierzu ist festzustellen, dass die in dieser Bestimmung vorgesehene Unanwendbarkeit dieser Verordnung eine Ausnahme von der Regel darstellt, dass die Verordnung, wie sich aus ihrem Art. 3 Abs. 1 ergibt, zum einen für Fluggäste gilt, die auf Flughäfen im Gebiet eines Mitgliedstaats, das den Bestimmungen des Vertrags unterliegt, einen Flug antreten, und zum anderen, sofern das ausführende Luftfahrtunternehmen ein in der Europäischen Union niedergelassenes Luftfahrtunternehmen ist, für Fluggäste, die von einem Flughafen in einem Drittstaat einen Flug zu einem Flughafen im Gebiet eines Mitgliedstaats, das den Bestimmungen des Vertrags unterliegt, antreten, es sei denn, sie haben in diesem Drittstaat nach den in Art. 3 Abs. 2 dieser Verordnung genannten Bedingungen Gegen- oder Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen erhalten.

37 Wie der Gerichtshof entschieden hat, ist allerdings in Anbetracht des Ziels der Verordnung Nr. 261/2004, das nach ihrem ersten Erwägungsgrund darin besteht, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen, eine Ausnahme von den Bestimmungen, die Fluggästen Rechte gewähren, eng auszulegen (Urteil vom 16. Januar 2025, Qatar Airways, C‑516/23, EU:C:2025:21, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).

38 Ferner sind nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs bei der Auslegung einer Unionsvorschrift nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (Urteil vom 21. November 2024, Meste Rimavská Sobota, C‑370/23, EU:C:2024:972, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).

39 Zwar lässt sich dem Wortlaut von Art. 3 Abs. 3 Satz 1 der Verordnung Nr. 261/2004 für sich genommen nicht entnehmen, ob der Anwendungsbereich dieser Bestimmung auf Fälle beschränkt ist, in denen nur das ausführende Luftfahrtunternehmen den Fluggästen die Möglichkeit bietet, kostenlos oder zu einem reduzierten Tarif zu reisen, der für die Öffentlichkeit nicht unmittelbar oder mittelbar verfügbar ist.

40 Was den Zusammenhang betrifft, in den sich diese Bestimmung einfügt, ergibt sich aus Art. 3 Abs. 3 der Verordnung, dass Fluggäste, die mit von einem Luftfahrtunternehmen kostenlos ausgegebenen Flugscheinen reisen, nicht unter diese Verordnung fallen, es sei denn, diese Flugscheine wurden im Rahmen eines Kundenbindungsprogramms oder anderer Werbeprogramme ausgegeben (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 26. November 2020, SATA International – Azores Airlines, C‑316/20, EU:C:2020:966, Rn. 15).

41 Der Gerichtshof hat insoweit bereits entschieden, dass Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen ist, dass diese Verordnung nicht auf Fluggäste anwendbar ist, die mit einem Flugschein zu einem Vorzugstarif reisen, der von einem Luftfahrtunternehmen im Rahmen des Sponsorings einer Veranstaltung ausgestellt wird, nur bestimmten Personen zugutekommt und nur mit vorheriger und für jede einzelne Person erteilter Erlaubnis dieses Luftfahrtunternehmens ausgestellt werden darf (Beschluss vom 26. November 2020, SATA International – Azores Airlines, C‑316/20, EU:C:2020:966, Rn. 19).

42 Ferner gilt diese Verordnung ihrem Art. 3 Abs. 5 zufolge für alle ausführenden Luftfahrtunternehmen, die Beförderungen für Fluggäste erbringen, die einen Flug auf oder zu Flughäfen im Gebiet eines Mitgliedstaats antreten. Nach dieser Bestimmung wird zudem dann, wenn ein ausführendes Luftfahrtunternehmen, das in keiner Vertragsbeziehung mit dem Fluggast steht, Verpflichtungen im Rahmen dieser Verordnung erfüllt, davon ausgegangen, dass es im Namen der Person handelt, die in einer Vertragsbeziehung mit dem betreffenden Fluggast steht (Urteil vom 26. März 2020, Primera Air Scandinavia, C‑215/18, EU:C:2020:235, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).

43 Insoweit hat der Gerichtshof für Recht erkannt, dass ein Fluggast eines um mindestens drei Stunden verspäteten Fluges gegen das ausführende Luftfahrtunternehmen eine Klage auf Ausgleichszahlung nach den Art. 6 und 7 der Verordnung Nr. 261/2004 erheben kann, selbst wenn zwischen dem Fluggast und dem Luftfahrtunternehmen kein Vertrag geschlossen wurde und der fragliche Flug Bestandteil einer Pauschalreise ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. März 2020, Primera Air Scandinavia, C‑215/18, EU:C:2020:235, Rn. 38).

44 In Anbetracht der Haftung des ausführenden Luftfahrtunternehmens für Ausgleichszahlungen an die Fluggäste bei großer Verspätung eines Fluges bei der Ankunft ist daher festzustellen, dass die in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 der Verordnung Nr. 261/2004 vorgesehene Ausnahme nur die Fälle erfasst, in denen das ausführende Luftfahrtunternehmen den Fluggästen erlaubt, kostenlos oder zu einem reduzierten Tarif, der für die Öffentlichkeit nicht unmittelbar oder mittelbar verfügbar ist, zu reisen.

45 Eine solche Auslegung steht im Einklang mit dem Ziel der Verordnung Nr. 261/2004, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen.

46 Nach dem fünften Erwägungsgrund dieser Verordnung sollte dieser Schutz sich nicht auf Fluggäste im Linienflugverkehr beschränken, sondern sich auch auf Fluggäste im Bedarfsflugverkehr, einschließlich Flügen im Rahmen von Pauschalreisen, erstrecken.

47 Aus der Entstehungsgeschichte dieser Verordnung ergibt sich nämlich, dass der Unionsgesetzgeber die Fluggäste, deren Flug Bestandteil einer Pauschalreise ist, nicht vom Anwendungsbereich dieser Verordnung ausschließen wollte, sondern ihnen vielmehr die durch diese Verordnung verliehenen Rechte zuerkennen wollte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. März 2020, Primera Air Scandinavia, C‑215/18, EU:C:2020:235, Rn. 36).

48 Da im vorliegenden Fall das Reiseunternehmen die Gegenleistung für die von den im Ausgangsverfahren betroffenen Fluggästen unternommene Pauschalreise erhalten und dem ausführenden Luftfahrtunternehmen den Flugpreis gezahlt hat und dieses ein markübliches Entgelt erhalten hat, ist davon auszugehen, dass diese Fluggäste nicht im Sinne von Art. 3 Abs. 3 Satz 1 der Verordnung Nr. 261/2004 kostenlos oder zu einem reduzierten Tarif gereist sind, der für die Öffentlichkeit nicht unmittelbar oder mittelbar verfügbar ist.

49 Wie sich aus der in Rn. 43 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ergibt, ist es für die Geltendmachung von Ansprüchen durch die im Ausgangsverfahren betroffenen Fluggäste gegen das ausführende Luftfahrtunternehmen unerheblich, dass der Preis der Pauschalreise nicht von diesen Fluggästen, die nicht in einer Vertragsbeziehung mit dem Luftfahrtunternehmen standen, sondern von einem Dritten an das Reiseunternehmen gezahlt wurde, das seinerseits den Preis des Fluges an das ausführende Luftfahrtunternehmen gezahlt hat.

50 Was die Beweislast dafür angeht, dass ein Fluggast im Sinne von Art. 3 Abs. 3 Satz 1 der Verordnung Nr. 261/2004 kostenlos oder zu einem reduzierten Tarif, der für die Öffentlichkeit nicht unmittelbar oder mittelbar verfügbar ist, gereist ist, ist festzustellen, dass diese Bestimmung, ohne ausdrücklich die Zuweisung der Beweislast zu regeln, eine Ausnahme von den Bestimmungen, die Fluggästen Rechte gewähren, einführt, wie sich aus Rn. 37 des vorliegenden Urteils ergibt, indem sie einen solchen Fluggast vom Anwendungsbereich dieser Verordnung ausschließt.

51 Um sich von seiner Verpflichtung zur Ausgleichszahlung an diesen Fluggast zu befreien, muss daher das ausführende Luftfahrtunternehmen nach den im nationalen Recht vorgesehenen Modalitäten beweisen, dass der Fluggast im Sinne von Art. 3 Abs. 3 Satz 1 der Verordnung kostenlos oder zu einem reduzierten Tarif, der für die Öffentlichkeit nicht unmittelbar oder mittelbar verfügbar ist, gereist ist, und daher nicht in deren Anwendungsbereich fällt.

52 Es ist jedoch festzustellen, dass eine Auslegung, die den Fluggästen die Beweislast auferlegt, nicht nur dem Ziel der Verordnung Nr. 261/2004, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste zu sicherzustellen, zuwiderlaufen würde, sondern auch schwer umzusetzen wäre, insbesondere in dem spezifischen Kontext des vorliegenden Falles, in dem die im Ausgangsverfahren betroffenen Fluggäste eine Pauschalreise bei einem Reiseunternehmen gebucht hatten.

53 Wie die im Ausgangsverfahren betroffenen Fluggäste und die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen im Wesentlichen geltend gemacht haben, ist es nämlich in der Regel, wie auch im vorliegenden Fall, das Reiseunternehmen, das die Zahlung des Flugpreises an das Luftfahrtunternehmen vornimmt, wenn ein Fluggast seine Pauschalreise nicht unmittelbar beim ausführenden Luftfahrtunternehmen, sondern über ein Reiseunternehmen bucht, da dieser Fluggast einen Preis für die gesamte Pauschalreise einschließlich des Fluges zahlt. Abgesehen davon, dass der Fluggast den genauen Preis des von diesem Unternehmen bezahlten Fluges nicht kennt, hat dieser Fluggast nur begrenzte Möglichkeiten, zu beweisen, dass er den Preis dieses Fluges gezahlt hat.

54 Nach alledem ist auf die dritte bis fünfte Frage zu antworten, dass Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen ist, dass ein Fluggast nicht als im Sinne dieser Bestimmung kostenlos oder zu einem reduzierten Tarif, der für die Öffentlichkeit nicht unmittelbar oder mittelbar verfügbar ist, reisend gilt, wenn zum einen das Reiseunternehmen den Flugpreis an das ausführende Luftfahrtunternehmen zu marktüblichen Bedingungen zahlt und zum anderen der Preis für die Pauschalreise nicht vom Fluggast, sondern von einem Dritten an das Reiseunternehmen gezahlt wird. Das Luftfahrtunternehmen muss nach den im nationalen Recht vorgesehenen Modalitäten beweisen, dass der Fluggast kostenlos oder zu einem solchen reduzierten Tarif gereist ist.

Kosten

55 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Siebte Kammer) für Recht erkannt:

1. Art. 2 Buchst. g und Art. 3 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91

sind dahin auszulegen, dass

eine Bordkarte einen „anderen Beleg“ im Sinne der erstgenannten Bestimmung darstellen kann, aus dem hervorgeht, dass die Buchung von dem Luftfahrtunternehmen oder dem Reiseunternehmen akzeptiert und registriert wurde, so dass davon auszugehen ist, dass ein Fluggast, der über eine Bordkarte verfügt, eine „bestätigte Buchung“ im Sinne der letztgenannten Bestimmung für den betreffenden Flug hat, wenn kein besonderer, außergewöhnlicher Umstand nachgewiesen wird.

2. Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004

ist dahin auszulegen, dass

ein Fluggast nicht als im Sinne dieser Bestimmung kostenlos oder zu einem reduzierten Tarif, der für die Öffentlichkeit nicht unmittelbar oder mittelbar verfügbar ist, reisend gilt, wenn zum einen das Reiseunternehmen den Flugpreis an das ausführende Luftfahrtunternehmen zu marktüblichen Bedingungen zahlt und zum anderen der Preis für die Pauschalreise nicht vom Fluggast, sondern von einem Dritten an das Reiseunternehmen gezahlt wird. Das Luftfahrtunternehmen muss nach den im nationalen Recht vorgesehenen Modalitäten beweisen, dass der Fluggast kostenlos oder zu einem solchen reduzierten Tarif gereist ist.

Unterschriften

Quelle:

https://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=261%252F2004&docid=296205&pageIndex=0&doclang=de&mode=req&dir=&occ=first&part=1&cid=7379315#ctx1

EuGH, Urteil v. 16. Januar 2025, C‑642/23

Wirksames Einverständnis mit Erstattung von Flugscheinkosten durch Reisegutscheine nur, falls Entscheidung ausdrücklich endgültig und eindeutig bestätig wird.

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Siebte Kammer)

16. Januar 2025(*)

„ Vorlage zur Vorabentscheidung – Luftverkehr – Verordnung (EG) Nr. 261/2004 – Art. 8 Abs. 1 Buchst. a – Anspruch auf Erstattung der Flugscheinkosten im Fall der Annullierung eines Fluges – Wahl zwischen einer Erstattung in Geld oder in Form von Reisegutscheinen – Art. 7 Abs. 3 – Begriff ‚schriftliches Einverständnis des Fluggasts‘ – Anlage eines Treuekontos auf der Website des Luftfahrtunternehmens durch den Fluggast “

In der Rechtssache C‑642/23

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landgericht Düsseldorf (Deutschland) mit Beschluss vom 16. Oktober 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 26. Oktober 2023, in dem Verfahren

Flightright GmbH

gegen

Etihad Airways P.J.S.C.

erlässt

DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Gavalec (Berichterstatter) sowie der Richter Z. Csehi und F. Schalin,

Generalanwältin: L. Medina,

Kanzler: A. Calot Escobar,



aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– der Flightright GmbH, vertreten durch Rechtsanwälte M. Michel und R. Weist,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch G. von Rintelen und N. Yerrell als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 7 Abs. 3 und Art. 8 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (ABl. 2004, L 46, S. 1).

2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Flightright GmbH als Zessionarin der Rechte eines Fluggasts (im Folgenden: Zedentin) und der Etihad Airways P.J.S.C. (im Folgenden: Etihad Airways), einem Luftfahrtunternehmen, über die Erstattung der Flugscheinkosten der Zedentin, deren Flug annulliert wurde.

Rechtlicher Rahmen

3 Die Erwägungsgründe 1, 2, 4 und 20 der Verordnung Nr. 261/2004 lauten:

„(1) Die Maßnahmen der [Europäischen] Gemeinschaft im Bereich des Luftverkehrs sollten unter anderem darauf abzielen, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen. Ferner sollte den Erfordernissen des Verbraucherschutzes im Allgemeinen in vollem Umfang Rechnung getragen werden.

(2) Nichtbeförderung und Annullierung oder eine große Verspätung von Flügen sind für die Fluggäste ein Ärgernis und verursachen ihnen große Unannehmlichkeiten.



(4) Die Gemeinschaft sollte deshalb die mit der [Verordnung (EWG) Nr. 295/91 des Rates vom 4. Februar 1991 über eine gemeinsame Regelung für ein System von Ausgleichsleistungen bei Nichtbeförderung im Linienflugverkehr (ABl. 1991, L 36, S. 5)] festgelegten Schutzstandards erhöhen, um die Fluggastrechte zu stärken und um sicherzustellen, dass die Geschäftstätigkeit von Luftfahrtunternehmen in einem liberalisierten Markt harmonisierten Bedingungen unterliegt.



(20) Die Fluggäste sollten umfassend über ihre Rechte im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen informiert werden, damit sie diese Rechte wirksam wahrnehmen können.“

4 In Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 heißt es:

„Bei Annullierung eines Fluges werden den betroffenen Fluggästen

a) vom ausführenden Luftfahrtunternehmen Unterstützungsleistungen gemäß Artikel 8 angeboten,

…“

5 Art. 7 („Ausgleichsanspruch“) Abs. 1 und 3 der Verordnung bestimmt:

„(1) Wird auf diesen Artikel Bezug genommen, so erhalten die Fluggäste Ausgleichszahlungen…



(3) Die Ausgleichszahlungen nach Absatz 1 erfolgen durch Barzahlung, durch elektronische oder gewöhnliche Überweisung, durch Scheck oder, mit schriftlichem Einverständnis des Fluggasts, in Form von Reisegutscheinen und/oder anderen Dienstleistungen.“

6 In Art. 8 („Anspruch auf Erstattung oder anderweitige Beförderung“) Abs. 1 der Verordnung heißt es:

„Wird auf diesen Artikel Bezug genommen, so können Fluggäste wählen zwischen

a) – der binnen sieben Tagen zu leistenden vollständigen Erstattung der Flugscheinkosten nach den in Artikel 7 Absatz 3 genannten Modalitäten zu dem Preis, zu dem der Flugschein erworben wurde, für nicht zurückgelegte Reiseabschnitte sowie für bereits zurückgelegte Reiseabschnitte, wenn der Flug im Hinblick auf den ursprünglichen Reiseplan des Fluggastes zwecklos geworden ist…

…“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

7 Die Zedentin verfügte über eine bestätigte Buchung für den von Etihad Airways auszuführenden Flug am 7. September 2020 von Düsseldorf (Deutschland) über Abu Dhabi (Vereinigte Arabische Emirate) nach Brisbane (Australien). Die Buchung beinhaltete ein so genanntes Open-Return-Ticket ohne feste Buchung eines Rückflugdatums. Der gezahlte Gesamtpreis für den Hin- und Rückflug betrug 1 189,00 Euro pro Fluggast. Diesen entrichtete die Zedentin an einen Reiseveranstalter.

8 Der Flug von Düsseldorf nach Abu Dhabi wurde jedoch annulliert. Nachdem der Reiseveranstalter im Juli 2020 insolvent geworden war, ohne die Ticketkosten erstattet zu haben, wandte sich der Vater der Zedentin in ihrem Namen an Etihad Airways. Diese bot ihm an, die Flüge formal umzubuchen, was der Vater der Zedentin annahm.

9 Bei einem erneuten Telefongespräch mit einem Mitarbeiter des Service Centers von Etihad Airways erhielt der Vater der Zedentin die Zusage, dass die Zedentin und der Fluggast, der sie hätte begleiten sollen, eine Gutschrift erhalten würden, und zwar erstens eine Gutschrift von Flugmeilen mit einer Gültigkeit von zwei Jahren für einen von Etihad Airways durchgeführten Flug in Höhe des Wertes der für den Kauf ihres Flugtickets geleisteten Zahlung, zweitens eine Gutschrift zusätzlicher Flugmeilen im Wert von 400 US-Dollar (etwa 380 Euro), und drittens eine Gutschrift weiterer 5 000 „Etihad-Guest“-Flugmeilen. Zu diesem Zweck sollte jeder Reisende ein Treuekonto auf der Website von Etihad Airways anlegen, was diese taten.

10 Zwar wurden dem Fluggast, der die Zedentin hätte begleiten sollen, die zugesagten Flugmeilen gutschrieben, der Zedentin jedoch nicht.

11 Mit Schreiben vom 16. März 2021 teilte Flightright im Namen des Vaters der Zedentin sowie des Fluggasts, der sie hätte begleiten sollen, Etihad Airways mit, dass diese von ihrem Wahlrecht nach Art. 8 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 261/2004 Gebrauch machen, und forderte die vollständige Erstattung der Flugscheinkosten für alle nicht zurückgelegten Reiseabschnitte binnen sieben Tagen.

12 Mit Schreiben vom 13. August 2021 erklärte die Zedentin „vorsorglich“, dass sie „eine Erstattung der Flugscheinkosten nach Art. 8 Abs. 1 [Buchst]. a 1. [Gedankenstrich] [der Verordnung Nr. 261/2004] wünsche“ und ihr „zustehende Erstattungsansprüche erneut an … Flightright …“ abtrete.



13 Das Amtsgericht Düsseldorf (Deutschland), bei dem Flightright im ersten Rechtszug eine Klage auf Erstattung des gesamten Ticketpreises erhoben hatte, wies diese Klage mit der Begründung ab, Flightright könne allenfalls den Ausgleich der auf den Hinflug entfallenden Kosten verlangen, den sie vorliegend jedoch auch nach dem von diesem Gericht erteilten Hinweis nicht beziffert habe.

14 Flightright legte gegen dieses Urteil beim Landgericht Düsseldorf, dem vorlegenden Gericht, Berufung ein und beantragte, Etihad Airways zur Zahlung von 1 189 Euro nebst Zinsen seit dem 24. März 2021 zu verurteilen.

15 Das vorlegende Gericht hat unter zwei Gesichtspunkten Bedenken. Zum einen fragt es sich, ob Art. 8 Abs. 1 Buchst. a in Verbindung mit Art. 7 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen ist, dass die Zedentin durch die Annahme einer Erstattung in Form von Flugmeilen und die Anlage eines Treuekontos auf der Website von Etihad Airways, auf das diese Flugmeilen gutgeschrieben werden sollten, ihr „schriftliches Einverständnis“ im Sinne dieses Art. 7 Abs. 3 zu dieser Form der Erstattung erteilt hat, auch wenn sie ihr Einverständnis in diesem Sinne nicht durch eigenhändige Unterschrift bestätigt hat.

16 Sollte dies bejaht werden, fragt sich das vorlegende Gericht zum anderen, ob die Zedentin die Wahlmöglichkeit, die sie zugunsten einer Erstattung in Form von Flugmeilen ausgeübt habe, widerrufen und erneut die Erstattung der Flugscheinkosten in Form eines Geldbetrags verlangen könne, wenn das ausführende Luftfahrtunternehmen trotz der entsprechend geschlossenen Vereinbarung die Flugmeilen ihrem Treuekonto nicht gutgeschrieben habe.

17 Unter diesen Umständen hat das Landgericht Düsseldorf beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Ist Art. 8 Abs. 1 Buchst. a in Verbindung mit Art. 7 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin gehend auszulegen, dass ein wirksames schriftliches Einverständnis des Fluggasts mit der Erstattung der Flugscheinkosten in Form von Reisegutscheinen und Gutschriften vorliegt, wenn der Fluggast über die Website der Fluggesellschaft selbst ein elektronisches Kundenkonto eingerichtet hat, auf welches die Reisegutscheine und Gutschriften übertragen werden sollen, ohne dass er sein Einverständnis mit dieser Art der Erstattung mit eigenhändiger Unterschrift bestätigt hat?

2. Wenn Vorlagefrage 1 bejaht wird: Kann der Fluggast sein einmal wirksam erteiltes Einverständnis zur Erstattung der Flugscheinkosten in Form von Reisegutscheinen und Gutschriften widerrufen und wieder Erfüllung durch Zahlung in Geldmitteln verlangen, wenn die Fluggesellschaft die zugesagten Reisegutscheine und Gutschriften im weiteren Verlauf nicht auf das Kundenkonto gutschreibt?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Vorlagefrage

18 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 8 Abs. 1 Buchst. a in Verbindung mit Art. 7 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen ist, dass im Fall der Annullierung eines Fluges durch das ausführende Luftfahrtunternehmen davon auszugehen ist, dass der Fluggast sein „schriftliches Einverständnis“ mit der Erstattung der Flugscheinkosten in Form von Reisegutscheinen erteilt hat, wenn er auf der Website des Luftfahrtunternehmens ein Treuekonto angelegt hat, auf das diese Gutscheine übertragen werden sollten, ohne sein Einverständnis zu dieser Form der Erstattung durch eine eigenhändige Unterschrift bestätigt zu haben.

19 Nach Art. 8 Abs. 1 Buchst. a in Verbindung mit Art. 5 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 261/2004 hat der Fluggast bei Annullierung seines Fluges Anspruch auf eine binnen sieben Tagen zu leistende vollständige Erstattung der Flugscheinkosten nach den in Art. 7 Abs. 3 der Verordnung genannten Modalitäten zu dem Preis, zu dem der Flugschein erworben wurde.

20 Nach der letztgenannten Bestimmung erfolgt die Erstattung durch Barzahlung, durch elektronische oder gewöhnliche Überweisung, durch Scheck oder, mit schriftlichem Einverständnis des Fluggasts, in Form von Reisegutscheinen und/oder anderen Dienstleistungen.

21 Aus Art. 7 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 8 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 261/2004 ergibt sich, dass der Unionsgesetzgeber mit diesen Bestimmungen einen Rahmen für die Modalitäten der Erstattung der Flugscheinkosten bei Annullierung eines Fluges geschaffen hat. Insoweit zeigt die Struktur von Art. 7 Abs. 3 der Verordnung, dass die Erstattung der Flugscheinkosten hauptsächlich in Form eines Geldbetrags erfolgt. Demgegenüber stellt die Erstattung in Form von Reisegutscheinen eine subsidiäre Erstattungsmodalität dar, die nur mit „schriftlichem Einverständnis des Fluggasts“ zulässig ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. März 2024, Cobult, C‑76/23, EU:C:2024:253, Rn. 20).

22 Zwar wird in der Verordnung Nr. 261/2004 der Begriff „schriftliche[s] Einverständnis des Fluggasts“, der in ihrem Art. 7 Abs. 3 verwendet wird, nicht definiert. Der Gerichtshof hat jedoch entschieden, dass dieser Begriff im Licht des mit der Verordnung verfolgten Ziels, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen, und der dem ausführenden Luftfahrtunternehmen obliegenden Informationspflicht, wie sie im Wesentlichen aus den Erwägungsgründen 1, 2, 4 und 20 der Verordnung hervorgehen, zum einen voraussetzt, dass der betreffende Fluggast in der Lage war, eine zweckdienliche und informierte Wahl zu treffen und somit freiwillig und in aufgeklärter Weise der Erstattung seiner Flugscheinkosten in Form eines Reisegutscheins anstelle eines Geldbetrags zuzustimmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. März 2024, Cobult, C‑76/23, EU:C:2024:253, Rn. 21 und 26 bis 29).

23 Zum anderen hat der Gerichtshof in Bezug auf die Form des Einverständnisses des Fluggasts festgestellt, dass, sofern der Fluggast klare und umfassende Informationen erhalten hat, sein „schriftliche[s] Einverständnis“ im Sinne von Art. 7 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 insbesondere seine ausdrücklich erklärte, endgültige und eindeutige Annahme einer Erstattung der Flugscheinkosten in Form eines Reisegutscheins umfassen kann, die dadurch erfolgt, dass er ein auf der Website des ausführenden Luftfahrtunternehmens ausgefülltes Formular versendet, ohne dass dieses seine handschriftliche oder digitalisierte Unterschrift enthält (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. März 2024, Cobult, C‑76/23, EU:C:2024:253, Rn. 34).

24 Somit hat der Gerichtshof entschieden, dass im Fall der Annullierung eines Fluges durch das ausführende Luftfahrtunternehmen davon auszugehen ist, dass der Fluggast sein „schriftliches Einverständnis“ mit einer Erstattung der Flugscheinkosten in Form eines Reisegutscheins erteilt hat, wenn er auf der Website des Luftfahrtunternehmens ein Online-Formular ausgefüllt und darin diese Erstattungsmodalität unter Ausschluss der Auszahlung eines Geldbetrags gewählt hat, sofern er in der Lage war, eine zweckdienliche und informierte Wahl zu treffen und somit der Erstattung seiner Flugscheinkosten in Form eines Reisegutscheins anstelle eines Geldbetrags in aufgeklärter Weise zuzustimmen; dies setzt voraus, dass das Luftfahrtunternehmen dem Fluggast in lauterer Weise klare und umfassende Informationen über die verschiedenen ihm zur Verfügung stehenden Erstattungsmodalitäten gegeben hat (Urteil vom 21. März 2024, Cobult, C‑76/23, EU:C:2024:253, Rn. 37).

25 Daher ist der Begriff „schriftliche[s] Einverständnis des Fluggasts“ im Sinne von Art. 7 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 nicht eng dahin auszulegen, dass er eine formelle Voraussetzung wie die eigenhändige Unterschrift des Fluggasts dafür aufstellt, dass ein Fluggast seine ausdrückliche, endgültige und eindeutige Annahme einer Erstattung seiner Flugscheinkosten in Form eines Reisegutscheins wirksam zum Ausdruck bringen kann.

26 Vorliegend möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Anlage eines Treuekontos auf der Website von Etihad Airways durch den Fluggast, um auf dieses Konto eine Gutschrift von Flugmeilen zu erhalten, zu der sich Etihad Airways dem Fluggast gegenüber verpflichtet hat, für eine solche vom Fluggast ausdrücklich, endgültig und eindeutig erklärte Annahme einer Erstattung seiner Flugscheinkosten in dieser Form ausreicht.



27 Der bloße Umstand, dass auf der Website des Luftfahrtunternehmens ein solches Treuekonto angelegt wurde, reicht für sich genommen nicht aus, um davon auszugehen, dass ein Fluggast eine ausdrückliche, endgültige und eindeutige Annahme erklärt hat, da diese Anlage möglicherweise nur ein Hinweis auf den Willen eines Verbrauchers ist, sich allgemein am Treueprogramm eines Luftfahrtunternehmens zu beteiligen, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.

28 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 8 Abs. 1 Buchst. a in Verbindung mit Art. 7 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen ist, dass im Fall der Annullierung eines Fluges durch das ausführende Luftfahrtunternehmen nicht davon auszugehen ist, dass der Fluggast sein „schriftliches Einverständnis“ mit der Erstattung der Flugscheinkosten in Form von Reisegutscheinen erteilt hat, wenn er auf der Website des Luftfahrtunternehmens ein Treuekonto angelegt hat, auf das diese Gutscheine übertragen werden sollten, ohne sein Einverständnis zu dieser Form der Erstattung durch eine ausdrückliche, endgültige und eindeutige Annahme bestätigt zu haben.

Zur zweiten Frage

29 Angesichts der Antwort auf die erste Frage braucht die zweite Frage nicht beantwortet zu werden.

Kosten

30 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Siebte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 8 Abs. 1 Buchst. a in Verbindung mit Art. 7 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91

ist dahin auszulegen, dass

im Fall der Annullierung eines Fluges durch das ausführende Luftfahrtunternehmen nicht davon auszugehen ist, dass der Fluggast sein „schriftliches Einverständnis“ mit der Erstattung der Flugscheinkosten in Form von Reisegutscheinen erteilt hat, wenn er auf der Website des Luftfahrtunternehmens ein Treuekonto angelegt hat, auf das diese Gutscheine übertragen werden sollten, ohne sein Einverständnis zu dieser Form der Erstattung durch eine ausdrückliche, endgültige und eindeutige Annahme bestätigt zu haben.

Gavalec

Csehi

Schalin

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 16. Januar 2025.

Der Kanzler


Der Kammerpräsident

A. Calot Escobar


M. Gavalec

Quelle:

https://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=261%252F2004&docid=294259&pageIndex=0&doclang=de&mode=req&dir=&occ=first&part=1&cid=7615061#ctx1

EuGH, Urteil v. 16. Januar 2025, C‑516/23

Verordnung anwendbar, auch wenn Fluggast lediglich Luftverkehrssteuern & Gebühren zu zahlen hat. Ebenso, falls begrenztes, an bestimmte Berufsgruppe gerichtetes Ticketkontingent. Ersatzbeförderung kann – vorbehaltlich verfügbarer Plätze – zu beliebig späterem Zeitpunkt beansprucht werden.

Leitsätze der Kanzlei Woicke

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Achte Kammer)

16. Januar 2025(*)

„ Vorlage zur Vorabentscheidung – Luftverkehr – Verordnung (EG) Nr. 261/2004 – Art. 3 Abs. 3 – Kostenlose Reise oder Reise zu einem reduzierten Tarif, der für die Öffentlichkeit nicht unmittelbar oder mittelbar verfügbar ist – Fluggast, der nur Gebühren und Luftverkehrsteuern gezahlt hat – Buchung im Rahmen einer Werbeaktion – Art. 8 Abs. 1 Buchst. c – Anspruch auf anderweitige Beförderung zu einem späteren Zeitpunkt – Nichterforderlichkeit eines zeitlichen Zusammenhangs zwischen dem annullierten Flug und dem vom Fluggast gewünschten anderweitigen Flug “

In der Rechtssache C‑516/23

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landgericht Frankfurt am Main (Deutschland) mit Beschluss vom 8. August 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 10. August 2023, in dem Verfahren

NW,

YS

gegen

Qatar Airways

erlässt

DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten der Neunten Kammer N. Jääskinen in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Achten Kammer sowie der Richter M. Gavalec (Berichterstatter) und J. Passer,

Generalanwalt: P. Pikamäe,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– von YS und NW, vertreten durch Rechtsanwalt M. Böse,

– der Qatar Airways, vertreten durch Rechtsanwältin B. Liebert und Rechtsanwalt U. Steppler,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch G. von Rintelen und N. Yerrell als Bevollmächtigte,

aufgrund der nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Entscheidung, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 Abs. 3 und Art. 8 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (ABl. 2004, L 46, S. 1).

2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen NW und YS, zwei Fluggästen, auf der einen und Qatar Airways auf der anderen Seite über eine Schadensersatzforderung wegen Verstoßes von Qatar Airways gegen ihre Verpflichtung zur anderweitigen Beförderung dieser Fluggäste zum Endziel.

Rechtlicher Rahmen

Verordnung Nr. 261/2004

3 In den Erwägungsgründen 1, 2, 4, 12 und 13 der Verordnung Nr. 261/2004 wird ausgeführt:

„(1) Die Maßnahmen der [Europäischen] Gemeinschaft im Bereich des Luftverkehrs sollten unter anderem darauf abzielen, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen. Ferner sollte den Erfordernissen des Verbraucherschutzes im Allgemeinen in vollem Umfang Rechnung getragen werden.

(2) Nichtbeförderung und Annullierung oder eine große Verspätung von Flügen sind für die Fluggäste ein Ärgernis und verursachen ihnen große Unannehmlichkeiten.



(4) Die Gemeinschaft sollte deshalb die mit der [Verordnung (EWG) Nr. 295/91 des Rates vom 4. Februar 1991 über eine gemeinsame Regelung für ein System von Ausgleichsleistungen bei Nichtbeförderung im Linienflugverkehr (ABL. 1991, L 36, S. 5)] festgelegten Schutzstandards erhöhen, um die Fluggastrechte zu stärken und um sicherzustellen, dass die Geschäftstätigkeit von Luftfahrtunternehmen in einem liberalisierten Markt harmonisierten Bedingungen unterliegt.



(12) Das Ärgernis und die Unannehmlichkeiten, die den Fluggästen durch die Annullierung von Flügen entstehen, sollten ebenfalls verringert werden. Dies sollte dadurch erreicht werden, dass die Luftfahrtunternehmen veranlasst werden, die Fluggäste vor der planmäßigen Abflugzeit über Annullierungen zu unterrichten und ihnen darüber hinaus eine zumutbare anderweitige Beförderung anzubieten, so dass die Fluggäste umdisponieren können. Andernfalls sollten die Luftfahrtunternehmen den Fluggästen einen Ausgleich leisten und auch eine angemessene Betreuung anbieten, es sei denn, die Annullierung geht auf außergewöhnliche Umstände zurück, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären.

(13) [Fluggäste], deren Flüge annulliert werden, sollten entweder eine Erstattung des Flugpreises oder eine anderweitige Beförderung unter zufrieden stellenden Bedingungen erhalten können, und sie sollten angemessen betreut werden, während sie auf einen späteren Flug warten.“

4 Art. 3 („Anwendungsbereich“) Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 lautet:

„Diese Verordnung gilt nicht für Fluggäste, die kostenlos oder zu einem reduzierten Tarif reisen, der für die Öffentlichkeit nicht unmittelbar oder mittelbar verfügbar ist. Sie gilt jedoch für Fluggäste mit Flugscheinen, die im Rahmen eines Kundenbindungsprogramms oder anderer Werbeprogramme von einem Luftfahrtunternehmen oder Reiseunternehmen ausgegeben wurden.“

5 Art. 5 („Annullierung“) Abs. 1 Buchst. a und Abs. 3 dieser Verordnung sieht vor:

„(1) Bei Annullierung eines Fluges werden den betroffenen Fluggästen

a) vom ausführenden Luftfahrtunternehmen Unterstützungsleistungen gemäß Artikel 8 angeboten,



(3) Ein ausführendes Luftfahrtunternehmen ist nicht verpflichtet, Ausgleichszahlungen gemäß Artikel 7 zu leisten, wenn es nachweisen kann, dass die Annullierung auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären.“

6 Art. 7 („Ausgleichsanspruch“) der Verordnung sieht einen standardisierten Ausgleich für Fluggäste vor, dessen Höhe insbesondere von der Flugstrecke abhängt.

7 In Art. 8 („Anspruch auf Erstattung oder anderweitige Beförderung“) der Verordnung Nr. 261/2004 heißt es:

„(1) Wird auf diesen Artikel Bezug genommen, so können Fluggäste wählen zwischen

a) – der binnen sieben Tagen zu leistenden vollständigen Erstattung der Flugscheinkosten nach den in Artikel 7 Absatz 3 genannten Modalitäten zu dem Preis, zu dem der Flugschein erworben wurde, für nicht zurückgelegte Reiseabschnitte sowie für bereits zurückgelegte Reiseabschnitte, wenn der Flug im Hinblick auf den ursprünglichen Reiseplan des Fluggastes zwecklos geworden ist, gegebenenfalls in Verbindung mit

– einem Rückflug zum ersten Abflugort zum frühestmöglichen Zeitpunkt,

b) anderweitiger Beförderung zum Endziel unter vergleichbaren Reisebedingungen zum frühestmöglichen Zeitpunkt oder

c) anderweitiger Beförderung zum Endziel unter vergleichbaren Reisebedingungen zu einem späteren Zeitpunkt nach Wunsch des Fluggastes, vorbehaltlich verfügbarer Plätze.

…“

Verordnung (EG) Nr. 1008/2008

8 Art. 23 („Information und Nichtdiskriminierung“) Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1008/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. September 2008 über gemeinsame Vorschriften für die Durchführung von Luftverkehrsdiensten in der Gemeinschaft (ABl. 2008, L 293, S. 3) bestimmt:

„Die der Öffentlichkeit zugänglichen Flugpreise und Luftfrachtraten, die in jedweder Form – auch im Internet – für Flugdienste von einem Flughafen im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats, auf das der Vertrag Anwendung findet, angeboten oder veröffentlicht werden, schließen die anwendbaren Tarifbedingungen ein. Der zu zahlende Endpreis ist stets auszuweisen und muss den anwendbaren Flugpreis beziehungsweise die anwendbare Luftfrachtrate sowie alle anwendbaren Steuern und Gebühren, Zuschläge und Entgelte, die unvermeidbar und zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vorhersehbar sind, einschließen. Neben dem Endpreis ist mindestens Folgendes auszuweisen:

a) der Flugpreis bzw. die Luftfrachtrate,

b) die Steuern,

c) die Flughafengebühren und

d) die sonstigen Gebühren, Zuschläge und Entgelte, wie etwa diejenigen, die mit der Sicherheit oder dem Kraftstoff in Zusammenhang stehen,

soweit die unter den Buchstaben b, c und d genannten Posten dem Flugpreis bzw. der Luftfrachtrate hinzugerechnet wurden. Fakultative Zusatzkosten werden auf klare, transparente und eindeutige Art und Weise am Beginn jedes Buchungsvorgangs mitgeteilt; die Annahme der fakultativen Zusatzkosten durch den Kunden erfolgt auf ‚Opt-in‘-Basis.“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

9 Am 5. August 2020 buchten die Kläger des Ausgangsverfahrens bei Qatar Airways Flüge von Frankfurt am Main (Deutschland) über Doha (Katar) nach Denpasar (Indonesien) und zurück.

10 Die Buchung erfolgte im Rahmen einer Aktion von Qatar Airways als ausführendes Luftfahrtunternehmen. Diese zeitlich begrenzte Aktion war ausschließlich Angehörigen der Gesundheitsberufe vorbehalten und ermöglichte diesen Flugbuchungen bei Qatar Airways unter Entrichtung allein der für die Buchungen anfallenden Steuern und Gebühren.

11 Am 13. September 2020 annullierte Qatar Airways die von der Buchung betroffenen Flüge.

12 Im Übrigen flog Qatar Airways Denpasar bis Frühjahr 2022 nicht mehr an.

13 Mit E‑Mail vom 8. August 2022 verlangten die Kläger des Ausgangsverfahrens von Qatar Airways ihre anderweitige Beförderung nach Denpasar am 20. Oktober 2022 mit Rückflug nach Frankfurt am Main am 7. November 2022. Für die dafür erforderlichen Schritte setzten sie Qatar Airways eine Frist bis zum 18. August 2022. Nach fruchtlosem Fristablauf buchten die Kläger des Ausgangsverfahrens die fraglichen Flüge unter Einsatz von im Rahmen eines Kundenbindungsprogramms erlangten Vorteilen zu einem Gesamtpreis von 394,62 Euro. Der Marktpreis der Flüge betrug am Buchungstag 4 276,36 Euro pro Fluggast.

14 Die Kläger des Ausgangsverfahrens erhoben beim Landgericht Frankfurt am Main (Deutschland), dem vorlegenden Gericht, Klage gegen Qatar Airways auf Schadensersatz wegen Verletzung ihrer Unterstützungspflicht gemäß Art. 8 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 261/2004.

15 Im Rahmen dieser Klage sieht sich das vorlegende Gericht als Erstes vor die Frage nach der Anwendbarkeit der Verordnung Nr. 261/2004 im vorliegenden Fall gestellt.

16 Es fragt sich insoweit zum einen, ob ein Fluggast kostenlos im Sinne von Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 reise, wenn er lediglich die Luftverkehrsteuern und die Flughafengebühren zu entrichten habe.

17 Zum anderen hält es fest, dass nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (Deutschland) ein reduzierter Tarif, den ein Luftfahrtunternehmen den Mitarbeitern eines Unternehmens, das mit ihm eine Rahmenvereinbarung geschlossen habe, gewähre, im Sinne von besagtem Art. 3 Abs. 3 „für die Öffentlichkeit verfügbar“ sei. Diese Rechtsprechung könnte auf die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Aktion Anwendung finden, bei der es sich weder um ein Kundenbindungs- noch um ein Werbeprogramm im Sinne dieser Bestimmung handle.

18 Für den Fall der Anwendbarkeit der Verordnung Nr. 261/2004 auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens wirft das vorlegende Gericht als Zweites die Frage auf, ob der in Art. 8 Abs. 1 Buchst. c dieser Verordnung vorgesehene Anspruch auf anderweitige Beförderung das Bestehen eines zeitlichen Zusammenhangs zwischen dem annullierten Flug und dem im Rahmen der anderweitigen Beförderung durchzuführenden Flug voraussetzt, auch wenn sich diese Voraussetzung nicht aus dem Wortlaut dieser Bestimmung ergebe.

19 Es weist insoweit darauf hin, dass nach der Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Köln (Deutschland) Art. 8 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 261/2004, der die Fluggäste während der betreffenden Reise schützen solle, seinem Sinn und Zweck nach dem Fluggast keinen Anspruch auf eine kostenfreie anderweitige Beförderung nach dessen Belieben außerhalb jedes zeitlichen Zusammenhangs mit dem ursprünglichen Reiseplan verleihe. Das Oberlandesgericht Köln halte einen zeitlichen Zusammenhang zwischen dem annullierten Flug und dem im Rahmen der anderweitigen Beförderung durchzuführenden Flug für erforderlich. Vor dem Bundesgerichtshof (Deutschland) hatte diese Rechtsprechung jedoch offenbar keinen Bestand. In diesem Zusammenhang möchte das vorlegende Gericht wissen, ob aus Art. 8 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 261/2004 das Erfordernis eines solchen zeitlichen Zusammenhangs folgt. Der Wortlaut der Bestimmung gebe dafür jedenfalls nichts her.

20 Vor diesem Hintergrund hat das Landgericht Frankfurt am Main beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Ist die Verordnung Nr. 261/2004 dahin gehend auszulegen, dass der Fluggast zu einem kostenlosen Tarif nach Art. 3 Abs. 3 Satz 1 Variante 1 der Verordnung reist, wenn er lediglich Gebühren und Luftverkehrsteuern für das Flugticket zahlen muss?

2. Für den Fall, dass die Frage zu 1 verneint wird:

Ist die Verordnung Nr. 261/2004 dahin gehend auszulegen, dass es sich nicht um einen für die Öffentlichkeit (mittelbar) verfügbaren Tarif im Sinne des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 Variante 2 der Verordnung handelt, wenn der Flug im Rahmen einer zeitlich und mengenmäßig begrenzten Aktion eines Luftfahrtunternehmens gebucht wurde, die nur einer bestimmten Berufsgruppe zur Verfügung stand?

3. Für den Fall, dass auch die Frage 2 verneint und der Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 261/2004 für eröffnet erachtet wird:

a) Ist Art. 8 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung dahin gehend auszulegen, dass zwischen dem ursprünglich gebuchten und annullierten Flug und der gewünschten Ersatzbeförderung zu einem späteren Zeitpunkt ein zeitlicher Zusammenhang bestehen muss?

b) Wie wäre dieser zeitliche Zusammenhang gegebenenfalls zu umgrenzen?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

21 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 3 Abs. 3 Satz 1 erste Variante der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen ist, dass ein Fluggast kostenlos im Sinne dieser Bestimmung reist, wenn er für seine Buchung ausschließlich Luftverkehrsteuern und Gebühren zu entrichten hatte.

22 Nach Art. 3 Abs. 3 Satz 1 erste Variante der Verordnung Nr. 261/2004 gilt diese nicht für Fluggäste, die kostenlos reisen.

23 Die Wendung „kostenlos reisen“ ist weder in Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 noch in irgendeiner anderen Bestimmung dieser Verordnung definiert. Daher sind Bedeutung und Tragweite dieser Wendung nach ständiger Rechtsprechung entsprechend ihrem üblichen Sinn nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch zu bestimmen, wobei zu berücksichtigen ist, in welchem Zusammenhang sie verwendet wird und welche Ziele mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (Urteil vom 30. April 2024, Trade Express-L und DEVNIA TSIMENT, C‑395/22 und C‑428/22, EU:C:2024:374, Rn. 65 und die dort angeführte Rechtsprechung). Außerdem ist, wie der Gerichtshof entschieden hat, in Anbetracht des Ziels der Verordnung Nr. 261/2004, das nach ihrem ersten Erwägungsgrund darin besteht, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen, eine Ausnahme von den Bestimmungen, die Fluggästen Rechte gewähren, eng auszulegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Oktober 2023, LATAM Airlines Group, C‑238/22, EU:C:2023:815, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).

24 Was zunächst den üblichen Sinn der Wendung „kostenlos reisen“ betrifft, so bezeichnet diese allgemein einen Sachverhalt, bei dem der Fluggast unentgeltlich reist, ohne die geringste Gegenleistung für seinen Flugschein zahlen zu müssen.

25 Insoweit widerspräche eine Auslegung dieser Wendung dahin, dass ein Fluggast kostenlos reist, obwohl er für den Abschluss seiner Buchung eine Zahlung – nicht für den Flugpreis, sondern für Luftverkehrsteuern oder Gebühren – leisten muss, dem üblichen Sinn dieser Wendung nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch.

26 Was sodann den Regelungszusammenhang von Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 anbelangt, so bezieht sich diese Bestimmung zwar allgemein auf die Kostenfreiheit der Reise, ohne näher auf die verschiedenen Bestandteile einzugehen, die den Preis der Reise ausmachen, doch sieht Art. 23 der Verordnung Nr. 1008/2008 vor, dass der zu zahlende Endpreis den anwendbaren Flugpreis sowie alle Steuern, Flughafengebühren und sonstigen Gebühren, Zuschläge und Entgelte, wie etwa diejenigen, die mit der Sicherheit oder dem Kraftstoff in Zusammenhang stehen, einschließt. Daraus folgt, dass die Steuern und Gebühren nicht vom Preis des Flugscheins ausgenommen, sondern integrierender Bestandteil davon sind.

27 Diese Auslegung wird durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs bestärkt, nach der Fluggäste, die mit Flugscheinen reisen, für die sie nur einen Teil des Preises zahlen, unter die Verordnung Nr. 261/2004 fallen, wenn entweder der bezahlte reduzierte Tarif für die Öffentlichkeit unmittelbar oder mittelbar verfügbar war oder diese Flugscheine im Rahmen eines Kundenbindungsprogramms oder anderer Werbeprogramme ausgegeben wurden (Beschluss vom 26. November 2020, SATA International – Azores Airlines, C‑316/20, EU:C:2020:966, Rn. 16).

28 Was schließlich die Zielsetzung der Verordnung Nr. 261/2004 angeht, so soll mit dieser ausweislich ihrer Erwägungsgründe 1, 2 und 4 ein hohes Schutzniveau für Fluggäste und Verbraucher sichergestellt werden, indem deren Rechte in bestimmten Situationen, die für sie ein Ärgernis sind und ihnen große Unannehmlichkeiten verursachen, gestärkt werden und ihnen standardisiert und sofort Ersatz geleistet wird (Urteil vom 22. April 2021, Austrian Airlines, C‑826/19, EU:C:2021:318, Rn. 26).

29 Eine Auslegung, wonach der Fluggast kostenlos reiste und deshalb nicht von der Anwendung der Verordnung Nr. 261/2004 profitierte, obwohl er Zahlungen für Luftverkehrsteuern und Gebühren zu leisten hat, würde aber das vorstehend in Rn. 28 angesprochene Ziel der Verordnung in Gefahr bringen, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen.

30 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 3 Abs. 3 Satz 1 erste Variante der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen ist, dass ein Fluggast nicht kostenlos im Sinne dieser Bestimmung reist, wenn er für seine Buchung ausschließlich Luftverkehrsteuern und Gebühren zu entrichten hatte.

Zur zweiten Frage

31 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 3 Abs. 3 Satz 1 zweite Variante der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen ist, dass ein Fluggast zu einem für die Öffentlichkeit nicht unmittelbar oder mittelbar verfügbaren reduzierten Tarif im Sinne dieser Bestimmung reist, wenn er seinen Flugschein im Rahmen einer Werbeaktion gebucht hat, die zeitlich sowie hinsichtlich der Menge der angebotenen Flugscheine begrenzt war und sich an eine bestimmte Berufsgruppe richtete.

32 Nach Art. 3 Abs. 3 Satz 1 zweite Variante der Verordnung Nr. 261/2004 gilt diese Verordnung nicht für Fluggäste, die zu einem reduzierten Tarif reisen, der für die Öffentlichkeit nicht unmittelbar oder mittelbar verfügbar ist.

33 Im vorliegenden Fall eröffnete Qatar Airways im Rahmen ihrer Werbeaktion nur Angehörigen der Gesundheitsberufe die Möglichkeit zur Buchung von Flügen bei ihr unter Entrichtung allein der für die Buchungen anfallenden Steuern und Gebühren. In diesem Zusammenhang sieht sich das vorlegende Gericht vor die Frage gestellt, ob es sich bei einem solchen reduzierten Tarif, der einer Gruppe von Angehörigen der Gesundheitsberufe vorbehalten ist, um einen für die Öffentlichkeit verfügbaren Tarif im Sinne von Art. 3 Abs. 3 Satz 1 zweite Variante der Verordnung Nr. 261/2004 handelt.

34 Insoweit ist zur Tragweite der Wendung „für die Öffentlichkeit verfügbar“ mit der Europäischen Kommission festzustellen, dass ein Tarif auch dann für die Öffentlichkeit verfügbar ist, wenn nicht jeder potenzielle Kunde in der Lage ist, ihn in Anspruch zu nehmen.

35 Der Begriff „Öffentlichkeit“ umfasst nämlich eine unbestimmte Zahl möglicher Adressaten und setzt im Übrigen recht viele Personen voraus (vgl. entsprechend Urteil vom 20. Juni 2024, GEMA, C‑135/23, EU:C:2024:526, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung). Um festzustellen, ob eine Gruppe von Personen, zugunsten deren ein reduzierter Tarif gilt, von der „Öffentlichkeit“ unterschieden werden kann, ist insbesondere zu prüfen, ob diese Gruppe hinreichend genau bestimmt ist, ob die betreffenden Personen die vom Luftfahrtunternehmen für die Inanspruchnahme dieses Tarifs vorgegebenen besonderen Merkmale erfüllen und ob das Luftfahrtunternehmen eine einzelfallbezogene Zustimmung vor Ausstellung des Beförderungsscheins vorsieht.

36 Insoweit kann die Gruppe der Angehörigen der Gesundheitsberufe, die abstrakt, ohne nähere Angabe zu den sie verbindenden besonderen Merkmalen beschrieben werden und zu deren Gunsten die Ausstellung von Beförderungsscheinen keiner einzelfallbezogenen Zustimmung im Vorfeld unterliegt, eine Öffentlichkeit im Sinne von Art. 3 Abs. 3 Satz 1 zweite Variante der Verordnung Nr. 261/2004 darstellen. Daraus folgt, dass ein reduzierter Tarif, der einer solchen Gruppe vorbehalten ist, im Sinne dieser Bestimmung „für die Öffentlichkeit verfügbar“ ist.

37 Diese Auslegung wird durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Auslegung von Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 bekräftigt, nach der Flugscheine zum Vorzugstarif, die im Rahmen eines Veranstaltungssponsoring nur einigen bestimmten Personen zur Verfügung stehen und erst nach einer vorherigen und einzelfallbezogenen Zustimmung des Luftfahrtunternehmens ausgestellt werden können, weder für die Öffentlichkeit verfügbar sind, noch im Rahmen eines Kundenbindungsprogramms oder anderer Werbeprogramme ausgegeben werden (Beschluss vom 26. November 2020, SATA International – Azores Airlines, C‑316/20, EU:C:2020:966, Rn. 17).

38 Im vorliegenden Fall nahmen die Kläger des Ausgangsverfahrens eine Flugbuchung bei einem Luftfahrtunternehmen im Rahmen einer Werbeaktion vor, die zeitlich eng begrenzt und allein Angehörigen der Gesundheitsberufe vorbehalten war. Die im Rahmen dieser Werbeaktion angebotenen Tarife waren zwar nicht für die gesamte Bevölkerung verfügbar. Allerdings waren sie nicht einigen individuell bestimmten Personen vorbehalten, sondern einer bestimmten Berufsgruppe, nämlich den Angehörigen der Gesundheitsberufe. Bei dieser Berufsgruppe, die sich aus einer unbestimmten Zahl von Personen zusammensetzt, besteht keine besondere Verbindung zu dem Luftfahrtunternehmen über den Rahmen einer Kundenbeziehung hinaus.

39 Was zudem die zahlenmäßige Beschränkung der im Rahmen der Werbeaktion zur Verfügung stehenden Flugscheine betrifft, geht aus der dem Gerichtshof vorliegenden Akte hervor, dass diese Beschränkung nicht auf die besonderen Merkmale der betreffenden Berufsgruppe zurückzugehen scheint, sondern offenbar in praktischen Einschränkungen seitens des Luftfahrtunternehmens begründet liegt, das solche Tarife wegen der Gruppengröße nicht für die gesamte Berufsgruppe anbieten konnte.

40 Schließlich könnte zudem eine Auslegung, nach der eine weit gefasste Personengruppe wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Angehörigen der Gesundheitsberufe nicht als „Öffentlichkeit“ im Sinne von Art. 3 Abs. 3 Satz 1 zweite Variante der Verordnung Nr. 261/2004 anzusehen wäre, dem im ersten Erwägungsgrund dieser Verordnung genannten Ziel zuwiderlaufen, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen.

41 Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 3 Abs. 3 Satz 1 zweite Variante der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen ist, dass ein Fluggast nicht zu einem für die Öffentlichkeit nicht unmittelbar oder mittelbar verfügbaren reduzierten Tarif im Sinne dieser Bestimmung reist, wenn er seinen Flugschein im Rahmen einer Werbeaktion gebucht hat, die zeitlich sowie hinsichtlich der Menge der angebotenen Flugscheine begrenzt war und sich an eine bestimmte Berufsgruppe richtete.

Zur dritten Frage

42 Mit seiner für den Fall der Verneinung der ersten beiden Fragen gestellten dritten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 8 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen ist, dass für seine Anwendung das Bestehen eines zeitlichen Zusammenhangs zwischen dem annullierten Flug und dem von einem Fluggast gewünschten anderweitigen Flug erforderlich ist, und wie bejahendenfalls dieser zeitliche Zusammenhang zu umgrenzen ist.

43 Nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 261/2004 hat das ausführende Luftfahrtunternehmen bei Annullierung eines Fluges den betroffenen Fluggästen Unterstützungsleistungen gemäß Art. 8 dieser Verordnung anzubieten.

44 Nach Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 können die betroffenen Fluggäste zwischen drei Optionen wählen, nämlich erstens der Erstattung der Flugscheinkosten unter bestimmten Bedingungen, gegebenenfalls in Verbindung mit der Organisation eines Rückflugs zum ersten Abflugort zum frühestmöglichen Zeitpunkt, zweitens einer anderweitigen Beförderung zum Endziel unter vergleichbaren Reisebedingungen zum frühestmöglichen Zeitpunkt oder drittens einer anderweitigen Beförderung zum Endziel unter vergleichbaren Reisebedingungen zu einem späteren Zeitpunkt nach Wunsch des Fluggasts, vorbehaltlich verfügbarer Plätze.

45 Wie der Gerichtshof entschieden hat, sieht dieser Artikel klar und deutlich die Verpflichtung des ausführenden Luftfahrtunternehmens vor, den Fluggästen, deren Flug annulliert wurde, eine Wahl zwischen den verschiedenen in seinem ersten Absatz aufgeführten Optionen zu bieten, was voraussetzt, dass das Luftfahrtunternehmen den betreffenden Fluggästen alle Informationen über die aus dieser Bestimmung resultierenden Rechte liefert, damit die Fluggäste ihre Rechte im Fall der Annullierung wirksam wahrnehmen können. Ebenso obliegt es dem Luftfahrtunternehmen, Fluggäste entsprechend zu informieren, wenn eine anderweitige Beförderung nicht möglich ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Juni 2023, Austrian Airlines [Repatriierungsflug], C‑49/22, EU:C:2023:454, Rn. 43 und 44 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

46 Daraus folgt, dass das Luftfahrtunternehmen im Fall der Annullierung des Fluges den Fluggästen die Informationen zur Verfügung zu stellen hat, die erforderlich sind, damit sie eine zweckdienliche Wahl treffen können, nämlich, sich entweder ihre Flugscheinkosten erstatten zu lassen oder ihre Reise zum Endziel unter vergleichbaren Reisebedingungen zum frühestmöglichen Zeitpunkt oder zu einem späteren Zeitpunkt fortzusetzen. Mit der Zuerkennung eines Informationsanspruchs kann nicht verbunden sein, dass es dem Fluggast in irgendeiner Weise obläge, aktiv an der Suche nach Informationen mitzuwirken, die im Vorschlag des ausführenden Luftfahrtunternehmens enthalten sein müssen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. Juli 2019, Rusu, C‑354/18, EU:C:2019:637, Rn. 54 bis 56).

47 Im vorliegenden Fall geht aus dem Vorlagebeschluss hervor, dass die von den Klägern des Ausgangsverfahrens ursprünglich gebuchten Flüge von Qatar Airways im September 2020 annulliert wurden. Qatar Airways teilte den Klägern des Ausgangsverfahrens insoweit lediglich mit, dass ihr Endziel Denpasar aufgrund von Umständen, die mit der Covid‑19-Pandemie zusammenhingen, nicht angeflogen werden könne, und verlängerte gleichzeitig die Gültigkeit der in Rede stehenden Flugscheine um zwei Jahre, d. h. bis zum 4. August 2022. Am 8. August 2022 verlangten die Kläger des Ausgangsverfahrens von Qatar Airways gemäß Art. 8 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 261/2004 eine anderweitige Beförderung zum Endziel zu einem späteren Zeitpunkt nach ihrem Wunsch.

48 Die Verpflichtung zur Erbringung von Unterstützungsleistungen gemäß Art. 8 der Verordnung Nr. 261/2004 trifft das ausführende Luftfahrtunternehmen unabhängig davon, welches Vorkommnis zur Annullierung des Fluges geführt hat. Selbst bei außergewöhnlichen Umständen entfällt nämlich nach Art. 5 Abs. 3 dieser Verordnung nur die Ausgleichspflicht des ausführenden Luftfahrtunternehmens gemäß Art. 7 der Verordnung (Urteil vom 8. Juni 2023, Austrian Airlines [Repatriierungsflug], C‑49/22, EU:C:2023:454, Rn. 45).

49 Die Verordnung Nr. 261/2004 enthält auch keinen Hinweis darauf, dass über die in ihrem Art. 5 Abs. 3 genannten „außergewöhnlichen Umstände“ hinaus eine gesonderte Kategorie von „besonders außergewöhnlichen“ Vorkommnissen wie der Covid‑19-Pandemie anerkannt würde, aufgrund deren die ausführenden Luftfahrtunternehmen von allen ihren Verpflichtungen, einschließlich derjenigen nach Art. 8 dieser Verordnung, freigestellt würden (Urteil vom 8. Juni 2023, Austrian Airlines [Repatriierungsflug], C‑49/22, EU:C:2023:454, Rn. 46).

50 Ein Fluggast, dessen Flug annulliert wurde, hat daher gegenüber dem ausführenden Luftfahrtunternehmen Anspruch auf Entschädigung durch Wertersatz, falls das Luftfahrtunternehmen seiner sich aus Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 ergebenden Unterstützungsverpflichtung, einschließlich seiner oben in den Rn. 45 und 46 erläuterten Informationspflicht, nicht nachkommt (Urteil vom 8. Juni 2023, Austrian Airlines [Repatriierungsflug], C‑49/22, EU:C:2023:454, Rn. 48).

51 Diese Entschädigung ist jedoch auf das beschränkt, was sich unter den Umständen jedes einzelnen Falles als notwendig, angemessen und zumutbar erweist, um das Versäumnis des ausführenden Luftfahrtunternehmens auszugleichen (Urteil vom 8. Juni 2023, Austrian Airlines [Repatriierungsflug], C‑49/22, EU:C:2023:454, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).

52 Was speziell die Frage betrifft, ob für die Anwendung von Art. 8 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 261/2004 das Bestehen eines zeitlichen Zusammenhangs zwischen dem annullierten Flug und dem gewünschten anderweitigen Flug erforderlich ist, so ist dies nach der oben in Rn. 23 angeführten Rechtsprechung zu klären, indem nicht nur der Wortlaut dieser Bestimmung, sondern auch ihr Regelungszusammenhang und die Ziele berücksichtigt werden, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden.

53 Als Erstes ist zum Wortlaut von Art. 8 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 261/2004 festzustellen, dass er kein Erfordernis in Bezug auf das Bestehen eines zeitlichen Zusammenhangs zwischen dem annullierten Flug und dem im Rahmen der anderweitigen Beförderung durchzuführenden Flug enthält. Aus dieser Bestimmung ergibt sich nur, dass die Fluggäste eine anderweitige Beförderung „zu einem späteren Zeitpunkt nach Wunsch des Fluggastes, vorbehaltlich verfügbarer Plätze“ verlangen können. Aus der Wendung „zu einem späteren Zeitpunkt“ geht jedoch nicht hervor, dass damit der Anspruch auf anderweitige Beförderung zeitlich begrenzt würde.

54 Somit ergibt sich aus dem Wortlaut von Art. 8 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 261/2004, dass der Wunsch und das Anliegen des Fluggasts, zu einem bestimmten späteren Zeitpunkt anderweitig befördert zu werden, maßgebend sind und eine Grenze insoweit nur in der Verfügbarkeit von Plätzen liegt. Demnach kann ein ausführendes Luftfahrtunternehmen einen für den Fluggast annehmbaren anderweitigen Flug nur dann verweigern, wenn keine Plätze verfügbar sind.

55 Als Zweites ist zum Regelungszusammenhang von Art. 8 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 261/2004 festzustellen, dass der Unionsgesetzgeber in Art. 8 Abs. 1 Buchst. b dieser Verordnung ausdrücklich ein zeitliches Element vorgesehen hat, das darin besteht, dass der Fluggast eine anderweitige Beförderung zum Endziel unter vergleichbaren Reisebedingungen zum frühestmöglichen Zeitpunkt verlangen kann. Hätte der Unionsgesetzgeber aber den Anspruch auf anderweitige Beförderung nach Art. 8 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung zeitlich begrenzen wollen, so hätte er dies so wie in ihrem Art. 8 Abs. 1 Buchst. b präzisiert. Auch die Erwägungsgründe 12 und 13 der Verordnung Nr. 261/2004 enthalten für den Fall der Annullierung eines Fluges keinerlei Bezugnahme auf einen zeitlichen Zusammenhang zwischen dem annullierten Flug und dem Flug im Rahmen der anderweitigen Beförderung.

56 Außerdem kann der Fluggast, wie sich aus Rn. 46 des vorliegenden Urteils ergibt, im Fall der Annullierung eines Fluges zwischen einer Erstattung oder einer nachträglichen anderweitigen Beförderung wählen. In Anbetracht dieser Optionen, deren Wahl dem Fluggast vorbehalten ist, würde eine Auslegung, nach der das in Art. 8 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 261/2004 vorgesehene zeitliche Element für die Zwecke des Anspruchs auf spätere anderweitige Beförderung nach Art. 8 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung maßgebend wäre, dieser Bestimmung ihre praktische Wirksamkeit nehmen.

57 Als Drittes wird die obige Auslegung von Art. 8 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 261/2004 durch die mit dieser verfolgten Ziele, wie sie in ihren Erwägungsgründen 1 und 4 genannt werden, bekräftigt, die insbesondere darin bestehen, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen und deren Rechte zu stärken sowie gleichzeitig den Erfordernissen des Verbraucherschutzes im Allgemeinen in vollem Umfang Rechnung zu tragen.

58 Eine Auslegung, die die dem Fluggast nach Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 eröffneten Optionen übermäßig einschränken würde, liefe nämlich dem mit der Verordnung verfolgten Hauptziel zuwider, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen.

59 Die vorstehend vorgenommene Auslegung wird auch nicht dadurch entkräftet, dass damit nach dem Vorbringen von Qatar Airways die betroffenen ausführenden Luftfahrtunternehmen über Gebühr belastet würden. Nach ständiger Rechtsprechung kann insoweit die Bedeutung, die dem mit der Verordnung Nr. 261/2004 verfolgten Ziel des Schutzes der Verbraucher und somit auch der Fluggäste zukommt, negative wirtschaftliche Folgen selbst beträchtlichen Ausmaßes für bestimmte Wirtschaftsteilnehmer rechtfertigen (Urteil vom 31. Januar 2013, McDonagh, C‑12/11, EU:C:2013:43, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).

60 Jedenfalls begrenzte aber im vorliegenden Fall Qatar Airways infolge der Covid‑19-Pandemie die Gültigkeit der ausgegebenen Flugscheine auf einen Zeitraum von zwei Jahren ab der ursprünglichen Buchung. Die Kläger des Ausgangsverfahrens besaßen Flugscheine, die bis zum 4. August 2022 gültig waren, und verlangten die anderweitige Beförderung nach diesem Zeitpunkt, d. h. am 8. August 2022.

61 Die Verordnung Nr. 261/2004 enthält keine Bestimmung über Ausschlussfristen für Klagen, die bei den nationalen Gerichten erhoben werden und auf anderweitige Beförderung gemäß Art. 8 Abs. 1 Buchst. c dieser Verordnung gerichtet sind (vgl. entsprechend Urteil vom 22. November 2012, Cuadrench Moré, C‑139/11, EU:C:2012:741, Rn. 24).

62 Nach ständiger Rechtsprechung ist es in Ermangelung einer entsprechenden unionsrechtlichen Regelung nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie eine Frage der innerstaatlichen Rechtsordnung eines jeden Mitgliedstaats, die Verfahrensmodalitäten für Klagen festzulegen, die den Schutz der den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, sofern diese Modalitäten den Äquivalenz- und den Effektivitätsgrundsatz wahren (Urteil vom 22. November 2012, Cuadrench Moré, C‑139/11, EU:C:2012:741, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).

63 Unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens, in denen die Fluggäste eine anderweitige Beförderung zum Endziel nach Ablauf der Gültigkeit ihrer Flugscheine, hier mehr als zwei Jahre nach der ursprünglichen Buchung, verlangen, ist es daher Sache des nationalen Gerichts, unter Beachtung dieser Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität die zeitlichen Grenzen bei Klagen zu bestimmen, mit denen die Fluggäste ihren Anspruch auf anderweitige Beförderung gemäß Art. 8 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 261/2004 geltend machen.

64 Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 8 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen ist, dass für seine Anwendung das Bestehen eines zeitlichen Zusammenhangs zwischen dem annullierten Flug und dem von einem Fluggast gewünschten anderweitigen Flug nicht erforderlich ist. Eine solche anderweitige Beförderung zum Endziel kann, vorbehaltlich verfügbarer Plätze, zu vergleichbaren Reisebedingungen zu einem späteren Zeitpunkt verlangt werden.

Kosten

65 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt:

1. Art. 3 Abs. 3 Satz 1 erste Variante der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91

ist dahin auszulegen, dass

ein Fluggast nicht kostenlos im Sinne dieser Bestimmung reist, wenn er für seine Buchung ausschließlich Luftverkehrsteuern und Gebühren zu entrichten hatte.

2. Art. 3 Abs. 3 Satz 1 zweite Variante der Verordnung Nr. 261/2004

ist dahin auszulegen, dass

ein Fluggast nicht zu einem für die Öffentlichkeit nicht unmittelbar oder mittelbar verfügbaren reduzierten Tarif im Sinne dieser Bestimmung reist, wenn er seinen Flugschein im Rahmen einer Werbeaktion gebucht hat, die zeitlich sowie hinsichtlich der Menge der angebotenen Flugscheine begrenzt war und sich an eine bestimmte Berufsgruppe richtete.

3. Art. 8 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 261/2004

ist dahin auszulegen, dass

für seine Anwendung das Bestehen eines zeitlichen Zusammenhangs zwischen dem annullierten Flug und dem von einem Fluggast gewünschten anderweitigen Flug nicht erforderlich ist. Eine solche anderweitige Beförderung zum Endziel kann, vorbehaltlich verfügbarer Plätze, zu vergleichbaren Reisebedingungen zu einem späteren Zeitpunkt verlangt
werden.

Unterschriften

EuGH, Urteil v. 17. Oktober 2024, C‑650/23 und C‑705/23

Nichtbeförderung liegt vor, falls Fluggast vom Veranstalter einer Pauschalreise unzutreffend mitgeteilt wird, Flug werde nicht durchgeführt.

Leitsatz der Kanzlei Woicke

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Achte Kammer)

17. Oktober 2024(*)

„ Vorlage zur Vorabentscheidung – Luftverkehr – Pauschalreise – Verordnung (EG) Nr. 261/2004 – Art. 3 Abs. 6 – Richtlinie (EU) 2015/2302 – Art. 14 Abs. 5 – Kumulative Anwendung – Grenzen – Verordnung Nr. 261/2004 – Art. 3 Abs. 2 – Art. 4 Abs. 3 – Ausgleichsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung – Fluggäste, die im Voraus über die Nichtbeförderung unterrichtet wurden – Falsche Information – Reiseunternehmen, das die Fluggäste auf einen anderen Flug umbucht – Flug, der gleichwohl vom ausführenden Luftfahrtunternehmen wie ursprünglich geplant durchgeführt wird – Dem ausführenden Luftfahrtunternehmen obliegende Pflicht zur Ausgleichsleistung – Art. 13 – Möglichkeit, vom Reiseunternehmen Schadensersatz zu verlangen “

In den verbundenen Rechtssachen C‑650/23 [Hembesler](i) und C‑705/23 [Condor Flugdienst],

betreffend zwei Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landesgericht Korneuburg (Österreich) (C‑650/23) und vom Landgericht Düsseldorf (Deutschland) (C‑705/23) mit Entscheidungen vom 22. August 2023 und vom 2. November 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 31. Oktober 2023 und am 17. November 2023, in den Verfahren

E EAD

gegen

DW (C‑650/23)



und

Flightright GmbH

gegen

Condor Flugdienst GmbH (C‑705/23)

erlässt

DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten der Neunten Kammer N. Jääskinen in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Achten Kammer, des Richters M. Gavalec (Berichterstatter) und der Richterin I. Ziemele,

Generalanwältin: L. Medina,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– der E EAD, vertreten durch Rechtsanwalt G. Dirnberger,

– von DW, vertreten durch Rechtsanwalt A. Skribe,

– der Flightright GmbH, vertreten durch Rechtsanwälte M. Michel und R. Weist,

– der österreichischen Regierung, vertreten durch A. Posch, J. Schmoll und G. Kunnert als Bevollmächtigte,

– der ungarischen Regierung, vertreten durch D. Csoknyai und M. Z. Fehér als Bevollmächtigte,

– der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch B.‑R. Killmann und N. Yerrell als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssachen zu entscheiden,



folgendes

Urteil

1 Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 2 Buchst. j, Art. 4 und Art. 7 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs‑ und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (ABl. 2004, L 46, S. 1).

2 Sie ergehen im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen E EAD (im Folgenden: E), einem Luftfahrtunternehmen, und einem Fluggast (Rechtssache C‑650/23) sowie zwischen der Flightright GmbH, einer Gesellschaft für Rechtshilfe, an die zwei Fluggäste ihre etwaigen Ansprüche auf Ausgleichsleistungen abgetreten haben, und der Condor Flugdienst GmbH (im Folgenden: Condor), einem Luftfahrtunternehmen (Rechtssache C‑705/23), betreffend die an diese Fluggäste zu zahlenden Ausgleichsleistungen im Sinne der Verordnung Nr. 261/2004.

Rechtlicher Rahmen

Verordnung Nr. 261/2004

3 Im ersten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 261/2004 heißt es:

„Die Maßnahmen der [Europäischen] Gemeinschaft im Bereich des Luftverkehrs sollten unter anderem darauf abzielen, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen. Ferner sollte den Erfordernissen des Verbraucherschutzes im Allgemeinen in vollem Umfang Rechnung getragen werden.“

4 Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Verordnung Nr. 261/2004 sieht vor:

„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck



b) ‚ausführendes Luftfahrtunternehmen‘ ein Luftfahrtunternehmen, das im Rahmen eines Vertrags mit einem Fluggast oder im Namen einer anderen – juristischen oder natürlichen – Person, die mit dem betreffenden Fluggast in einer Vertragsbeziehung steht, einen Flug durchführt oder durchzuführen beabsichtigt;





d) ‚Reiseunternehmen‘ einen Veranstalter im Sinne von Artikel 2 Nummer 2 der Richtlinie 90/314/EWG des Rates vom 13. Juni 1990 über Pauschalreisen [(ABl. 1990, L 158, S. 59)], mit Ausnahme von Luftfahrtunternehmen;



g) ‚Buchung‘ den Umstand, dass der Fluggast über einen Flugschein oder einen anderen Beleg verfügt, aus dem hervorgeht, dass die Buchung von dem Luftfahrtunternehmen oder dem Reiseunternehmen akzeptiert und registriert wurde;



j) ‚Nichtbeförderung‘ die Weigerung, Fluggäste zu befördern, obwohl sie sich unter den in Artikel 3 Absatz 2 genannten Bedingungen am Flugsteig eingefunden haben, sofern keine vertretbaren Gründe für die Nichtbeförderung gegeben sind, z. B. im Zusammenhang mit der Gesundheit oder der allgemeinen oder betrieblichen Sicherheit oder unzureichenden Reiseunterlagen;



l) ‚Annullierung‘ die Nichtdurchführung eines geplanten Fluges, für den zumindest ein Platz reserviert war.“

5 Art. 3 („Anwendungsbereich“) der Verordnung Nr. 261/2004 bestimmt:

„(1) Diese Verordnung gilt

a) für Fluggäste, die auf Flughäfen im Gebiet eines Mitgliedstaats, das den Bestimmungen des Vertrags unterliegt, einen Flug antreten;



(2) Absatz 1 gilt unter der Bedingung, dass die Fluggäste

a) über eine bestätigte Buchung für den betreffenden Flug verfügen und – außer im Fall einer Annullierung gemäß Artikel 5 – sich

– wie vorgegeben und zu der zuvor schriftlich (einschließlich auf elektronischem Wege) von dem Luftfahrtunternehmen, dem Reiseunternehmen oder einem zugelassenen Reisevermittler angegebenen Zeit zur Abfertigung einfinden

oder, falls keine Zeit angegeben wurde,

– spätestens 45 Minuten vor der veröffentlichten Abflugzeit zur Abfertigung einfinden oder

b) von einem Luftfahrtunternehmen oder Reiseunternehmen von einem Flug, für den sie eine Buchung besaßen, auf einen anderen Flug verlegt wurden, ungeachtet des Grundes hierfür.



(6) Diese Verordnung lässt die aufgrund der Richtlinie [90/314] bestehenden Fluggastrechte unberührt. Diese Verordnung gilt nicht für Fälle, in denen eine Pauschalreise aus anderen Gründen als der Annullierung des Fluges annulliert wird.“

6 Art. 4 („Nichtbeförderung“) Abs. 3 der Verordnung lautet:

„Wird Fluggästen gegen ihren Willen die Beförderung verweigert, so erbringt das ausführende Luftfahrtunternehmen diesen unverzüglich die Ausgleichsleistungen gemäß Artikel 7 und die Unterstützungsleistungen gemäß den Artikeln 8 und 9.“

7 Art. 5 („Annullierung“) Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 261/2004 sieht vor:

„Bei Annullierung eines Fluges [wird] den betroffenen Fluggästen



c) vom ausführenden Luftfahrtunternehmen ein Anspruch auf Ausgleichsleistungen gemäß Artikel 7 eingeräumt, es sei denn,

i) sie werden über die Annullierung mindestens zwei Wochen vor der planmäßigen Abflugzeit unterrichtet, oder

ii) sie werden über die Annullierung in einem Zeitraum zwischen zwei Wochen und sieben Tagen vor der planmäßigen Abflugzeit unterrichtet und erhalten ein Angebot zur anderweitigen Beförderung, das es ihnen ermöglicht, nicht mehr als zwei Stunden vor der planmäßigen Abflugzeit abzufliegen und ihr Endziel höchstens vier Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit zu erreichen, oder

iii) sie werden über die Annullierung weniger als sieben Tage vor der planmäßigen Abflugzeit unterrichtet und erhalten ein Angebot zur anderweitigen Beförderung, das es ihnen ermöglicht, nicht mehr als eine Stunde vor der planmäßigen Abflugzeit abzufliegen und ihr Endziel höchstens zwei Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit zu erreichen.“



8 Art. 7 („Ausgleichsanspruch“) Abs. 1 dieser Verordnung bestimmt:

„Wird auf diesen Artikel Bezug genommen, so erhalten die Fluggäste Ausgleichszahlungen in folgender Höhe:

a) 250 [Euro] bei allen Flügen über eine Entfernung von 1 500 km oder weniger,

b) 400 [Euro] bei allen innergemeinschaftlichen Flügen über eine Entfernung von mehr als 1 500 km und bei allen anderen Flügen über eine Entfernung zwischen 1 500 km und 3 500 km,

…“

9 Art. 13 („Regressansprüche“) dieser Verordnung sieht vor:

„In Fällen, in denen ein ausführendes Luftfahrtunternehmen eine Ausgleichszahlung leistet oder die sonstigen sich aus dieser Verordnung ergebenden Verpflichtungen erfüllt, kann keine Bestimmung dieser Verordnung in dem Sinne ausgelegt werden, dass sie das Recht des Luftfahrtunternehmens beschränkt, nach geltendem Recht bei anderen Personen, auch Dritten, Regress zu nehmen. Insbesondere beschränkt diese Verordnung in keiner Weise das Recht des ausführenden Luftfahrtunternehmens, Erstattung von einem Reiseunternehmen oder einer anderen Person zu verlangen, mit der es in einer Vertragsbeziehung steht. Gleichfalls kann keine Bestimmung dieser Verordnung in dem Sinne ausgelegt werden, dass sie das Recht eines Reiseunternehmens oder eines nicht zu den Fluggästen zählenden Dritten, mit dem das ausführende Luftfahrtunternehmen in einer Vertragsbeziehung steht, beschränkt, vom ausführenden Luftfahrtunternehmen gemäß den anwendbaren einschlägigen Rechtsvorschriften eine Erstattung oder Entschädigung zu verlangen.“

Richtlinie 2015/2302

10 Die Richtlinie (EU) 2015/2302 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2015 über Pauschalreisen und verbundene Reiseleistungen, zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 und der Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Richtlinie 90/314/EWG des Rates (ABl. 2015, L 326, S. 1) definiert in ihrem Art. 3 Nr. 8 den „Reiseveranstalter“ als „einen Unternehmer, der entweder direkt oder über einen anderen Unternehmer oder gemeinsam mit einem anderen Unternehmer Pauschalreisen zusammenstellt und verkauft oder zum Verkauf anbietet, oder den Unternehmer, der die Daten des Reisenden im Einklang mit Nummer 2 Buchstabe b Ziffer v an einen anderen Unternehmer übermittelt“.



11 Art. 14 Abs. 5 dieser Richtlinie bestimmt:

„Das Recht auf Schadenersatz oder Preisminderung nach Maßgabe dieser Richtlinie lässt die Rechte von Reisenden nach der Verordnung [Nr. 261/2004] … und nach Maßgabe internationaler Übereinkünfte unberührt. Die Reisenden sind berechtigt, Forderungen nach dieser Richtlinie und den genannten Verordnungen und nach internationalen Übereinkünften geltend zu machen. Die nach dieser Richtlinie gewährte Schadenersatzzahlung oder Preisminderung wird von der nach Maßgabe der genannten Verordnungen und nach internationalen Übereinkünften gewährten Schadenersatzzahlung oder Preisminderung abgezogen und umgekehrt, um eine Überkompensation zu verhindern.“

12 Gemäß Art. 29 dieser Richtlinie gelten Bezugnahmen auf die Richtlinie 90/314, die durch die Richtlinie 2015/2302 aufgehoben wurde, als Bezugnahmen auf die letztgenannte Richtlinie.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

Rechtssache C‑650/23

13 Einem Fluggast, DW, wurde die Buchung seines (Rück‑)Fluges von Heraklion (Griechenland) nach Linz (Österreich) von dem Reiseunternehmen, bei dem er eine Pauschalreise gebucht hatte, bestätigt. Dieser von E durchzuführende Rückflug war für den 29. September 2019 vorgesehen und hätte um 18 Uhr in Heraklion starten und um 20 Uhr in Linz ankommen sollen (im Folgenden: ursprünglich geplanter Rückflug).

14 Am 28. September 2019 teilte der Reiseveranstalter diesem Fluggast mit, dass sich die Flugzeiten und der Zielflughafen seines Rückflugs geändert hätten. Gemäß dieser Mitteilung war Endziel dieses Fluges nun Wien-Schwechat (Österreich) und der Abflug sollte am 29. September 2019 um 23.30 Uhr erfolgen. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass diese Mitteilung durch irgendein Verhalten von E veranlasst wurde.

15 E, ein Mitglied der International Air Transport Association (IATA), ist ein Charterunternehmen und führt als solches selbst keine Flugbuchungen durch. Rund 24 Stunden vor Abflug erhielt E eine Passagierliste mit den Vor- und den Nachnamen aller zu befördernden Passagiere; weitere Kontaktdaten wurden ihr vom Reiseveranstalter nicht zur Verfügung gestellt. Auf dieser Liste war der Name von DW nicht enthalten.

16 Aufgrund der Mitteilung vom 28. September 2019 fand sich DW nicht zur Abfertigung des ursprünglich geplanten Rückflugs ein.



17 DW verlangte von E Schadensersatz in Höhe von 400 Euro zuzüglich Zinsen und stützte sich dabei auf Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 261/2004. Da der Reiseveranstalter im Namen des Luftfahrtunternehmens einen Flugschein ausstellen dürfe, gelte zwangsläufig dasselbe für alle späteren Änderungen seiner Buchung. Insoweit könne ihm nicht vorgeworfen werden, dass er sich nicht zur Abfertigung des ursprünglich geplanten Rückflugs eingefunden habe, da ihm seine Umbuchung auf einen anderen Flug mitgeteilt worden sei. Ihm sei daher gegen seinen Willen der Einstieg ab dem Zeitpunkt der Umbuchung verweigert worden, so dass er einen Anspruch auf Ausgleichsleistung habe.

18 E macht dagegen geltend, der ursprünglich geplante Rückflug sei weitgehend wie geplant durchgeführt worden und der Reiseveranstalter habe DW ohne Absprache mit ihr umgebucht. Diese Umbuchung könne keine dem Luftfahrtunternehmen zurechenbare Nichtbeförderung begründen. DW könne auch keinen Ausgleichsanspruch geltend machen, da er sich nicht rechtzeitig zur Abfertigung eingefunden habe. Da er über eine bestätigte Buchung für den ursprünglich geplanten Flug verfügt habe, wäre er bei rechtzeitigem Erscheinen am Flugsteig trotz der Umbuchung befördert worden.

19 Mit Urteil vom 27. März 2023 verurteilte das Bezirksgericht Schwechat (Österreich) E zur Zahlung von 400 Euro zuzüglich Zinsen an DW sowie zum Ersatz seiner Prozesskosten. Die Umbuchung sei E zuzurechnen, ohne dass es darauf ankomme, ob das Luftfahrtunternehmen oder der Reiseveranstalter die Umbuchung vorgenommen habe. Die Tatsache, dass DW, der vom Reiseveranstalter über die Umbuchung auf einen anderen Flug informiert worden sei, sich nicht rechtzeitig zur Abfertigung eingefunden habe, sei unschädlich für seinen auf Nichtbeförderung gestützten Anspruch auf Ausgleichsleistung. Insoweit sei es nicht relevant, ob E mit DW in einer direkten Vertragsbeziehung stehe oder ob sie selbständig Passagiere umbuchen oder Flugtickets ausstellen könne, weil sie nach Art. 13 der Verordnung Nr. 261/2004 u. a. beim Reiseveranstalter Regress nehmen könne. Schließlich wies das Bezirksgericht darauf hin, dass das Luftfahrtunternehmen nicht behauptet habe, dass „vertretbare Gründe für die Nichtbeförderung“ im Sinne von Art. 2 Buchst. j dieser Verordnung gegeben gewesen seien.

20 E legte gegen dieses Urteil Berufung beim Landesgericht Korneuburg (Österreich), dem vorlegenden Gericht, ein. Sie begründete diese Berufung im Wesentlichen damit, dass eine Nichtbeförderung schon tatbestandsmäßig nicht vorliege und ihr die Umbuchung durch den Reiseveranstalter nicht zurechenbar sei.

21 Nach Auffassung des Landesgerichts ergibt sich aus Art. 4 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004, dass das ausführende Luftfahrtunternehmen dem Fluggast eine Ausgleichszahlung gemäß Art. 7 dieser Verordnung zu leisten hat. Nach ständiger Rechtsprechung des vorlegenden Gerichts sei ein Fluggast bei einer antizipierten Nichtbeförderung, also wenn ihm bereits zuvor – wahrheitsgemäß oder auch nicht – mitgeteilt worden sei, dass er auf dem gebuchten Flug nicht befördert werde oder dieser gar nicht stattfinde, von der Verpflichtung befreit, sich rechtzeitig am Flugsteig einzufinden, sofern er über eine bestätigte Buchung verfüge und keine vertretbaren Gründe für die Nichtbeförderung vorlägen. Von einem Fluggast könne nicht verlangt werden, dass er zu einem Flug erscheine, auf dem er nicht befördert werde.

22 Aus dem Urteil vom 21. Dezember 2021, Azurair u. a. (C‑146/20, C‑188/20, C‑196/20 und C‑270/20, EU:C:2021:1038, Rn. 47 ff.), ergebe sich, dass ein Fluggast über eine „bestätigte Buchung“ im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 261/2004 verfüge, wenn er von dem Reiseunternehmen, mit dem er in einer Vertragsbeziehung stehe, einen „anderen Beleg“ im Sinne von Art. 2 Buchst. g dieser Verordnung erhalten habe, durch den ihm die Beförderung auf einem bestimmten, durch Abflug- und Ankunftsort, Abflug- und Ankunftszeit und Flugnummer individualisierten Flug versprochen werde; dies gelte auch dann, wenn das Reiseunternehmen vom betreffenden Luftfahrtunternehmen keine Bestätigung in Bezug auf die Abflug- und Ankunftszeit dieses Fluges erhalten habe. Das Risiko, dass Reiseunternehmen im Rahmen ihrer Tätigkeiten den Fluggästen ungenaue Auskünfte erteilen, sei nämlich vom Luftfahrtunternehmen zu tragen. Das vorlegende Gericht möchte jedoch wissen, ob dieser Ansatz, dem Luftfahrtunternehmen die Verantwortung für Handlungen des Reiseveranstalters aufzuerlegen, auch Anwendung findet, wenn – wie im vorliegenden Fall – der keinen Weisungen des Luftfahrtunternehmens unterliegende Reiseveranstalter eine von ihm selbst vorgenommene Buchung ändert.

23 Unter diesen Umständen hat das Landesgericht Korneuburg beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Sind Art. 7 Abs. 1, Art. 4 Abs. 3 und Art. 2 Buchst. j der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen, dass das ausführende Luftfahrtunternehmen dem Fluggast eine Ausgleichsleistung zu erbringen hat, wenn der Fluggast im Rahmen einer Pauschalreise über eine bestätigte Buchung eines Reiseunternehmens über Hin- und Rückflug verfügt; dieses Reiseunternehmen dem Fluggast am Vortag des geplanten (Rück‑)Fluges mitgeteilt hat, dass sich der Flugplan durch einen Wechsel der Flugnummer, der Flugzeit und des Endziels geändert habe; der Fluggast sich daher für den ursprünglich gebuchten Flug nicht unter den in Art. 3 Abs. 2 dieser Verordnung genannten Bedingungen am Flugsteig eingefunden hat; der ursprünglich gebuchte Flug aber tatsächlich wie geplant durchgeführt wird; und das Luftfahrtunternehmen den Fluggast auch befördert hätte, wenn dieser sich unter den in Art. 3 Abs. 2 der Verordnung genannten Bedingungen am Flugsteig eingefunden hätte?



Rechtssache C‑705/23

24 Zwei Fluggäste hatten über einen Reiseveranstalter eine Pauschalreise für den Zeitraum vom 18. Juli 2020 bis 30. Juli 2020 gebucht. Teil dieser Reise waren die von Condor durchzuführenden Hin- und Rückflüge zwischen Düsseldorf (Deutschland) und Fuerteventura (Spanien).

25 Der Reiseveranstalter teilte diesen beiden Fluggästen mit, dass der Hinflug storniert worden sei und sie auf einen Flug am 20. Juli 2020 umgebucht würden. Aufgrund dieser Information erschienen die Fluggäste am 18. Juli 2020 nicht am Flughafen, sondern fanden sich dort erst am 20. Juli 2020 ein. Sie behaupten außerdem, dass der Reiseveranstalter sie hierüber erst acht Tage vor dem Datum des Hinflugs informiert habe.

26 Condor tritt dieser Sachverhaltsdarstellung entgegen und weist darauf hin, dass der ursprüngliche Flug vom 18. Juli 2020 ordnungsgemäß durchgeführt worden sei.

27 Die beiden Fluggäste traten ihre Ansprüche an Flightright, eine Gesellschaft für Rechtshilfe, ab; diese erhob Klage vor dem Amtsgericht Düsseldorf (Deutschland) auf Zahlung von Ausgleichsleistungen in Höhe von insgesamt 800 Euro gemäß Art. 4 Abs. 3 und Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 261/2004 in Verbindung mit § 398 BGB.

28 Flightright macht geltend, das Verhalten des Reiseveranstalters sei dem Luftfahrtunternehmen zuzurechnen und stelle eine antizipierte Nichtbeförderung dar.

29 Nach Auffassung von Condor liegt dagegen hier kein Fall der Nichtbeförderung vor, da sie den ursprünglichen Flug ordnungsgemäß durchgeführt habe. Eine Nichtbeförderung setze zudem ein Verhalten des Luftfahrtunternehmens voraus. Hier sei die Mitteilung über die Änderung des Termins für den Hinflug jedoch durch den Reiseveranstalter erfolgt.

30 Gegen das klageabweisende Urteil des Amtsgerichts Düsseldorf vom 3. November 2022 legte Flightright beim Landgericht Düsseldorf (Deutschland), dem vorlegenden Gericht, Berufung ein.

31 Nach Auffassung des Landgerichts stellt sich in der vorliegenden Rechtssache die neue Frage, ob es sich bei einer vom Reiseveranstalter ausgesprochenen antizipierten Nichtbeförderung um eine „Nichtbeförderung“ im Sinne von Art. 4 der Verordnung Nr. 261/2004 handelt, wobei keine Rechtfertigungsgründe für die Nichtbeförderung im Sinne von Art. 2 Buchst. j der Verordnung Nr. 261/2004 ersichtlich seien. Überdies sei gemäß dem Urteil vom 26. Oktober 2023, LATAM Airlines Group (C‑238/22, EU:C:2023:815, Rn. 40 ff.), eine analoge Anwendung von Art. 5 Abs. 1 Buchst. c Ziff. i bis iii dieser Verordnung, der die Annullierung von Flügen betrifft, im Rahmen von Ansprüchen wegen Nichtbeförderung ausgeschlossen; einer Klärung der Frage, ob die beiden betroffenen Fluggäste bereits früher als acht Tage vor dem Flugdatum über die Umbuchung informiert wurden, bedürfe es nicht.

32 Außerdem schließt das vorlegende Gericht aus dem Urteil vom 21. Dezember 2021, Azurair u. a. (C‑146/20, C‑188/20, C‑196/20 und C‑270/20, EU:C:2021:1038), dass die beiden Fluggäste unter den Umständen des Ausgangsrechtsstreits über eine „bestätigte Buchung“ im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 261/2004 verfügten.

33 Eine vom Reiseveranstalter mittels Umbuchungs- oder Stornierungsinformation mitgeteilte antizipierte Nichtbeförderung kann nach Auffassung des vorlegenden Gerichts eine „Nichtbeförderung“ im Sinne von Art. 4 der Verordnung Nr. 261/2004 darstellen. Hierfür könne sprechen, dass anders als in der spanischen und der französischen Sprachfassung dieser Bestimmung, in denen die ausführende Fluggesellschaft ausdrücklich als diejenige genannt werde, die sich weigere, Fluggäste an Bord zu nehmen, zahlreiche andere Sprachfassungen (etwa die dänische, die deutsche, die englische, die italienische, die niederländische, die portugiesische und die schwedische) offenließen, durch wen die Verweigerung erfolge.

34 Zudem komme für den Fluggast, der der Umbuchung nicht zugestimmt habe, eine solche Umbuchung einer Nichtbeförderung auf dem ursprünglich vorgesehenen Flug gleich. Daher könne es erforderlich sein, die Umbuchung in den Tatbestand der Nichtbeförderung einzubeziehen, um den Pauschalfluggast davor zu schützen, dass ihm der Schutz der Verordnung Nr. 261/2004 entzogen werde.

35 Schließlich ergebe sich aus dem Urteil vom 21. Dezember 2021, Azurair u. a. (C‑146/20, C‑188/20, C‑196/20 und C‑270/20, EU:C:2021:1038, Rn. 46 bis 51), dass eine „bestätigte Buchung“ im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 261/2004 vom Reiseveranstalter herausgegeben werden könne, und zwar selbst dann, wenn das Luftfahrtunternehmen die betreffenden Flugzeiten nicht gegenüber dem Reiseveranstalter bestätigt habe, es also an einer „Deckungsbuchung“ fehle. Diese Verordnung ziele nämlich darauf ab, das Risiko, dass Reiseunternehmen im Rahmen ihrer Tätigkeiten den Fluggästen ungenaue Auskünfte erteilen, dem Luftfahrtunternehmen aufzuerlegen. Unter diesem Blickwinkel habe der Fluggast nicht Teil an der zwischen dem Luftfahrtunternehmen und dem Reiseunternehmen bestehenden Beziehung, und es werde von ihm nicht verlangt, dass er sich insoweit Informationen beschaffe.

36 Für das vorlegende Gericht ist die Auslegung in diesem Urteil auf eine vom Reiseveranstalter wegen einer „Flugstornierung“ vorgenommenen Umbuchung des Fluggasts übertragbar.

37 Unter diesen Umständen hat das Landgericht Düsseldorf beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist Art. 4 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin gehend auszulegen, dass eine Nichtbeförderung des Fluggasts durch das Luftfahrtunternehmen in Form einer antizipierten Beförderungsverweigerung auch dann vorliegt, wenn ein Reiseveranstalter den Fluggast mittels Umbuchungsmitteilung darüber informiert, dass der Flug storniert worden sei, eine Annullierung des Fluges durch das Luftfahrtunternehmen jedoch gar nicht stattgefunden hat und der Flug auch tatsächlich ordnungsgemäß durchgeführt wird?

Zu den Vorlagefragen

38 Die vorlegenden Gerichte wollen mit ihren Fragen, die zusammen zu prüfen sind, im Wesentlichen jeweils wissen, ob Art. 4 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 2 Buchst. j der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen ist, dass ein Fluggast, der im Rahmen einer Pauschalreise eine bestätigte Buchung für einen Flug hatte, vom ausführenden Luftfahrtunternehmen die Ausgleichsleistung im Sinne von Art. 7 Abs. 1 der Verordnung verlangen kann, wenn der Reiseveranstalter dem Fluggast – ohne zuvor das Luftfahrtunternehmen hierüber zu informieren – mitgeteilt hat, dass der ursprünglich vorgesehene Flug nicht durchgeführt werde, obwohl dieser wie vorgesehen stattfand.

39 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass erstens die Fluggäste im Rahmen einer Pauschalreise berechtigt sind, sich auf die Verordnung Nr. 261/2004 zu berufen. Denn ihr rechtlicher Schutz kann nicht ausschließlich durch die Richtlinie 2015/2302 gewährleistet werden (vgl. Urteil vom 26. März 2020, Primera Air Scandinavia, C‑215/18, EU:C:2020:235, Rn. 35). Vor diesem Hintergrund bestimmt Art. 3 Abs. 6 dieser Verordnung, dass diese „Verordnung … die aufgrund der [durch die Richtlinie 2015/2302 ersetzten] Richtlinie [90/314] bestehenden Fluggastrechte unberührt [lässt]“. Spiegelbildlich dazu bestätigt Art. 14 Abs. 5 der Richtlinie 2015/2302 ausdrücklich, dass der Schadensersatz oder die Preisminderung nach Maßgabe dieser Richtlinie und der Schadensersatz oder die Preisminderung nach Maßgabe u. a. der Verordnung Nr. 261/2004 miteinander verrechnet werden, um eine Überkompensation zu vermeiden.

40 Somit folgt aus Art. 3 Abs. 6 dieser Verordnung und aus Art. 14 Abs. 5 der Richtlinie 2015/2302, dass die jeweiligen Anwendungsbereiche dieser beiden Sekundärrechtsakte sich möglicherweise überschneiden. Dann ist die gleichzeitige Berufung auf diese Bestimmungen dadurch beschränkt, dass sie eine Überkompensation der vom Fluggast erlittenen Schäden verweigern.

41 Zweitens geht aus den zwei Vorabentscheidungsersuchen eindeutig hervor, dass die beiden den Ausgangsrechtsstreitigkeiten zugrunde liegenden Flüge wie vorgesehen durchgeführt wurden. Folglich kann keiner der beiden fraglichen Flüge als annulliert angesehen werden, da Art. 2 Buchst. l der Verordnung Nr. 261/2004 die „Annullierung“ als „die Nichtdurchführung eines geplanten Fluges, für den zumindest ein Platz reserviert war“, definiert. Die von den Reiseveranstaltern an die in den beiden Ausgangsverfahren in Rede stehenden Fluggäste gerichteten Mitteilungen sind daher im Hinblick auf den Begriff „Nichtbeförderung“ im Sinne von Art. 2 Buchst. j dieser Verordnung zu verstehen.

42 Nach dieser Klarstellung ist zu bestimmen, ob zum einen der Begriff „Nichtbeförderung“ auch die antizipierte Nichtbeförderung auf einem Flug umfasst, der gleichwohl durchgeführt wurde, und ob zum anderen das Luftfahrtunternehmen für falsche Informationen betreffend die Verlegung oder Stornierung eines Fluges, die den Fluggästen vom Reiseunternehmen mitgeteilt werden, haftbar gemacht werden kann.

43 Als Erstes ergibt sich aus dem Urteil vom 26. Oktober 2023, LATAM Airlines Group (C‑238/22, EU:C:2023:815, Rn. 39), dass Art. 4 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 in Verbindung mit ihrem Art. 2 Buchst. j dahin auszulegen ist, dass ein ausführendes Luftfahrtunternehmen, das einen Fluggast im Voraus darüber unterrichtet hat, dass es ihm gegen seinen Willen die Beförderung auf einem Flug verweigern werde, für den er über eine bestätigte Buchung verfügt, dem Fluggast eine Ausgleichszahlung leisten muss, selbst wenn er sich nicht unter den in Art. 3 Abs. 2 der Verordnung genannten Bedingungen am Flugsteig eingefunden hat.

44 Der Umstand, dass die Information betreffend die Nichtbeförderung dem Fluggast vorab nicht vom ausführenden Luftfahrtunternehmen, sondern vom Reiseveranstalter mitgeteilt wurde, kann keine andere Auslegung dieser Bestimmungen zur Folge haben.

45 Als Zweites ist der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu entnehmen, dass das ausführende Luftfahrtunternehmen für falsche Informationen betreffend die Verlegung oder Stornierung eines Fluges, die den Fluggästen vom Reiseunternehmen mitgeteilt werden, haftbar gemacht werden kann.

46 Erstens unterscheiden nämlich mehrere Bestimmungen der Verordnung Nr. 261/2004 für ihre Anwendung nicht zwischen dem ausführenden Luftfahrtunternehmen und dem Reiseveranstalter. Dies gilt u. a. für Art. 2 Buchst. g dieser Verordnung, der den Begriff „Buchung“ als den Umstand definiert, „dass der Fluggast über einen Flugschein oder einen anderen Beleg verfügt, aus dem hervorgeht, dass die Buchung von dem Luftfahrtunternehmen oder dem Reiseunternehmen akzeptiert und registriert wurde“. Dies trifft auch für Art. 3 Abs. 2 Buchst. a erster Gedankenstrich der Verordnung zu, wonach die Zeit, zu der sich der Fluggast zur Abfertigung einfinden muss, vom Luftfahrtunternehmen, von einem Reiseunternehmen oder von einem zugelassenen Reisevermittler angegeben werden kann. Auch bei Art. 3 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung, wonach der Fluggast sowohl vom Luftfahrtunternehmen als auch vom Reiseunternehmen auf einen anderen Flug verlegt werden kann, ist dies der Fall (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2021, Azurair u. a., C‑146/20, C‑188/20, C‑196/20 und C‑270/20, EU:C:2021:1038, Rn. 47).

47 Gemäß diesem Urteil können die Fluggäste sich im Rahmen von Art. 3 Abs. 2 Buchst. a und b der Verordnung Nr. 261/2004 unterschiedslos auf die Auskünfte verlassen, die ihnen vom ausführenden Luftfahrtunternehmen oder dem Reiseunternehmen in Bezug auf die Boardingzeit oder ihre Umbuchung erteilt werden.

48 Zweitens trägt eine solche Auslegung dazu bei, wie im ersten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 261/2004 vorgesehen, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen. Vor diesem Hintergrund zielt diese Verordnung darauf ab, das Risiko, dass Reiseunternehmen im Rahmen ihrer Tätigkeiten den Fluggästen ungenaue Auskünfte erteilen, dem Luftfahrtunternehmen aufzuerlegen. Da der Fluggast nicht an der zwischen dem Luftfahrtunternehmen und dem Reiseunternehmen bestehenden Beziehung teilhat, kann von ihm nicht verlangt werden, dass er sich insoweit Informationen beschafft (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2021, Azurair u. a., C‑146/20, C‑188/20, C‑196/20 und C‑270/20, EU:C:2021:1038, Rn. 48 und 49).

49 Jedenfalls ist darauf hinzuweisen, dass ein ausführendes Luftfahrtunternehmen, das aufgrund eines Verhaltens des Reiseunternehmens den Fluggästen eine Ausgleichszahlung nach der Verordnung Nr. 261/2004 leisten müsste, die Möglichkeit haben kann, gegen das Reiseunternehmen Regressansprüche gemäß Art. 13 der Verordnung zu erheben. Ein solcher Regress kann daher die finanzielle Belastung dieses Beförderungsunternehmens aus dieser Verpflichtung mildern oder sogar beseitigen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. Januar 2006, IATA und ELFAA, C‑344/04, EU:C:2006:10, Rn. 90, vom 19. November 2009, Sturgeon u. a., C‑402/07 und C‑432/07, EU:C:2009:716, Rn. 68, sowie vom 21. Dezember 2021, Azurair u. a., C‑146/20, C‑188/20, C‑196/20 und C‑270/20, EU:C:2021:1038, Rn. 61).

50 Ferner ist das auf eine entsprechende Anwendung des Urteils vom 4. Juli 2018, Wirth u. a. (C‑532/17, EU:C:2018:527), gestützte Vorbringen von E zurückzuweisen. E macht insoweit geltend, dass ein Charterunternehmen wie sie, genauso wie der Mieter im Fall eines Vertrags über die Vermietung eines Flugzeugs mit Besatzung („wet lease“), keine operationelle Entscheidungsgewalt in Bezug auf die Frage habe, ob, wann und mit welchen Fluggästen der Flug durchgeführt werde.

51 Insoweit genügt der Hinweis, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs bei einem Angebot eines Luftfahrtunternehmens für den Luftverkehr, das dem Angebot entspricht, auf das ein Reiseunternehmen im Rahmen seiner Beziehung zu einem Fluggast zurückgegriffen hat – sei es auch vorbehaltlich etwaiger Änderungen dieses Angebots –, davon auszugehen ist, dass das Luftfahrtunternehmen im Sinne von Art. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 261/2004 einen Flug durchzuführen beabsichtigt, so dass es als „ausführendes Luftfahrtunternehmen“ im Sinne dieser Bestimmung eingestuft werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2021, Azurair u. a., C‑146/20, C‑188/20, C‑196/20 und C‑270/20, EU:C:2021:1038, Rn. 59 und 62, sowie Beschluss vom 10. März 2023, Eurowings [nicht existenter Flug], C‑607/22, EU:C:2023:201, Rn. 21).

52 Überdies ist das Vorbringen von E in Wirklichkeit darauf gerichtet, dem vom Reiseveranstalter eingesetzten Luftfahrtunternehmen die Eigenschaft als „ausführendes Luftfahrtunternehmen“ im Sinne von Art. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 261/2004 abzustreiten. Art. 2 Buchst. d dieser Verordnung definiert das „Reiseunternehmen“ aber als einen Veranstalter im Sinne von Art. 3 Nr. 8 der Richtlinie 2015/2302 „mit Ausnahme von Luftfahrtunternehmen“. Folgte man der Argumentation von E, wäre das paradoxe Ergebnis hiervon, dass ein Charterflug nicht von einem ausführenden Luftfahrtunternehmen erbracht würde, da danach diese Eigenschaft weder dem Charterunternehmen noch dem Reiseunternehmen zuerkannt würde.

53 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 4 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 2 Buchst. j der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen ist, dass ein Fluggast, der im Rahmen einer Pauschalreise eine bestätigte Buchung für einen Flug hatte, vom ausführenden Luftfahrtunternehmen die Ausgleichsleistung im Sinne von Art. 7 Abs. 1 der Verordnung verlangen kann, wenn der Reiseveranstalter dem Fluggast – ohne zuvor das Luftfahrtunternehmen hierüber zu informieren – mitgeteilt hat, dass der ursprünglich vorgesehene Flug nicht durchgeführt werde, obwohl dieser wie vorgesehen stattfand.

Kosten

54 Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den bei den vorlegenden Gerichten anhängigen Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieser Gerichte. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 4 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 in Verbindung mit Art. 2 Buchst. j der Verordnung Nr. 261/2004

ist dahin auszulegen, dass

ein Fluggast, der im Rahmen einer Pauschalreise eine bestätigte Buchung für einen Flug hatte, vom ausführenden Luftfahrtunternehmen die Ausgleichsleistung im Sinne von Art. 7 Abs. 1 der Verordnung verlangen kann, wenn der Reiseveranstalter dem Fluggast – ohne zuvor das Luftfahrtunternehmen hierüber zu informieren – mitgeteilt hat, dass der ursprünglich vorgesehene Flug nicht durchgeführt werde, obwohl dieser wie vorgesehen stattfand.

Jääskinen

Gavalec

Ziemele

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 17. Oktober 2024.

Der Kanzler


Der Präsident

A. Calot Escobar


K. Lenaerts

* Verfahrenssprache: Deutsch.

Quelle: https://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=261%252F2004&docid=291256&pageIndex=0&doclang=de&mode=req&dir=&occ=first&part=1&cid=8256052#ctx1

EuGH, Urteil v. 13. Juni 2024, C‑385/23

Neuartiger Technischer Defekt an erst kürzlich in Betrib genommenem Flugzeugtyp kann außergewöhnlichen Umstand darstellen, sofern Hersteller im Nachhinein einen versteckten Konstruktionsfehler anerkennt.

Leitsatz der Kanzlei Woicke

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Achte Kammer)

13. Juni 2024(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Luftverkehr – Verordnung (EG) Nr. 261/2004 – Art. 5 Abs. 3 – Ausgleichszahlungen an die Fluggäste bei großer Verspätung oder Annullierung eines Fluges – Befreiung von der Ausgleichspflicht – Außergewöhnliche Umstände – Technische Störungen, die durch einen vom Hersteller nach der Flugannullierung aufgedeckten versteckten Konstruktionsfehler verursacht wurden – System zur Messung der Treibstoffmenge des Flugzeugs“

In der Rechtssache C‑385/23

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Korkein oikeus (Oberstes Gericht, Finnland) mit Entscheidung vom 22. Juni 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 22. Juni 2023, in dem Verfahren

Matkustaja A

gegen

Finnair Oyj

erlässt

DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten N. Piçarra sowie der Richter N. Jääskinen und M. Gavalec (Berichterstatter),

Generalanwältin: L. Medina,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– des Matkustaja A, vertreten durch K. Väänänen, Kuluttaja-asiamies, sowie J. Suurla, Johtava asiantuntija,

– der Finnair Oyj, vertreten durch T. Väätäinen, Asianajaja,

– der finnischen Regierung, vertreten durch M. Pere als Bevollmächtigte,

– der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und J. M. Hoogveld als Bevollmächtigte,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch T. Simonen und N. Yerrell als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (ABl. 2004, L 46, S. 1).

2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Matkustaja A (im Folgenden A), einem Fluggast, und dem Luftfahrtunternehmen Finnair Oyj wegen dessen Weigerung, diesem Fluggast, dessen Flug annulliert wurde, einen Ausgleich zu leisten.

Rechtlicher Rahmen

3 In den Erwägungsgründen 1, 14 und 15 der Verordnung Nr. 261/2004 heißt es:

„(1) Die Maßnahmen der [Europäischen] Gemeinschaft im Bereich des Luftverkehrs sollten unter anderem darauf abzielen, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen. Ferner sollte den Erfordernissen des Verbraucherschutzes im Allgemeinen in vollem Umfang Rechnung getragen werden.



(14) Wie nach dem Übereinkommen [zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr, geschlossen am 28. Mai 1999 in Montreal und genehmigt im Namen der Europäischen Gemeinschaft durch den Beschluss 2001/539/EG des Rates vom 5. April 2001 (ABl. 2001, L 194, S. 38)] sollten die Verpflichtungen für ausführende Luftfahrtunternehmen in den Fällen beschränkt oder ausgeschlossen sein, in denen ein Vorkommnis auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären. Solche Umstände können insbesondere bei politischer Instabilität, mit der Durchführung des betreffenden Fluges nicht zu vereinbarenden Wetterbedingungen, Sicherheitsrisiken, unerwarteten Flugsicherheitsmängeln und den Betrieb eines ausführenden Luftfahrtunternehmens beeinträchtigenden Streiks eintreten.

(15) Vom Vorliegen außergewöhnlicher Umstände sollte ausgegangen werden, wenn eine Entscheidung des Flugverkehrsmanagements zu einem einzelnen Flugzeug an einem bestimmten Tag zur Folge hat, dass es bei einem oder mehreren Flügen des betreffenden Flugzeugs zu einer großen Verspätung, einer Verspätung bis zum nächsten Tag oder zu einer Annullierung kommt, obgleich vom betreffenden Luftfahrtunternehmen alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen wurden, um die Verspätungen oder Annullierungen zu verhindern.“

4 Art. 5 („Annullierung“) dieser Verordnung bestimmt:

„(1) Bei Annullierung eines Fluges [wird] den betroffenen Fluggästen



c) vom ausführenden Luftfahrtunternehmen ein Anspruch auf Ausgleichsleistungen gemäß Artikel 7 eingeräumt, es sei denn,

i) sie werden über die Annullierung mindestens zwei Wochen vor der planmäßigen Abflugzeit unterrichtet, oder

ii) sie werden über die Annullierung in einem Zeitraum zwischen zwei Wochen und sieben Tagen vor der planmäßigen Abflugzeit unterrichtet und erhalten ein Angebot zur anderweitigen Beförderung, das es ihnen ermöglicht, nicht mehr als zwei Stunden vor der planmäßigen Abflugzeit abzufliegen und ihr Endziel höchstens vier Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit zu erreichen, oder

iii) sie werden über die Annullierung weniger als sieben Tage vor der planmäßigen Abflugzeit unterrichtet und erhalten ein Angebot zur anderweitigen Beförderung, das es ihnen ermöglicht, nicht mehr als eine Stunde vor der planmäßigen Abflugzeit abzufliegen und ihr Endziel höchstens zwei Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit zu erreichen.



(3) Ein ausführendes Luftfahrtunternehmen ist nicht verpflichtet, Ausgleichszahlungen gemäß Artikel 7 zu leisten, wenn es nachweisen kann, dass die Annullierung auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären.

…“

5 Art. 7 („Ausgleichsanspruch“) Abs. 1 der Verordnung bestimmt:

„Wird auf diesen Artikel Bezug genommen, so erhalten die Fluggäste Ausgleichszahlungen in folgender Höhe:

a) 250 [Euro] bei allen Flügen über eine Entfernung von 1 500 km oder weniger,

b) 400 [Euro] bei allen innergemeinschaftlichen Flügen über eine Entfernung von mehr als 1 500 km und bei allen anderen Flügen über eine Entfernung zwischen 1 500 km und 3 500 km,

c) 600 [Euro] bei allen nicht unter Buchstabe a) oder b) fallenden Flügen.

…“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

6 A hatte bei Finnair einen für den 25. März 2016 geplanten Flug von Helsinki (Finnland) nach Bangkok (Thailand) gebucht. Dieser Flug sollte mit einem Flugzeug durchgeführt werden, das seit etwas mehr als fünf Monaten im Einsatz war.

7 Beim Befüllen des Treibstofftanks kurz vor dem Start kam es zu einer technischen Störung bei der Treibstoffanzeige dieses Flugzeugs. Da diese Störung als wesentliche Beeinträchtigung der Flugsicherheit angesehen wurde, annullierte Finnair den geplanten Flug und führte ihn, wie das vorlegende Gericht ausführt, erst am nächsten Tag, d. h. am 26. März 2016, mit einem Reserveflugzeug durch. Der Flug erreichte den Zielort mit einer Verspätung von etwa 20 Stunden.

8 Da es sich bei dem ursprünglich vorgesehenen Flugzeug um ein neues Modell handelte, war der in Rede stehende Fehler, der weltweit erstmals auftrat, vor dem Auftreten dieser Störung unbekannt. Daher hatten weder der Flugzeughersteller noch die Flugsicherheitsbehörde Kenntnis von diesem Fehler und konnten ihn deshalb nicht melden.

9 Finnair leitete sofort Ermittlungen zur Klärung der Ursache der Störung der Treibstoffanzeige ein. Nach etwa 24 Stunden wurde die Störung behoben, indem der Treibstofftank entleert und danach wieder aufgefüllt wurde. Anschließend war die Maschine wieder flugfähig.

10 Spätere, eingehendere Untersuchungen des Herstellers des Flugzeugs ergaben, dass diese Störung auf einen versteckten, sämtliche Flugzeuge dieses Typs betreffenden Konstruktionsfehler zurückzuführen war.

11 Diese Flugzeuge flogen jedoch weiter, bis eine Software-Aktualisierung im Februar 2017 die Störung endgültig beseitigte.

12 Da sich Finnair weigerte, A eine pauschale Ausgleichszahlung in Höhe von 600 Euro gemäß Art. 5 Abs. 1 Buchst. c und Art. 7 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 261/2004 zu zahlen, erhob A Klage beim Käräjäoikeus (Gericht erster Instanz, Finnland). Finnair machte geltend, dass die in Rede stehende Störung einen „außergewöhnlichen Umstand“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 dieser Verordnung darstelle und dass Finnair alle ihr zumutbaren Maßnahmen ergriffen habe.

13 Das Gericht gab der Klage von A mit der Begründung statt, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Störung zwar auf einen schwer vorhersehbaren Konstruktionsfehler zurückzuführen sei, aber Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit eines Luftfahrtunternehmens sei. Der bloße Umstand, dass der Flugzeughersteller Finnair keine Anweisungen dazu gegeben habe, wie sie sich im Fall einer derartigen, einen neuen Flugzeugtyp betreffenden Störung verhalten sollte, habe das betreffende Vorkommnis nicht außergewöhnlich werden lassen.

14 Finnair legte gegen das Urteil des Käräjäoikeus (Gericht erster Instanz) Berufung beim Hovioikeus (Berufungsgericht, Finnland) ein. Dieses Gericht stellte fest, dass die Störung der Treibstoffanzeige als „außergewöhnlicher Umstand“ anzusehen sei, da sie nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit von Finnair sei und aufgrund ihrer Natur oder Ursache auch nicht von ihr tatsächlich beherrschbar sei.

15 A legte Rechtsmittel beim Korkein oikeus (Oberstes Gericht, Finnland), dem vorlegenden Gericht, ein.

16 Dieses Gericht fragt sich, ob eine technische Störung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die ein neues Flugzeug betrifft, einen „außergewöhnlichen Umstand“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 darstellt.

17 Das Gericht hat insbesondere Zweifel daran, ob eine technische Störung ein Vorkommnis mit externer Ursache im Sinne des Urteils vom 7. Juli 2022, SATA International – Azores Airlines (Ausfall des Betankungssystems) (C‑308/21, EU:C:2022:533) und daher einen „außergewöhnlichen Umstand“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 dieser Verordnung darstellt, wenn sie die Sicherheit eines Fluges beeinträchtigt und der Flugzeughersteller erst nach Annullierung dieses Fluges anerkennt, dass sie auf einen versteckten Konstruktionsfehler zurückzuführen ist, der sämtliche Flugzeuge dieses Typs betrifft.

18 Falls dies zu verneinen ist, fragt sich das vorlegende Gericht, ob die Rechtsprechung des Gerichtshofs zum vorzeitigen Auftreten von Störungen an bestimmten technischen Teilen auf den Fall eines versteckten Konstruktionsfehlers, der sich erstmals an einem neuen Flugzeugtyp zeigt, übertragbar ist. Es sei nämlich nicht ungewöhnlich, dass ein neues Flugzeugmodell in den ersten Phasen seiner Inbetriebnahme versteckte Fehler aufweise.

19 Unter diesen Umständen hat der Korkein oikeus (Oberstes Gericht) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Kann sich ein Luftfahrtunternehmen auf außergewöhnliche Umstände im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 allein deshalb berufen, weil der Flugzeughersteller gemeldet hat, dass ein versteckter, sämtliche Flugzeuge dieses Typs betreffender und die Flugsicherheit beeinträchtigender Konstruktionsfehler vorlag, obwohl diese Meldung erst nach Verspätung oder Annullierung des Fluges erfolgte?

2. Falls die erste Frage verneint wird und zu prüfen ist, ob die Umstände auf Vorkommnisse zurückzuführen sind, die Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betroffenen Luftfahrtunternehmens sind und aufgrund ihrer Natur oder Ursache von ihm tatsächlich zu beherrschen sind, ist dann die Rechtsprechung des Gerichtshofs zum vorzeitigen Auftreten von Störungen an bestimmten technischen Teilen in einem Fall wie dem vorliegenden anwendbar, in dem weder der Hersteller noch das Luftfahrtunternehmen zum Zeitpunkt der Annullierung des Fluges wussten, welcher Art der Fehler des in Rede stehenden neuen Flugzeugtyps war und wie er behoben werden konnte?

Zu den Vorlagefragen

20 Mit seinen beiden Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen ist, dass das Auftreten einer unerwarteten und neuartigen technischen Störung, die ein neues, vor Kurzem in Betrieb genommenes Flugzeugmodell betrifft und das Luftfahrtunternehmen zur Annullierung eines Fluges veranlasst, unter den Begriff „außergewöhnliche Umstände“ im Sinne dieser Bestimmung fällt, wenn der Hersteller dieses Flugzeugs nach der Annullierung dieses Fluges anerkennt, dass diese Störung durch einen versteckten Konstruktionsfehler verursacht wurde, der sämtliche Flugzeuge dieses Typs betraf und die Flugsicherheit beeinträchtigte.

21 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 für den Fall der Annullierung eines Fluges vorsieht, dass den betroffenen Fluggästen vom ausführenden Luftfahrtunternehmen ein Anspruch auf Ausgleichsleistungen gemäß Art. 7 Abs. 1 dieser Verordnung eingeräumt wird, es sei denn, sie wurden über diese Annullierung innerhalb der in Art. 5 Abs. 1 vorgesehenen Fristen unterrichtet.

22 Nach Art. 5 Abs. 3 dieser Verordnung in Verbindung mit deren Erwägungsgründen 14 und 15 ist das Luftfahrtunternehmen von seiner Verpflichtung zu Ausgleichszahlungen befreit, wenn es nachweisen kann, dass die Annullierung auf „außergewöhnliche Umstände“ zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären, und wenn es bei Eintritt eines solchen Umstands zudem nachweisen kann, dass es die der Situation angemessenen Maßnahmen ergriffen hat, indem es alle ihm zur Verfügung stehenden personellen, materiellen und finanziellen Mittel eingesetzt hat, um zu vermeiden, dass dieser zur Annullierung oder zur großen Verspätung des betreffenden Fluges führt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. März 2021, Airhelp, C‑28/20, EU:C:2021:226, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung).

23 Da dieser Art. 5 Abs. 3 eine Ausnahme vom Grundsatz des Ausgleichsanspruchs der Fluggäste darstellt, und in Anbetracht des mit der Verordnung Nr. 261/2004 verfolgten Ziels, das nach ihrem ersten Erwägungsgrund darin besteht, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen, ist der Begriff „außergewöhnliche Umstände“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 eng auszulegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. April 2018, Krüsemann u. a., C‑195/17, C‑197/17 bis C‑203/17, C‑226/17, C‑228/17, C‑254/17, C‑274/17, C‑275/17, C‑278/17 bis C‑286/17 und C‑290/17 bis C‑292/17, EU:C:2018:258, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).

24 Als „außergewöhnliche Umstände“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 werden Vorkommnisse angesehen, die ihrer Natur oder Ursache nach nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betreffenden Luftfahrtunternehmens sind und von ihm nicht tatsächlich beherrschbar sind, wobei diese beiden Bedingungen kumulativ sind und ihr Vorliegen von Fall zu Fall zu beurteilen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. März 2021, Airhelp, C‑28/20, EU:C:2021:226, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).

25 Somit stellen technische Störungen als solche, sofern sie nicht die beiden in der vorstehenden Randnummer genannten kumulativen Voraussetzungen erfüllen, keine „außergewöhnlichen Umstände“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 dar (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. Dezember 2008, Wallentin-Hermann, C‑549/07, EU:C:2008:771, Rn. 25, und vom 12. März 2020, Finnair, C‑832/18, EU:C:2020:204, Rn. 39).

26 Vor diesem Hintergrund ist zu beurteilen, ob es einen „außergewöhnlichen Umstand“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 darstellen kann, wenn eine unerwartete und neuartige technische Störung ein neues, vor Kurzem in Betrieb genommenes Flugzeugmodell betrifft und sich nach der Annullierung eines Fluges herausstellt, dass sie durch einen versteckten Konstruktionsfehler verursacht wurde, der sämtliche Flugzeuge dieses Typs betraf und die Flugsicherheit beeinträchtigte.

27 Als Erstes ist zu bestimmen, ob es sich bei einer technischen Störung, die die in der vorstehenden Randnummer genannten Merkmale aufweist, ihrer Natur oder Ursache nach um ein Vorkommnis handeln kann, das nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betreffenden Luftfahrtunternehmens ist.

28 Insoweit hat der Gerichtshof entschieden, dass Luftfahrtunternehmen angesichts der besonderen Bedingungen, unter denen der Luftverkehr durchgeführt wird, und des Maßes an technologischer Komplexität der Flugzeuge, das dazu führt, dass der Betrieb von Flugzeugen unausweichlich technische Probleme, Pannen oder das vorzeitige und unerwartete Auftreten von Störungen an bestimmten Teilen eines Flugzeugs mit sich bringt, im Rahmen ihrer Tätigkeit gewöhnlich solchen Problemen gegenüberstehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. April 2019, Germanwings, C‑501/17, EU:C:2019:288, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung).

29 Daraus folgt, dass die Behebung eines technischen Problems, das aus einer Panne, der mangelhaften Wartung eines Flugzeugs oder dem vorzeitigen und unerwarteten Auftreten von Störungen an bestimmten Teilen eines Flugzeugs resultiert, als Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des Luftfahrtunternehmens gilt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. Dezember 2008, Wallentin-Hermann, C‑549/07, EU:C:2008:771, Rn. 25, vom 17. September 2015, van der Lans, C‑257/14, EU:C:2015:618, Rn. 41 und 42, sowie vom 12. März 2020, Finnair, C‑832/18, EU:C:2020:204, Rn. 41).

30 Eine technische Störung ist jedoch nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des Luftfahrtunternehmens und kann daher unter den Begriff „außergewöhnliche Umstände“ fallen, wenn der Hersteller der Maschinen, aus denen die Flotte des betroffenen Luftfahrtunternehmens besteht, oder eine zuständige Behörde nach der Inbetriebnahme der Maschinen entdeckt, dass diese einen versteckten Fabrikationsfehler aufweisen, der die Flugsicherheit beeinträchtigt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. Dezember 2008, Wallentin-Hermann, C‑549/07, EU:C:2008:771, Rn. 26, und vom 17. September 2015, van der Lans, C‑257/14, EU:C:2015:618, Rn. 38).

31 Im vorliegenden Fall steht, wie aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, fest, dass die technische Störung auf einen versteckten Konstruktionsfehler zurückzuführen ist, der sämtliche Flugzeuge dieses Typs betraf und die Flugsicherheit beeinträchtigte, so dass dieses Vorkommnis nach der in der vorstehenden Randnummer angeführten Rechtsprechung nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des Luftfahrtunternehmens ist.

32 Als Zweites ist zu prüfen, ob eine technische Störung, die die in Rn. 26 des vorliegenden Urteils genannten Merkmale aufweist, als ein Vorkommnis anzusehen ist, das vom betreffenden Luftfahrtunternehmen in keiner Weise tatsächlich beherrschbar ist, d. h. als ein Vorkommnis, das für das Luftfahrtunternehmen überhaupt nicht kontrollierbar ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. März 2021, Airhelp, C‑28/20, EU:C:2021:226, Rn. 36).

33 Grundsätzlich sind technische Störungen oder Pannen vom Luftfahrtunternehmen zwar tatsächlich beherrschbar, da die Vermeidung bzw. Behebung solcher Störungen und Pannen Teil der Aufgabe des Luftfahrtunternehmens ist, für die Wartung und den reibungslosen Betrieb des von ihm zu wirtschaftlichen Zwecken genutzten Flugzeugs zu sorgen (Urteil vom 17. September 2015, van der Lans, C‑257/14, EU:C:2015:618, Rn. 43). Anders verhält es sich jedoch bei einem versteckten Konstruktionsfehler eines Flugzeugs.

34 Auch wenn das Luftfahrtunternehmen für die Wartung und den reibungslosen Betrieb des von ihm zu wirtschaftlichen Zwecken genutzten Flugzeugs zu sorgen hat, ist zum einen nämlich fraglich, ob in dem Fall, dass ein versteckter Konstruktionsfehler vom Hersteller des betreffenden Flugzeugs oder von der zuständigen Behörde erst nach der Annullierung eines Fluges aufgedeckt wird, tatsächlich über die Kompetenz verfügt, den Fehler ausfindig zu machen und zu beheben, so dass nicht davon auszugehen ist, dass das Zutagetreten eines solchen Fehlers für das Unternehmen kontrollierbar ist.

35 Zum anderen ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Begriff „außergewöhnliche Umstände“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004, dass Vorkommnisse mit im Hinblick auf das ausführende Luftfahrtunternehmen „interner“ Ursache von solchen mit „externer“ Ursache zu unterscheiden sind und nur Vorkommnisse der letzteren Art vom Luftfahrtunternehmen möglicherweise nicht tatsächlich beherrschbar sind. Unter den Begriff „Vorkommnisse mit externer Ursache“ fallen solche, die auf die Tätigkeit des Luftfahrtunternehmens und auf äußere Umstände zurückzuführen sind, die in der Praxis mehr oder weniger häufig vorkommen, aber vom Luftfahrtunternehmen nicht beherrschbar sind, weil sie auf die Handlung eines Dritten, etwa eines anderen Luftfahrtunternehmens oder einer öffentlichen oder privaten Stelle, zurückgehen, die in den Flug- oder den Flughafenbetrieb eingreifen (Urteil vom 7. Juli 2022, SATA International – Azores Airlines [Ausfall des Betankungssystems], C‑308/21, EU:C:2022:533, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).

36 Im vorliegenden Fall ist daher zu prüfen, ob die nach der Entscheidung des Luftfahrtunternehmens, einen Flug zu annullieren, erfolgte Meldung oder Anerkenntnis des Herstellers, dass ein versteckter Konstruktionsfehler vorliegt, der eine Maschine betrifft und die Flugsicherheit beeinträchtigen kann, die Handlung eines in den Flugbetrieb des Luftfahrtunternehmens eingreifenden Dritten darstellen und somit ein Vorkommnis mit externer Ursache sein kann.

37 Insoweit ist klarzustellen, dass sich aus der in den Rn. 30 und 35 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung nicht ergibt, dass der Gerichtshof die Einstufung eines versteckten Konstruktionsfehlers als „außergewöhnlichen Umstand“ von der Voraussetzung abhängig gemacht hätte, dass der Flugzeughersteller oder die zuständige Behörde das Vorliegen dieses Fehlers vor dem Auftreten der dadurch verursachten technischen Störung aufgedeckt hat. Auf den Zeitpunkt, zu dem der Zusammenhang zwischen der technischen Störung und dem versteckten Konstruktionsfehler vom Flugzeughersteller oder von der zuständigen Behörde aufgedeckt wird, kommt es nämlich nicht an, sofern der versteckte Konstruktionsfehler zum Zeitpunkt der Annullierung des Fluges vorlag und das Luftfahrtunternehmen über keine Kontrollmittel verfügte, um diesen Fehler zu beheben.

38 Die Einstufung einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden als „außergewöhnlicher Umstand“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 steht im Einklang mit dem Ziel dieser Verordnung, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen, wie es in ihrem ersten Erwägungsgrund heißt. Dieses Ziel impliziert nämlich, dass für Luftfahrtunternehmen keine Anreize geschaffen werden sollten, die aufgrund eines solchen Vorfalls erforderlichen Maßnahmen zu unterlassen, indem sie der Aufrechterhaltung und der Pünktlichkeit ihrer Flüge einen höheren Stellenwert einräumen als deren Sicherheit (vgl. entsprechend Urteile vom 4. Mai 2017, Pešková und Peška, C‑315/15, EU:C:2017:342, Rn. 25, sowie vom 4. April 2019, Germanwings, C‑501/17, EU:C:2019:288, Rn. 28).

39 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen ist, dass das Auftreten einer unerwarteten und neuartigen technischen Störung, die ein neues, vor Kurzem in Betrieb genommenes Flugzeugmodell betrifft und das Luftfahrtunternehmen zur Annullierung eines Fluges veranlasst, unter den Begriff „außergewöhnliche Umstände“ im Sinne dieser Bestimmung fällt, wenn der Hersteller dieses Flugzeugs nach der Annullierung anerkennt, dass diese Störung durch einen versteckten Konstruktionsfehler verursacht wurde, der sämtliche Flugzeuge dieses Typs betraf und die Flugsicherheit beeinträchtigte.

Kosten

40 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 5 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91

ist dahin auszulegen, dass

das Auftreten einer unerwarteten und neuartigen technischen Störung, die ein neues, vor Kurzem in Betrieb genommenes Flugzeugmodell betrifft und das Luftfahrtunternehmen zur Annullierung eines Fluges veranlasst, unter den Begriff „außergewöhnliche Umstände“ im Sinne dieser Bestimmung fällt, wenn der Hersteller dieses Flugzeugs nach der Annullierung anerkennt, dass diese Störung durch einen versteckten Konstruktionsfehler verursacht wurde, der sämtliche Flugzeuge dieses Typs betraf und die Flugsicherheit beeinträchtigte.

Unterschriften

Quelle: https://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=261%252F2004&docid=287074&pageIndex=0&doclang=de&mode=req&dir=&occ=first&part=1&cid=8521355#ctx1

EuGH, Urteil v. 13. Juni 2025, C‑411/23

Verstreckter Defekt am Fluggerät kann außergewöhnlichen Umstand auch dann darstellen, wenn Luftfahrtunternehmen hierüber frühzeitig informiert wurde. Luftfahrtunternehmen ist im Rahmen des Zumutbaren verpflichtet, Ersatzflugzeuge in Reserve zu halten.

Leitsätze der Kanzlei Woicke

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Achte Kammer)

13. Juni 2024(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Luftverkehr – Verordnung (EG) Nr. 261/2004 – Art. 5 Abs. 3 – Ausgleichszahlungen für Fluggäste bei großer Verspätung oder Annullierung von Flügen – Befreiung von der Ausgleichspflicht – Außergewöhnliche Umstände – Zumutbare Vorbeugungsmaßnahmen – Technische Störungen, die durch einen versteckten Konstruktionsfehler verursacht wurden – Konstruktionsfehler des Triebwerks eines Flugzeugs – Pflicht des Luftfahrtunternehmens, Ersatzflugzeuge vorzuhalten“

In der Rechtssache C‑411/23

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sąd Okręgowy w Warszawie (Regionalgericht Warschau, Polen) mit Entscheidung vom 26. Mai 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 3. Juli 2023, in dem Verfahren

D. S.A.

gegen

P. S.A.

erlässt

DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten N. Piçarra sowie der Richter N. Jääskinen und M. Gavalec (Berichterstatter),

Generalanwältin: L. Medina,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– der D. S.A., vertreten durch P. Gad, K. Puchalska und K. Żbikowska, Adwokaci,

– der P. S.A., vertreten durch E. Cieplak-Greszta, Adwokat,

– der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch N. Yerrell und B. Sasinowska als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (ABl. 2004, L 46, S. 1).

2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der D. S.A., vormals P.[R] (im Folgenden: Klägerin des Ausgangsverfahrens), der Zessionarin der Rechte von J. D., und der P. S.A., einem Luftfahrtunternehmen (im Folgenden: im Ausgangsverfahren in Rede stehendes Luftfahrtunternehmen), wegen dessen Weigerung, J. D., einem Fluggast, dessen Flug eine große Ankunftsverspätung hatte, einen Ausgleich zu leisten.

Rechtlicher Rahmen

3 Die Erwägungsgründe 1, 14 und 15 der Verordnung Nr. 261/2004 lauten:

„(1) Die Maßnahmen der [Europäischen] Gemeinschaft im Bereich des Luftverkehrs sollten unter anderem darauf abzielen, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen. Ferner sollte den Erfordernissen des Verbraucherschutzes im Allgemeinen in vollem Umfang Rechnung getragen werden.



(14) Wie nach dem Übereinkommen [zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr, geschlossen am 28. Mai 1999 in Montreal und genehmigt im Namen der Europäischen Gemeinschaft durch den Beschluss 2001/539/EG des Rates vom 5. April 2001 (ABl. 2001, L 194, S. 38)] sollten die Verpflichtungen für ausführende Luftfahrtunternehmen in den Fällen beschränkt oder ausgeschlossen sein, in denen ein Vorkommnis auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären. Solche Umstände können insbesondere bei politischer Instabilität, mit der Durchführung des betreffenden Fluges nicht zu vereinbarenden Wetterbedingungen, Sicherheitsrisiken, unerwarteten Flugsicherheitsmängeln und den Betrieb eines ausführenden Luftfahrtunternehmens beeinträchtigenden Streiks eintreten.

(15) Vom Vorliegen außergewöhnlicher Umstände sollte ausgegangen werden, wenn eine Entscheidung des Flugverkehrsmanagements zu einem einzelnen Flugzeug an einem bestimmten Tag zur Folge hat, dass es bei einem oder mehreren Flügen des betreffenden Flugzeugs zu einer großen Verspätung, einer Verspätung bis zum nächsten Tag oder zu einer Annullierung kommt, obgleich vom betreffenden Luftfahrtunternehmen alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen wurden, um die Verspätungen oder Annullierungen zu verhindern.“

4 Art. 5 („Annullierung“) dieser Verordnung bestimmt:

„(1) Bei Annullierung eines Fluges [wird] den betroffenen Fluggästen



c) vom ausführenden Luftfahrtunternehmen ein Anspruch auf Ausgleichsleistungen gemäß Artikel 7 eingeräumt, es sei denn, [sie werden über die Annullierung des Fluges unterrichtet]



(3) Ein ausführendes Luftfahrtunternehmen ist nicht verpflichtet, Ausgleichszahlungen gemäß Artikel 7 zu leisten, wenn es nachweisen kann, dass die Annullierung auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären.

…“

5 Art. 7 („Ausgleichsanspruch“) Abs. 1 der Verordnung sieht vor:

„Wird auf diesen Artikel Bezug genommen, so erhalten die Fluggäste Ausgleichszahlungen in folgender Höhe:

a) 250 [Euro] bei allen Flügen über eine Entfernung von 1 500 km oder weniger,

b) 400 [Euro] bei allen innergemeinschaftlichen Flügen über eine Entfernung von mehr als 1 500 km und bei allen anderen Flügen über eine Entfernung zwischen 1 500 km und 3 500 km,

c) 600 [Euro] bei allen nicht unter Buchstabe a) oder b) fallenden Flügen.

…“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

6 Am 2. Juli 2018 schloss J. D. mit dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Luftfahrtunternehmen einen Vertrag über einen Luftbeförderungsdienst für einen Flug von Kraków (Krakau, Polen) nach Chicago (Vereinigte Staaten).

7 Zuvor, nämlich im April 2018, hatte der Hersteller des Triebwerks, mit dem das für diesen Flug vorgesehene Flugzeug ausgestattet war, diesem Luftfahrtunternehmen eine Anweisung und ein Bulletin übermittelt, mit denen das Vorliegen eines versteckten Konstruktionsfehlers offenbart wurde, der die Hochdruckverdichterschaufeln der Triebwerke betraf, mit denen die Flugzeuge des betreffenden Modells ausgestattet waren (im Folgenden: Konstruktionsfehler des Triebwerks). Ferner wurde mit diesen Dokumenten eine Reihe von Beschränkungen für den Einsatz dieser Flugzeuge vorgeschrieben. Das Luftfahrtunternehmen macht geltend, es habe sich ab diesem Zeitpunkt mehrfach an verschiedene Unternehmen gewandt und versucht, zusätzliche Flugzeuge zu chartern, um dem etwaigen Zutagetreten eines Konstruktionsfehlers am Triebwerk eines der Flugzeuge seiner Flotte zu begegnen.

8 Am 28. Juni 2018, d. h. vier Tage vor dem geplanten Flug, kam es bei einem Flug mit dem Flugzeug, das für den von J. D. gebuchten Flug vorgesehen war, zu einer Triebwerksstörung. Gemäß den Empfehlungen des Triebwerksherstellers untersuchte das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Luftfahrtunternehmen das betroffene Triebwerk notfallmäßig und stellte einen Konstruktionsfehler des Triebwerks fest. Nach Rücksprache mit dem Triebwerkshersteller wurde das betroffene Triebwerk außer Betrieb genommen, abmontiert und zur Reparatur an ein Wartungszentrum geschickt. Da aufgrund einer weltweiten Triebwerksknappheit nicht sofort ein Ersatztriebwerk verfügbar war, konnte das schadhafte Triebwerk erst am 5. Juli 2018 ausgetauscht werden, so dass das Flugzeug am darauffolgenden 7. Juli wieder in Betrieb genommen wurde.

9 In diesem Zusammenhang führte das Luftfahrtunternehmen den für den 2. Juli 2018 geplanten Flug an diesem Tag nicht mit dem ursprünglich vorgesehenen Flugzeug, sondern mit einem Ersatzflugzeug durch, das bei der Ankunft eine Verspätung von mehr als drei Stunden gegenüber der ursprünglich geplanten Ankunftszeit hatte.

10 Am 18. Juli 2018 trat J. D. seine Forderung, die sich aus der großen Verspätung bei der Ankunft des Fluges ergab, an die Klägerin des Ausgangsverfahrens ab.

11 Das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Luftfahrtunternehmen lehnte es ab, die in Art. 7 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 261/2004 vorgesehene Ausgleichszahlung in Höhe von 600 Euro zu leisten, weil die Verspätung bei der Ankunft des betreffenden Fluges darauf zurückzuführen sei, dass der Konstruktionsfehler des Triebwerks entdeckt worden sei. Es habe alle erdenklichen Maßnahmen ergriffen, um jegliche Widrigkeiten in Bezug auf den geplanten Flug zu minimieren. Angesichts dessen rief die Klägerin des Ausgangsverfahrens am 29. März 2019 den Sąd Rejonowy dla m. st. Warszawy w Warszawie (Rayongericht Warschau, Polen) an.

12 Mit Entscheidung vom 3. Dezember 2021 befand dieses erstinstanzliche Gericht, dass der bei der Notinspektion vom 28. Juni 2018 festgestellte Konstruktionsfehler des Triebwerks einen „außergewöhnlichen Umstand“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 darstelle und dass das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Luftfahrtunternehmen alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen habe, um für die Durchführung des Fluges ein Ersatzflugzeug vorzusehen.

13 Gegen diese Entscheidung legte die Klägerin des Ausgangsverfahrens beim Sąd Okręgowy w Warszawie (Regionalgericht Warschau, Polen), dem vorlegenden Gericht, Berufung ein.

14 Das vorlegende Gericht geht von der Prämisse aus, dass der Grund für die Verspätung des betreffenden Fluges im Vorliegen eines am 28. Juni 2018 bei einer Notinspektion des betreffenden Flugzeugs festgestellten Konstruktionsfehlers des Triebwerks liegt. Es hegt jedoch Zweifel in zweierlei Hinsicht.

15 Erstens ist es sich darüber im Unklaren, ob der Konstruktionsfehler des Triebwerks, der dem betreffenden Luftfahrtunternehmen vom Triebwerkshersteller im April 2018 durch Übermittlung einer Anweisung und eines Bulletins offenbart wurde, mit denen eine Reihe von Beschränkungen für den Einsatz des Flugzeugs vorgeschrieben wurde, unter den Begriff „außergewöhnlicher Umstand“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 – wie vom Gerichtshof in den Urteilen vom 22. Dezember 2008, Wallentin-Hermann (C‑549/07, EU:C:2008:771), vom 17. September 2015, van der Lans (C‑257/14, EU:C:2015:618), und vom 12. März 2020, Finnair (C‑832/18, EU:C:2020:204), ausgelegt – fallen kann, auch wenn das Zutagetreten dieses Fehlers vorhersehbar geworden war.

16 Insoweit hält es das vorlegende Gericht für zweifelhaft, dass der Konstruktionsfehler des Triebwerks zwangsläufig zutage treten musste. Bei den Inspektionen an verschiedenen Flugzeugen sei nämlich kein Riss in der Schaufelbasis festgestellt worden. Außerdem habe der Hersteller des Triebwerks weder die sofortige Außerbetriebnahme aller Flugzeuge empfohlen noch angegeben, dass diese nicht fliegen könnten.

17 In diesem Zusammenhang weist das vorlegende Gericht auch darauf hin, dass Luftfahrtunternehmen besonders strenge technische und administrative Verfahren einhalten müssten. So könne sich ein Luftfahrtunternehmen grundsätzlich nicht darauf berufen, dass es über das Auftreten technischer Probleme bei Flugzeugen, unabhängig von deren Ursache, keine Kontrolle habe, da es alle geeigneten Verfahren befolgen bzw. alle erforderlichen, möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen müsse, um einem Vorkommnis entgegenzuwirken, das zu einer Verspätung oder Annullierung von Flügen führen könnte.

18 Im vorliegenden Fall seien solche Verfahren eingehalten worden, und das Luftfahrtunternehmen sei den Empfehlungen des Triebwerksherstellers gefolgt, indem es Inspektionen im angegebenen Umfang und mit der angegebenen Häufigkeit durchgeführt habe. Somit ließe sich die Auffassung vertreten, dass diese Inspektionen Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des Luftfahrtunternehmens seien. Die Anwendung dieser Verfahren bedeute jedoch nicht, dass die Entdeckung des versteckten Konstruktionsfehlers, den das Triebwerk des betreffenden Flugzeugs aufweise, für das Luftfahrtunternehmen tatsächlich beherrschbar sei.

19 Zweitens fragt das vorlegende Gericht nach der Auslegung des Begriffs „alle zumutbaren Maßnahmen“ (im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004), die von einem Luftfahrtunternehmen erwartet werden können, wenn es mit dem Auftreten „außergewöhnlicher Umstände“ konfrontiert ist. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs führten nämlich nicht alle außergewöhnlichen Umstände zu einer Befreiung, sondern es obliege dem Luftfahrtunternehmen, das sich darauf berufen wolle, darüber hinaus den Nachweis zu führen, dass sich die betreffenden Umstände jedenfalls nicht durch der Situation angepasste Maßnahmen hätten vermeiden lassen, d. h. solche, die zu dem Zeitpunkt, zu dem die entsprechenden Umstände aufträten, für das Unternehmen in technischer und wirtschaftlicher Hinsicht tragbar seien. Vom Luftfahrtunternehmen könne nicht verlangt werden, dass es Opfer bringe, die angesichts seiner Kapazitäten nicht tragbar seien.

20 Insoweit sei fraglich, welchen Umfang die „zumutbaren Maßnahmen“ präventiver Art hätten, die von einem Luftfahrtunternehmen erwartet werden könnten, wenn die Feststellung eines versteckten Konstruktionsfehlers bei einem seiner Flugzeuge noch ungewiss sei. Es sei zwar zweifelhaft, dass vom Luftfahrtunternehmen im Rahmen dieser „zumutbaren Maßnahmen“ präventiver Art verlangt werden könne, dass es das Triebwerk austausche, bevor der Konstruktionsfehler tatsächlich festgestellt werde, oder dass es das Flugzeug außer Betrieb nehme, bis der Triebwerkshersteller den Konstruktionsfehler des Triebwerks behoben habe. Es sei aber nicht ausgeschlossen, dass man vom Luftfahrtunternehmen erwarten könne, dass es einen Plan erstelle, um als „Reserve“ über eine Flugzeugflotte mit vollständiger Besatzung zu verfügen, die im Fall des Eintritts außergewöhnlicher Umstände die planmäßigen Flüge durchführen könne.

21 Schließlich sei darauf hinzuweisen, dass das betreffende Luftfahrtunternehmen seit April 2018 nur acht Anbieter kontaktiert habe, um ein Ersatzflugzeug zu chartern, was nach Ansicht der Klägerin des Ausgangsverfahrens unzureichend sei, da das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Luftfahrtunternehmen es somit unterlassen habe, 18 weitere Luftfahrtunternehmen zu kontaktieren, darunter solche, die das sogenannte „Wet Lease“ praktizierten, d. h. die Vermietung von Flugzeugen mit Besatzung. Darüber hinaus merke die Klägerin des Ausgangsverfahrens an, dass die Bemühungen dieses Luftfahrtunternehmens, ein Ersatzflugzeug zu chartern, im September 2018 erfolgreich gewesen seien, was belege, dass das Unternehmen zu spät auf das wahrscheinliche Zutagetreten eines Konstruktionsfehlers am Triebwerk eines seiner Flugzeuge reagiert habe.

22 Unter diesen Umständen hat der Sąd Okręgowy w Warszawie (Regionalgericht Warschau) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Stellt der vom Hersteller entdeckte Konstruktionsfehler eines Flugzeugtriebwerks einen „außergewöhnlichen Umstand“ dar und ist er vom Begriff „unerwartete Mängel“ im Sinne der Erwägungsgründe 14 und 15 der Verordnung Nr. 261/2004 umfasst, wenn das Luftfahrtunternehmen einige Monate vor dem Flug von einem möglichen Konstruktionsfehler Kenntnis hatte?

2. Falls der in der ersten Frage genannte Konstruktionsfehler einen „außergewöhnlichen Umstand“ im Sinne der Erwägungsgründe 14 und 15 der Verordnung Nr. 261/2004 darstellt: Ist im Rahmen des Ergreifens „aller zumutbaren Maßnahmen“, die im 14. Erwägungsgrund und in Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 genannt sind, vom Luftfahrtunternehmen zu erwarten, dass es angesichts der wahrscheinlichen Entdeckung eines Konstruktionsfehlers eines Flugzeugtriebwerks auf die Bereithaltung von Ersatzflugzeugen abzielende Präventivmaßnahmen im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 ergreift, um von seiner Verpflichtung befreit zu werden, die in Art. 5 Abs. 1 Buchst. c und Art. 7 Abs. 1 dieser Verordnung vorgesehene Ausgleichszahlung zu leisten?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

23 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen ist, dass die Entdeckung eines versteckten Konstruktionsfehlers am Triebwerk eines Flugzeugs, mit dem ein Flug durchgeführt werden soll, unter den Begriff „außergewöhnliche Umstände“ im Sinne dieser Bestimmung fällt, selbst wenn das Luftfahrtunternehmen vom Hersteller des Triebwerks mehrere Monate vor dem betreffenden Flug über das Vorliegen eines derartigen Fehlers informiert wurde.

24 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Fluggäste verspäteter Flüge im Hinblick auf die Anwendung des Ausgleichsanspruchs den Fluggästen annullierter Flüge gleichgestellt werden können und somit den in Art. 7 dieser Verordnung vorgesehenen Ausgleichsanspruch geltend machen können, wenn sie wegen eines verspäteten Fluges einen Zeitverlust von drei Stunden oder mehr erleiden, d. h., wenn sie ihr Endziel nicht früher als drei Stunden nach der von dem Luftfahrtunternehmen ursprünglich geplanten Ankunftszeit erreichen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. November 2009, Sturgeon u. a., C‑402/07 und C‑432/07, EU:C:2009:716, Rn. 69).

25 Nach Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 in Verbindung mit deren Erwägungsgründen 14 und 15 ist das Luftfahrtunternehmen von dieser Verpflichtung zu Ausgleichszahlungen befreit, wenn es nachweisen kann, dass die Annullierung bzw. die große Ankunftsverspätung auf „außergewöhnliche Umstände“ zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären, und wenn es bei Eintritt eines solchen Umstands zudem nachweisen kann, dass es die der Situation angemessenen Maßnahmen ergriffen hat, indem es alle ihm zur Verfügung stehenden personellen, materiellen und finanziellen Mittel eingesetzt hat, um zu vermeiden, dass dieser zur Annullierung oder zur großen Verspätung des betreffenden Fluges führt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. März 2021, Airhelp, C‑28/20, EU:C:2021:226, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung).

26 Da dieser Art. 5 Abs. 3 eine Ausnahme vom Grundsatz des Ausgleichsanspruchs der Fluggäste darstellt, und in Anbetracht des mit der Verordnung Nr. 261/2004 verfolgten Ziels, das nach ihrem ersten Erwägungsgrund darin besteht, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen, ist der Begriff „außergewöhnliche Umstände“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 eng auszulegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. April 2018, Krüsemann u. a., C‑195/17, C‑197/17 bis C‑203/17, C‑226/17, C‑228/17, C‑254/17, C‑274/17, C‑275/17, C‑278/17 bis C‑286/17 und C‑290/17 bis C‑292/17, EU:C:2018:258, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).

27 Als „außergewöhnliche Umstände“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 werden Vorkommnisse angesehen, die ihrer Natur oder Ursache nach nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betreffenden Luftfahrtunternehmens sind und von ihm nicht tatsächlich beherrschbar sind, wobei diese beiden Bedingungen kumulativ sind und ihr Vorliegen von Fall zu Fall zu beurteilen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. März 2021, Airhelp, C‑28/20, EU:C:2021:226, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).

28 Somit stellen technische Störungen als solche, sofern sie nicht die beiden in der vorstehenden Randnummer genannten kumulativen Voraussetzungen erfüllen, keine „außergewöhnlichen Umstände“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 dar (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. Dezember 2008, Wallentin-Hermann, C‑549/07, EU:C:2008:771, Rn. 25, und vom 12. März 2020, Finnair, C‑832/18, EU:C:2020:204, Rn. 39).

29 Vor diesem Hintergrund ist zu beurteilen, ob es einen „außergewöhnlichen Umstand“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 darstellen kann, wenn ein versteckter Konstruktionsfehler eines Flugzeugtriebwerks, der zu einer großen Verspätung bei der Ankunft eines Fluges führt, entdeckt wird und das Luftfahrtunternehmen vom Triebwerkshersteller mehrere Monate vor diesem Flug über das Vorliegen eines solchen Fehlers informiert worden war.

30 Als Erstes ist zu bestimmen, ob es sich bei einem versteckten Konstruktionsfehler, der die in der vorstehenden Randnummer genannten Merkmale aufweist, seiner Natur oder Ursache nach um ein Vorkommnis handeln kann, das nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des Luftfahrtunternehmens ist.

31 Insoweit hat der Gerichtshof entschieden, dass Luftfahrtunternehmen angesichts der besonderen Bedingungen, unter denen der Luftverkehr durchgeführt wird, und des Maßes an technologischer Komplexität der Flugzeuge, das dazu führt, dass der Betrieb von Flugzeugen unausweichlich technische Probleme, Pannen oder das vorzeitige und unerwartete Auftreten von Störungen an bestimmten Teilen eines Flugzeugs mit sich bringt, im Rahmen ihrer Tätigkeit gewöhnlich solchen Problemen gegenüberstehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. April 2019, Germanwings, C‑501/17, EU:C:2019:288, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung).

32 Daraus folgt, dass die Behebung eines technischen Problems, das aus einer Panne, der mangelhaften Wartung eines Flugzeugs oder dem vorzeitigen und unerwarteten Auftreten von Störungen an bestimmten Teilen eines Flugzeugs resultiert, als Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des Luftfahrtunternehmens gilt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. Dezember 2008, Wallentin-Hermann, C‑549/07, EU:C:2008:771, Rn. 25, vom 17. September 2015, van der Lans, C‑257/14, EU:C:2015:618, Rn. 41 und 42, sowie vom 12. März 2020, Finnair, C‑832/18, EU:C:2020:204, Rn. 41).

33 Eine technische Störung ist jedoch nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des Luftfahrtunternehmens und kann daher unter den Begriff „außergewöhnliche Umstände“ fallen, wenn der Hersteller der Maschinen, aus denen die Flotte des betroffenen Luftfahrtunternehmens besteht, oder eine zuständige Behörde nach der Inbetriebnahme der Maschinen entdeckt, dass diese einen versteckten Fabrikationsfehler aufweisen, der die Flugsicherheit beeinträchtigt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. Dezember 2008, Wallentin-Hermann, C‑549/07, EU:C:2008:771, Rn. 26, und vom 17. September 2015, van der Lans, C‑257/14, EU:C:2015:618, Rn. 38).

34 Im vorliegenden Fall steht, wie aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, fest, dass das ursprünglich für die Durchführung des verspäteten Fluges vorgesehene Flugzeug einen versteckten Konstruktionsfehler aufwies, der sämtliche Triebwerke desselben Typs betraf und die Flugsicherheit beeinträchtigte, und dass der Triebwerkshersteller einige Monate, bevor dieser Konstruktionsfehler am betreffenden Flugzeug festgestellt wurde, darauf hingewiesen hatte. Ein solches Vorkommnis ist nach der in der vorstehenden Randnummer angeführten Rechtsprechung nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des Luftfahrtunternehmens.

35 Als Zweites ist zu prüfen, ob die Entdeckung eines versteckten Konstruktionsfehlers des Triebwerks, der die in Rn. 29 des vorliegenden Urteils genannten Merkmale aufweist, als ein Vorkommnis anzusehen ist, das vom betreffenden Luftfahrtunternehmen in keiner Weise tatsächlich beherrschbar ist, d. h. als ein Vorkommnis, das für das Luftfahrtunternehmen überhaupt nicht kontrollierbar ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. März 2021, Airhelp, C‑28/20, EU:C:2021:226, Rn. 36).

36 Grundsätzlich sind technische Störungen oder Pannen vom Luftfahrtunternehmen zwar tatsächlich beherrschbar, da die Vermeidung bzw. Behebung solcher Störungen und Pannen Teil der Aufgabe des Luftfahrtunternehmens ist, für die Wartung und den reibungslosen Betrieb des von ihm zu wirtschaftlichen Zwecken genutzten Flugzeugs zu sorgen (Urteil vom 17. September 2015, van der Lans, C‑257/14, EU:C:2015:618, Rn. 43). Anders verhält es sich jedoch bei einem versteckten Konstruktionsfehler des Triebwerks eines Flugzeugs.

37 Auch wenn das Luftfahrtunternehmen für die Wartung und den reibungslosen Betrieb des von ihm zu wirtschaftlichen Zwecken genutzten Flugzeugs zu sorgen hat, ist zum einen nämlich fraglich, ob in dem Fall, dass ein versteckter Konstruktionsfehler vom Hersteller des betreffenden Flugzeugs, vom Hersteller des Triebwerks oder auch von der zuständigen Behörde erst nach der Inbetriebnahme dieses Flugzeugs aufgedeckt wird, dieses Luftfahrtunternehmen tatsächlich über die Kompetenz verfügt, den Fehler ausfindig zu machen und zu beheben, so dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass das Zutagetreten eines solchen Fehlers für das Unternehmen kontrollierbar ist.

38 Zum anderen ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Begriff „außergewöhnliche Umstände“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004, dass Vorkommnisse mit im Hinblick auf das Luftfahrtunternehmen „interner“ Ursache von solchen mit „externer“ Ursache zu unterscheiden sind und nur Vorkommnisse der letzteren Art vom Luftfahrtunternehmen möglicherweise nicht tatsächlich beherrschbar sind. Unter den Begriff „Vorkommnisse mit externer Ursache“ fallen solche, die auf die Tätigkeit des Luftfahrtunternehmens und auf äußere Umstände zurückzuführen sind, die in der Praxis mehr oder weniger häufig vorkommen, aber vom Luftfahrtunternehmen nicht beherrschbar sind, weil sie auf die Handlung eines Dritten, etwa eines anderen Luftfahrtunternehmens oder einer öffentlichen oder privaten Stelle, zurückgehen, die in den Flug- oder den Flughafenbetrieb eingreifen (Urteil vom 7. Juli 2022, SATA International – Azores Airlines [Ausfall des Betankungssystems], C‑308/21, EU:C:2022:533, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).

39 Im vorliegenden Fall ist daher zu prüfen, ob die vor dem betreffenden verspäteten Flug erfolgte Meldung oder Anerkenntnis des Triebwerksherstellers, dass ein versteckter, womöglich die Flugsicherheit beeinträchtigender Konstruktionsfehler eines Flugzeugtriebwerks vorliegt, die Handlung eines in den Flugbetrieb des Luftfahrtunternehmens eingreifenden Dritten darstellen und somit ein Vorkommnis mit externer Ursache sein kann.

40 Insoweit ist klarzustellen, dass sich aus der in den Rn. 33 und 38 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung nicht ergibt, dass der Gerichtshof die Einstufung eines versteckten Konstruktionsfehlers als „außergewöhnlichen Umstand“ von der Voraussetzung abhängig gemacht hätte, dass der Flugzeughersteller, der Triebwerkshersteller oder die zuständige Behörde das Vorliegen dieses Fehlers vor dem Auftreten der dadurch verursachten technischen Störung aufgedeckt hat. Auf den Zeitpunkt, zu dem der Zusammenhang zwischen der technischen Störung und dem versteckten Konstruktionsfehler vom Flugzeughersteller, vom Triebwerkshersteller oder von der zuständigen Behörde aufgedeckt wird, kommt es nämlich nicht an, sofern der versteckte Konstruktionsfehler zum Zeitpunkt der Annullierung oder der großen Verspätung des Fluges vorlag und das Luftfahrtunternehmen über keine Kontrollmittel verfügte, um diesen Fehler zu beheben.

41 Die Einstufung einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden als „außergewöhnlicher Umstand“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 steht im Einklang mit dem Ziel dieser Verordnung, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen, wie es in ihrem ersten Erwägungsgrund heißt. Dieses Ziel impliziert nämlich, dass für Luftfahrtunternehmen keine Anreize geschaffen werden sollten, die aufgrund eines solchen Vorfalls erforderlichen Maßnahmen zu unterlassen, indem sie der Aufrechterhaltung und der Pünktlichkeit ihrer Flüge einen höheren Stellenwert einräumen als deren Sicherheit (vgl. entsprechend Urteile vom 4. Mai 2017, Pešková und Peška, C‑315/15, EU:C:2017:342, Rn. 25, sowie vom 4. April 2019, Germanwings, C‑501/17, EU:C:2019:288, Rn. 28).

42 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen ist, dass die Entdeckung eines versteckten Konstruktionsfehlers am Triebwerk eines Flugzeugs, mit dem ein Flug durchgeführt werden soll, unter den Begriff „außergewöhnliche Umstände“ im Sinne dieser Bestimmung fällt, selbst wenn das Luftfahrtunternehmen vom Hersteller des Triebwerks mehrere Monate vor dem betreffenden Flug über das Vorliegen eines derartigen Fehlers informiert wurde.

Zur zweiten Frage

43 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen ist, dass ein Luftfahrtunternehmen im Rahmen „aller zumutbaren Maßnahmen“, die es zu ergreifen hat, um den Eintritt und die Folgen eines „außergewöhnlichen Umstands“ im Sinne dieser Bestimmung, wie etwa die Entdeckung eines versteckten Konstruktionsfehlers des Triebwerks eines seiner Flugzeuge, zu vermeiden, eine vorbeugende Maßnahme ergreifen muss, die darin besteht, eine Flotte von Ersatzflugzeugen in Reserve zu halten.

44 Wie in Rn. 25 des vorliegenden Urteils ausgeführt, ist das Luftfahrtunternehmen bei Eintritt eines „außergewöhnlichen Umstands“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 nur dann von seiner Verpflichtung zu Ausgleichszahlungen an die Fluggäste nach Art. 7 dieser Verordnung befreit, wenn es nachweisen kann, dass es die der Situation angemessenen Maßnahmen ergriffen hat, d. h. solche, die zu dem Zeitpunkt, zu dem die entsprechenden „außergewöhnlichen Umstände“ auftreten, für das Unternehmen insbesondere in technischer und wirtschaftlicher Hinsicht tragbar sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. Dezember 2008, Wallentin-Hermann, C‑549/07, EU:C:2008:771, Rn. 40, und vom 4. April 2019, Germanwings, C‑501/17, EU:C:2019:288, Rn. 31).

45 Das Unternehmen hat nachzuweisen, dass es ihm auch unter Einsatz aller ihm zur Verfügung stehenden personellen, materiellen und finanziellen Mittel offensichtlich nicht möglich gewesen wäre, ohne angesichts seiner Kapazitäten zum maßgeblichen Zeitpunkt nicht tragbare Opfer die außergewöhnlichen Umstände zu vermeiden, mit denen es konfrontiert war und die zur Annullierung bzw. großen Verspätung des Fluges geführt haben (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. Dezember 2008, Wallentin-Hermann, C‑549/07, EU:C:2008:771, Rn. 41, und vom 4. Mai 2017, Pešková und Peška, C‑315/15, EU:C:2017:342, Rn. 29).

46 Der Gerichtshof geht demnach von einer flexiblen, vom Einzelfall abhängigen Bedeutung des Begriffs „zumutbare Maßnahmen“ aus, und es ist Sache des nationalen Gerichts, zu beurteilen, ob in einem konkreten Fall angenommen werden kann, dass das Luftfahrtunternehmen die der Situation angemessenen Maßnahmen getroffen hat, d. h. Maßnahmen, die für das Unternehmen in technischer und wirtschaftlicher Hinsicht durchführbar waren, als die außergewöhnlichen Umstände aufgetreten sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. Dezember 2008, Wallentin-Hermann, C‑549/07, EU:C:2008:771, Rn. 42, vom 12. Mai 2011, Eglītis und Ratnieks, C‑294/10, EU:C:2011:303, Rn. 30, sowie vom 4. Mai 2017, Pešková und Peška, C‑315/15, EU:C:2017:342, Rn. 30).

47 Folglich kann Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 nicht dahin ausgelegt werden, dass er dem Luftfahrtunternehmen allgemein und undifferenziert als „zumutbare Maßnahmen“ im Sinne dieser Bestimmung vorschreibt, eine bestimmte Präventivmaßnahme zu ergreifen – wie etwa die, eine Flotte von Ersatzflugzeugen und die entsprechende Besatzung in Reserve zu halten, wenn es über das Vorliegen eines vom Triebwerkshersteller festgestellten Konstruktionsfehlers des Triebwerks informiert wird –, um dem Eintritt und den Folgen außergewöhnlicher Umstände vorzubeugen.

48 Um zu beurteilen, ob das Luftfahrtunternehmen „alle zumutbaren Maßnahmen“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 ergriffen hat, hat das vorlegende Gericht eine Gesamtwürdigung vorzunehmen. Zu berücksichtigen hat es dabei zum einen sämtliche Maßnahmen, die das Luftfahrtunternehmen seit seiner Kenntnisnahme vom Vorliegen eines vom Triebwerkshersteller offenbarten Konstruktionsfehlers des Triebwerks ergriffen hat, und zwar im Verhältnis zur Gesamtheit der Maßnahmen, die es ergreifen konnte, um sich gegen den Eintritt eines solchen außergewöhnlichen Umstands bei einem seiner Flugzeuge zu wappnen, und zum anderen die Schritte, die das Luftfahrtunternehmen, nachdem es diesen Fehler bei einem der Triebwerke des betreffenden Flugzeugs entdeckt hatte, unternommen hat, um die Annullierung oder große Verspätung des betreffenden Fluges zu verhindern.

49 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Einhaltung der gesetzlich vorgeschriebenen Mindesterfordernisse an Wartungsarbeiten an einem Flugzeug für sich allein nicht ausreicht, um nachzuweisen, dass ein Luftfahrtunternehmen „alle zumutbaren Maßnahmen“ im Sinne dieser Bestimmung ergriffen hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Dezember 2008, Wallentin-Hermann, C‑549/07, EU:C:2008:771, Rn. 43).

50 In diesem Zusammenhang ist es Sache des vorlegenden Gerichts, im Hinblick auf die finanziellen, materiellen und personellen Mittel des Luftfahrtunternehmens zu beurteilen, ob dieses in der Lage war, Flugzeuge nach den verschiedenen bestehenden Modalitäten, d. h. „Dry Lease“/„Wet Lease“, zur Verstärkung zu chartern, oder ob es unter Berücksichtigung dieser Mittel das Triebwerk im Rahmen eines Reparaturplans vorbeugend austauschen oder das Flugzeug bis zur Reparatur oder zum Austausch des Triebwerks durch den Hersteller außer Betrieb nehmen konnte. Dabei hat das vorlegende Gericht die geringe Verfügbarkeit von Ersatztriebwerken vor dem Hintergrund einer weltweiten Knappheit an Triebwerken sowie die Zeit zu berücksichtigen, die für den Einbau des neuen Triebwerks ab dem Zutagetreten des Konstruktionsfehlers erforderlich war.

51 Schließlich ist in Bezug auf diese Gesamtwürdigung noch darauf hinzuweisen, dass grundsätzlich nichts dagegenspricht, dass ein Luftfahrtunternehmen, das über das Vorliegen eines Konstruktionsfehlers des Triebwerks und dessen etwaiges Zutagetreten bei einem der von ihm betriebenen Flugzeuge informiert wird, als vorbeugende Maßnahme eine Ersatzflugzeugflotte mit der entsprechenden Besatzung in Reserve halten muss, wenn diese Maßnahme für das Unternehmen technisch, wirtschaftlich und personell tragbar ist, was zu beurteilen Sache des vorlegenden Gerichts ist.

52 Dagegen ist es ausgeschlossen, zu allen „zumutbaren Maßnahmen“, die von einem Luftfahrtunternehmen erwartet werden können, die von D. in ihren schriftlichen Erklärungen vorgeschlagene Maßnahme zu zählen, nämlich einem Luftfahrtunternehmen vorzuschreiben, sein Flugnetz im Verhältnis zu seiner operativen Kapazität automatisch neu zu dimensionieren. Eine solche Maßnahme kann nämlich im Stadium der Flugplanung bedeuten, dass aufgrund des hypothetischen Zutagetretens eines Konstruktionsfehlers zahlreiche Flüge annulliert oder mit großer Verspätung angesetzt werden, was dem Luftfahrtunternehmen gegebenenfalls Opfer abverlangt, die angesichts seiner Kapazitäten nicht tragbar sind.

53 Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen ist, dass ein Luftfahrtunternehmen im Rahmen „aller zumutbaren Maßnahmen“, die es zu ergreifen hat, um den Eintritt und die Folgen eines „außergewöhnlichen Umstands“ im Sinne dieser Bestimmung, wie etwa die Entdeckung eines versteckten Konstruktionsfehlers des Triebwerks eines seiner Flugzeuge, zu vermeiden, eine vorbeugende Maßnahme ergreifen kann, die darin besteht, eine Flotte von Ersatzflugzeugen in Reserve zu halten, vorausgesetzt, dass diese Maßnahme angesichts der Kapazitäten des Unternehmens zum maßgeblichen Zeitpunkt technisch und wirtschaftlich durchführbar ist.

Kosten

54 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt:

1. Art. 5 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91

ist dahin auszulegen, dass

die Entdeckung eines versteckten Konstruktionsfehlers am Triebwerk eines Flugzeugs, mit dem ein Flug durchgeführt werden soll, unter den Begriff „außergewöhnliche Umstände“ im Sinne dieser Bestimmung fällt, selbst wenn das Luftfahrtunternehmen vom Hersteller des Triebwerks mehrere Monate vor dem betreffenden Flug über das Vorliegen eines derartigen Fehlers informiert wurde.

2. Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004

ist dahin auszulegen, dass

ein Luftfahrtunternehmen im Rahmen „aller zumutbaren Maßnahmen“, die es zu ergreifen hat, um den Eintritt und die Folgen eines „außergewöhnlichen Umstands“ im Sinne dieser Bestimmung, wie etwa die Entdeckung eines versteckten Konstruktionsfehlers des Triebwerks eines seiner Flugzeuge, zu vermeiden, eine vorbeugende Maßnahme ergreifen kann, die darin besteht, eine Flotte von Ersatzflugzeugen in Reserve zu halten, vorausgesetzt, dass diese Maßnahme angesichts der Kapazitäten des Unternehmens zum maßgeblichen Zeitpunkt technisch und wirtschaftlich durchführbar ist.

Unterschriften

Quelle: https://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=261%252F2004&docid=287075&pageIndex=0&doclang=de&mode=req&dir=&occ=first&part=1&cid=8301161#ctx1

EuGH, Urteil v. 16. Mai 2024, C‑405/23

Fehlendes Personal für Gepäckverladung kann außergewöhnlichen Umstand darstellen.

Leitsatz der Kanzlei Woicke

In der Rechtssache C‑405/23

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landgericht Köln (Deutschland) mit Beschluss vom 22. Juni 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 3. Juli 2023, in dem Verfahren

Touristic Aviation Services Ltd

gegen

Flightright GmbH

erlässt

DER GERICHTSHOF (Neunte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin O. Spineanu-Matei, des Richters S. Rodin (Berichterstatter) und der Richterin L. S. Rossi,

Generalanwalt: A. Rantos,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– der Touristic Aviation Services Ltd, vertreten durch Rechtsanwältin S. Hendrix,

– der Flightright GmbH, vertreten durch Rechtsanwälte M. Michel und R. Weist,

– der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und J. M. Hoogveld als Bevollmächtigte,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch G. von Rintelen und N. Yerrell als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (ABl. 2004, L 46, S. 1).

2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Touristic Aviation Services Ltd (im Folgenden: TAS) und der Flightright GmbH über eine Ausgleichszahlung, die Flightright aus abgetretenem Recht der Fluggäste von TAS als ausführendem Luftfahrtunternehmen wegen der großen Verspätung eines Fluges fordert.

Unionsrecht

3 Art. 5 der Verordnung Nr. 261/2004 sieht vor:

„(1) Bei Annullierung eines Fluges werden den betroffenen Fluggästen

c) vom ausführenden Luftfahrtunternehmen ein Anspruch auf Ausgleichsleistungen gemäß Artikel 7 eingeräumt, es sei denn,

i) sie werden über die Annullierung mindestens zwei Wochen vor der planmäßigen Abflugzeit unterrichtet, oder

ii) sie werden über die Annullierung in einem Zeitraum zwischen zwei Wochen und sieben Tagen vor der planmäßigen Abflugzeit unterrichtet und erhalten ein Angebot zur anderweitigen Beförderung, das es ihnen ermöglicht, nicht mehr als zwei Stunden vor der planmäßigen Abflugzeit abzufliegen und ihr Endziel höchstens vier Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit zu erreichen, oder

iii) sie werden über die Annullierung weniger als sieben Tage vor der planmäßigen Abflugzeit unterrichtet und erhalten ein Angebot zur anderweitigen Beförderung, das es ihnen ermöglicht, nicht mehr als eine Stunde vor der planmäßigen Abflugzeit abzufliegen und ihr Endziel höchstens zwei Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit zu erreichen.

(3) Ein ausführendes Luftfahrtunternehmen ist nicht verpflichtet, Ausgleichszahlungen gemäß Artikel 7 zu leisten, wenn es nachweisen kann, dass die Annullierung auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären.

…“

4 Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 bestimmt:

„Wird auf diesen Artikel Bezug genommen, so erhalten die Fluggäste Ausgleichszahlungen in folgender Höhe:

a) 250 EUR bei allen Flügen über eine Entfernung von 1 500 km oder weniger,

b) 400 EUR bei allen innergemeinschaftlichen Flügen über eine Entfernung von mehr als 1 500 km und bei allen anderen Flügen über eine Entfernung zwischen 1 500 km und 3 500 km,

c) 600 EUR bei allen nicht unter Buchstabe a) oder b) fallenden Flügen.

…“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

5 Am 4. Juli 2021 kam es bei einem von TAS ausgeführten Flug vom Flughafen Köln-Bonn (Deutschland) zum Flughafen Kos (Griechenland) (im Folgenden: in Rede stehender Flug) bei der Ankunft zu einer Verspätung von drei Stunden und 49 Minuten.

6 Diese Verspätung war erstens darauf zurückzuführen, dass schon der Vorflug eine Verspätung von einer Stunde und 17 Minuten hatte, weil Check‑In-Personal fehlte, zweitens, dass die Gepäckverladung in das Flugzeug dadurch verzögert wurde, dass auch bei dem für diese Dienstleistung verantwortlichen Flughafenbetreiber Personal fehlte, was zu einer weiteren Verzögerung von zwei Stunden und 13 Minuten führte, und drittens, dass die nach Schließen der Türen eingetretenen Wetterbedingungen den Start noch einmal um 19 Minuten verzögerten.

7 In diesem Zusammenhang erhob Flightright, an die eine Reihe von Fluggästen des in Rede stehenden Fluges ihre Ausgleichsansprüche abgetreten hatten, beim Amtsgericht Köln (Deutschland) Klage auf Verurteilung von TAS, gemäß der Verordnung Nr. 261/2004 800 Euro pro Fluggast zuzüglich Zinsen an sie zu zahlen. Flightright machte vor diesem Gericht geltend, dass die Verspätung des in Rede stehenden Fluges nicht durch außergewöhnliche Umstände im Sinne von Art. 5 Abs. 3 dieser Verordnung gerechtfertigt werden könne.

8 Das Gericht gab der Klage statt, ohne die letztgenannte Frage zu prüfen, da diese Verspätung jedenfalls von TAS zu vermeiden gewesen sei, wenn sie alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen hätte, um ihr zu begegnen. Da TAS selbst geltend gemacht habe, dass sie erst spät Slots für den Vorflug erhalten habe, sei daraus nämlich zu folgern, dass sie gewusst habe, dass der in Rede stehende Flug eine Verspätung von mindestens drei Stunden haben werde. TAS habe jedoch nicht nachgewiesen, dass sie dann alle ihr zur Verfügung stehenden zumutbaren Maßnahmen zur Verhinderung bzw. Reduzierung dieser Verspätung ergriffen habe.

9 TAS legte gegen das Urteil beim Landgericht Düsseldorf (Deutschland), dem vorlegenden Gericht, Berufung ein. Dieses ist der Ansicht, dass das erstinstanzliche Gericht die Frage hätte prüfen müssen, ob der Personalmangel bei dem Betreiber des Flughafens Köln-Bonn, der von TAS als Ursache für die große Verspätung des in Rede stehenden Fluges angeführt worden sei, einen „außergewöhnlichen Umstand“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 darstelle.

10 Bei Bejahung dieser Frage sollte TAS Flightright nämlich keinen Ausgleich leisten müssen, da der ihr zurechenbare Teil der Verspätung des in Rede stehenden Fluges drei Stunden nicht erreiche. Wäre hingegen davon auszugehen, dass die Gepäckverladung unabhängig davon, ob sie vom Flughafenbetreiber durchgeführt werde, Teil der normalen Tätigkeit eines Luftfahrtunternehmens im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs sei, könnte ein Personalmangel bei dem Flughafenbetreiber nicht als „außergewöhnlicher Umstand“ qualifiziert werden. In diesem Fall wäre die Verurteilung von TAS zu bestätigen, da allein die wetterbedingte Verzögerung nach Schließen der Türen um 19 Minuten berücksichtigt werden könnte und eine TAS zurechenbare Verspätung von mehr als drei Stunden verbliebe.

11 Einerseits könnte der Gepäckverladedienst nach Auffassung des vorlegenden Gerichts der normalen Ausübung der Tätigkeit eines Luftfahrtunternehmens im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs zuzuordnen sein, weil er unmittelbar der Erfüllung der den Fluggästen von dem betreffenden Luftfahrtunternehmen geschuldeten Beförderungsleistung diene, unabhängig davon, ob die Erbringung dieser Dienstleistung dem Flughafenbetreiber obliege. Andererseits könnte sich gerade aus dem Umstand, dass diese Dienstleistung vom Flughafenbetreiber und nicht vom Luftfahrtunternehmen selbst oder von einem von ihm bestimmten Dienstleister erbracht werde, ergeben, dass der Mangel an Verladepersonal als für das Luftfahrtunternehmen unbeherrschbare „externe Ursache“ anzusehen wäre, die auf dessen normale Tätigkeit eingewirkt habe, was die Befreiung von seiner Ausgleichspflicht rechtfertigen würde. In Deutschland werde diese Dienstleistung nämlich grundsätzlich von einem Flughafenunternehmen erbracht, auch wenn die Nutzer eines Flughafens nach der deutschen Regelung die Bodenabfertigungsdienste entweder selbst durchführen oder von einem Dienstleister ihrer Wahl durchführen lassen könnten.

12 Unter diesen Umständen hat das Landgericht Köln beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen, dass es sich bei einem Mangel an Personal bei dem Flughafenbetreiber oder einem von dem Flughafenbetreiber beauftragten Unternehmen für die von diesem zu erbringende Gepäckverladung um einen außergewöhnlichen Umstand im Sinne dieser Vorschrift handelt, der von außen unbeherrschbar auf die normale Tätigkeit des diesen Dienst des Flughafenbetreibers/des von diesem beauftragten Unternehmens nutzenden Luftfahrtunternehmens einwirkt, oder ist die Gepäckverladung durch den Flughafenbetreiber/ein von diesem beauftragtes Unternehmen und ein bei diesem bestehender Mangel an Verladepersonal der normalen Ausübung der Tätigkeit dieses Luftfahrtunternehmens zuzurechnen, so dass eine Exkulpation nach Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 nur dann in Betracht kommt, wenn der Grund für den Personalmangel einen außergewöhnlichen Umstand im Sinne dieser Vorschrift darstellt?

Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens

13 Flightright hält das Vorabentscheidungsersuchen für unzulässig, da es eine für die Beantwortung der Vorlagefrage erforderliche Angabe nicht enthalte, nämlich, ob TAS aufgrund ihrer vertraglichen Beziehung Kontrolle über den für die Gepäckverladung in die Flugzeuge verantwortlichen Betreiber des Flughafens Köln-Bonn ausübe.

14 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass es nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs allein Sache des nationalen Gerichts ist, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, anhand der Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der Fragen zu beurteilen, die es dem Gerichtshof vorlegt, wobei für die Fragen eine Vermutung der Entscheidungserheblichkeit gilt. Der Gerichtshof ist folglich grundsätzlich gehalten, über die ihm vorgelegte Frage zu befinden, wenn sie die Auslegung oder die Gültigkeit einer Vorschrift des Unionsrechts betrifft, es sei denn, dass die erbetene Auslegung offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, dass das Problem hypothetischer Natur ist oder dass der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der Frage erforderlich sind (Urteil vom 22. Februar 2024, Unedic, C‑125/23, EU:C:2024:163, Rn. 35).

15 Im vorliegenden Fall gibt das vorlegende Gericht in seinem Vorabentscheidungsersuchen zwar nicht an, ob TAS eine tatsächliche Kontrolle über den Betreiber des Flughafens Köln-Bonn ausübt oder nicht, dies hindert den Gerichtshof jedoch nicht daran, die Vorlagefrage unter Berücksichtigung dieser beiden Möglichkeiten sachdienlich zu beantworten.

16 Folglich ist das Vorabentscheidungsersuchen zulässig.

Zur Vorlagefrage

17 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen ist, dass es sich bei einem Mangel an Personal bei dem für die Gepäckverladung in die Flugzeuge verantwortlichen Flughafenbetreiber um einen „außergewöhnlichen Umstand“ im Sinne dieser Vorschrift handeln kann.

18 Hierzu ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die Art. 5 und 7 der Verordnung Nr. 261/2004 im Licht des Grundsatzes der Gleichbehandlung dahin auszulegen sind, dass die Fluggäste verspäteter Flüge im Hinblick auf die Anwendung des in Art. 7 Abs. 1 dieser Verordnung vorgesehenen Ausgleichsanspruchs den Fluggästen annullierter Flüge gleichgestellt werden können und diesen Ausgleichsanspruch geltend machen können, wenn sie wegen eines verspäteten Fluges einen Zeitverlust von drei Stunden oder mehr erleiden, d. h., wenn sie ihr Endziel nicht früher als drei Stunden nach der von dem Luftfahrtunternehmen ursprünglich geplanten Ankunftszeit erreichen (Urteil vom 25. Januar 2024, Laudamotion und Ryanair, C‑54/23, EU:C:2024:74, Rn. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung).

19 Nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 261/2004 haben die von einem bei der Ankunft am Endziel um drei Stunden oder mehr verspäteten Flug betroffenen Fluggäste demzufolge gegen das ausführende Luftfahrtunternehmen einen Anspruch auf Ausgleichsleistungen gemäß Art. 7 Abs. 1 dieser Verordnung, es sei denn, sie wurden zuvor innerhalb der in Art. 5 Abs. 1 Buchst. c Ziff. i bis iii der Verordnung vorgesehenen Fristen über die Verspätung unterrichtet.

20 Eine solche Verspätung begründet jedoch dann keinen Ausgleichsanspruch der Fluggäste, wenn das ausführende Luftfahrtunternehmen nachweisen kann, dass die große Verspätung auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 ergriffen worden wären (Urteil vom 7. Juli 2022, SATA International – Azores Airlines [Ausfall des Betankungssystems], C‑308/21, EU:C:2022:533, Rn. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung).

21 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs werden als „außergewöhnliche Umstände“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 Vorkommnisse angesehen, die ihrer Natur oder Ursache nach nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betreffenden Luftfahrtunternehmens sind und von ihm nicht tatsächlich beherrschbar sind, wobei diese beiden Bedingungen kumulativ sind und ihr Vorliegen von Fall zu Fall zu beurteilen ist (Urteil vom 11. Mai 2023, TAP Portugal [Tod des Kopiloten], C‑156/22 bis C‑158/22, EU:C:2023:393, Rn. 18 und die dort angeführte Rechtsprechung).

22 Im vorliegenden Fall ist die bei der Ankunft des in Rede stehenden Fluges festgestellte Verspätung von mehr als drei Stunden zwar auf mehrere Gründe zurückzuführen, die Vorlagefrage betrifft jedoch ausschließlich die Verspätung, die mit dem Mangel an Personal verbunden ist, das vom Flughafenbetreiber für die Gepäckverladung eingesetzt wird.

23 Als Erstes hat der Gerichtshof zu der Voraussetzung, dass das in Rede stehende Vorkommnis seiner Natur oder Ursache nach nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betreffenden Luftfahrtunternehmens ist, in Bezug auf das Betanken eines Flugzeugs mit Treibstoff entschieden, dass dieser Vorgang zwar grundsätzlich zur normalen Ausübung der Tätigkeit eines Luftfahrtunternehmens gehört, ein im Rahmen des Betankungsvorgangs aufgetretenes Problem, das auf einem allgemeinen Ausfall des Treibstoffsystems beruhte, das vom Flughafen verwaltet wurde, diese Voraussetzung jedoch erfüllte, da ein solches Vorkommnis nicht als untrennbar mit dem Betrieb des Flugzeugs, das einen verspäteten Flug durchgeführt hat, verbunden angesehen werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. Juli 2022, SATA International – Azores Airlines [Ausfall des Betankungssystems], C‑308/21, EU:C:2022:533, Rn. 22 und 23).

24 Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, in Anbetracht der Umstände des Ausgangsverfahrens zu beurteilen, ob im vorliegenden Fall die bei der Gepäckverladung festgestellten Mängel als allgemeine Mängel im Sinne der in der vorhergehenden Randnummer angeführten Rechtsprechung anzusehen sind. Wäre dies der Fall, könnten solche Mängel daher weder ihrer Natur noch ihrer Ursache nach ein Vorkommnis darstellen, das Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betreffenden Luftfahrtunternehmens ist.

25 Als Zweites ist zu der Voraussetzung, dass das in Rede stehende Vorkommnis von dem betreffenden ausführenden Luftfahrtunternehmen nicht tatsächlich beherrschbar ist, darauf hinzuweisen, dass Vorkommnisse mit „interner“ Ursache von Vorkommnissen zu unterscheiden sind, deren Ursache für das Luftfahrtunternehmen „extern“ ist. Unter diesen Begriff fallen als sogenannte „externe“ Ereignisse, diejenigen Ereignisse, die auf die Tätigkeit eines Luftfahrtunternehmens und auf äußere Umstände zurückzuführen sind, die in der Praxis mehr oder weniger häufig vorkommen, aber von einem Luftfahrtunternehmen nicht beherrschbar sind, weil sie auf ein Naturereignis oder die Handlung eines Dritten, etwa eines anderen Luftfahrtunternehmens oder einer öffentlichen oder privaten Stelle, zurückgehen, die in den Flug- oder den Flughafenbetrieb eingreifen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn das Treibstoffsystem eines Flughafens, das von dessen Betreiber oder einem Dritten verwaltet wird, allgemein ausfällt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. Juli 2022, SATA International – Azores Airlines [Ausfall des Betankungssystems], C‑308/21, EU:C:2022:533, Rn. 25 und 26).

26 Im vorliegenden Fall weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die Gepäckverladung in das Flugzeug von TAS wegen des Mangels an Personal, das vom Betreiber des Flughafens Köln-Bonn für diesen Vorgang eingesetzt werde, verzögert worden sei.

27 Es ist Sache dieses Gerichts, angesichts der Umstände des Ausgangsverfahrens zu beurteilen, ob die bei der Gepäckverladung am Flughafen Köln-Bonn festgestellten Mängel von TAS nicht beherrschbar waren. Dies wäre insbesondere dann nicht der Fall, wenn TAS befugt wäre, eine tatsächliche Kontrolle über den Betreiber dieses Flughafens auszuüben.

28 Sollte das vorlegende Gericht der Auffassung sein, dass die große Verspätung des in Rede stehenden Fluges tatsächlich auf außergewöhnliche Umstände im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 zurückzuführen war, wird es ferner zu beurteilen haben, ob das Luftfahrtunternehmen angesichts sämtlicher Umstände des Ausgangsrechtsstreits sowie der von dem betreffenden Luftfahrtunternehmen vorgelegten Nachweise, nachgewiesen hat, dass sich diese Umstände auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären und dass es gegen dessen Folgen die der Situation angemessenen Vorbeugungsmaßnahmen – ohne angesichts der Kapazitäten seines Unternehmens zum maßgeblichen Zeitpunkt nicht tragbare Opfer – ergriffen hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. Juli 2022, SATA International – Azores Airlines [Ausfall des Betankungssystems], C‑308/21, EU:C:2022:533, Rn. 27).

29 Insoweit wäre z. B. dann davon auszugehen, dass das Luftfahrtunternehmen in der Lage gewesen wäre, die bei der Gepäckverladung festgestellte Verspätung zu verhindern, wenn es ihm möglich gewesen wäre, für diesen Vorgang zu dem Zeitpunkt, zu dem es wusste oder hätte wissen müssen, dass der Flughafenbetreiber nicht über ausreichende Kapazitäten verfügte, um diese Dienstleistungen unverzüglich zu erbringen, die Dienste eines anderen Dienstleisters in Anspruch zu nehmen, der über diese Kapazitäten verfügte.

30 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen ist, dass es sich bei einem Mangel an Personal bei dem für die Gepäckverladung in die Flugzeuge verantwortlichen Flughafenbetreiber um einen „außergewöhnlichen Umstand“ im Sinne dieser Vorschrift handeln kann. Das Luftfahrtunternehmen, dessen Flug aufgrund eines solchen außergewöhnlichen Umstands eine große Verspätung hatte, muss jedoch zur Befreiung von seiner Verpflichtung zu Ausgleichszahlungen an die Fluggäste gemäß Art. 7 der Verordnung Nr. 261/2004 nachweisen, dass sich dieser Umstand auch dann nicht hätte vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären und dass es gegen dessen Folgen die der Situation angemessenen Vorbeugungsmaßnahmen ergriffen hat.

Kosten

31 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Neunte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 5 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91

ist dahin auszulegen, dass

es sich bei einem Mangel an Personal bei dem für die Gepäckverladung in die Flugzeuge verantwortlichen Flughafenbetreiber um einen „außergewöhnlichen Umstand“ im Sinne dieser Vorschrift handeln kann. Das Luftfahrtunternehmen, dessen Flug aufgrund eines solchen außergewöhnlichen Umstands eine große Verspätung hatte, muss jedoch zur Befreiung von seiner Verpflichtung zu Ausgleichszahlungen an die Fluggäste gemäß Art. 7 der Verordnung nachweisen, dass sich dieser Umstand auch dann nicht hätte vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären und dass es gegen dessen Folgen die der Situation angemessenen Vorbeugungsmaßnahmen ergriffen hat.

Spineanu-Matei

Rodin

Rossi

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 16. Mai 2024.

Der Kanzler

Die Kammerpräsidentin

A. Calot Escobar

O. Spineanu-Matei

Quelle:

https://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=261%252F2004&docid=286148&pageIndex=0&doclang=de&mode=req&dir=&occ=first&part=1&cid=7284012#ctx1

EuGH, Urteil v. 21. März 2024, C‑76/23

Einverständnis mit Reisegutschein nur wirksam, wenn Fluggast in lauterer Weise klar und umfassend über Fluggastrechte informiert wurde.

Leitsatz der Kanzlei Woicke

In der Rechtssache C‑76/23

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landgericht Frankfurt am Main (Deutschland) mit Entscheidung vom 2. Januar 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 13. Februar 2023, in dem Verfahren

Cobult UG

gegen

TAP Air Portugal SA

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin K. Jürimäe, des Präsidenten des Gerichtshofs K. Lenaerts in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Dritten Kammer sowie der Richter N. Piçarra, N. Jääskinen und M. Gavalec (Berichterstatter),

Generalanwalt: G. Pitruzzella,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– der französischen Regierung, vertreten durch J.‑L. Carré, B. Herbaut und B. Travard als Bevollmächtigte,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Braun, G. von Rintelen, G. Wilms und N. Yerrell als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 7 Abs. 3 und Art. 8 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (ABl. 2004, L 46, S. 1).

2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Cobult UG als Zessionarin der Rechte eines Fluggasts und der TAP Air Portugal SA, einem Luftfahrtunternehmen, über die Erstattung der Flugscheinkosten dieses Fluggasts, dessen Flug annulliert wurde.

Rechtlicher Rahmen

3 Die Erwägungsgründe 1, 2, 4 und 20 der Verordnung Nr. 261/2004 lauten:

„(1) Die Maßnahmen der Gemeinschaft im Bereich des Luftverkehrs sollten unter anderem darauf abzielen, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen. Ferner sollte den Erfordernissen des Verbraucherschutzes im Allgemeinen in vollem Umfang Rechnung getragen werden.

(2) Nichtbeförderung und Annullierung oder eine große Verspätung von Flügen sind für die Fluggäste ein Ärgernis und verursachen ihnen große Unannehmlichkeiten.

(4) Die Gemeinschaft sollte deshalb die mit der genannten Verordnung festgelegten Schutzstandards erhöhen, um die Fluggastrechte zu stärken und um sicherzustellen, dass die Geschäftstätigkeit von Luftfahrtunternehmen in einem liberalisierten Markt harmonisierten Bedingungen unterliegt.

(20) Die Fluggäste sollten umfassend über ihre Rechte im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen informiert werden, damit sie diese Rechte wirksam wahrnehmen können.“

4 Art. 5 Abs. 1 Buchst. a und c dieser Verordnung sieht vor:

„Bei Annullierung eines Fluges werden den betroffenen Fluggästen

a) vom ausführenden Luftfahrtunternehmen Unterstützungsleistungen gemäß Artikel 8 angeboten,

c) vom ausführenden Luftfahrtunternehmen ein Anspruch auf Ausgleichszahlungen gemäß Artikel 7 eingeräumt …“

5 Art. 7 („Ausgleichsanspruch“) dieser Verordnung bestimmt in den Abs. 1 und 3:

„(1) Wird auf diesen Artikel Bezug genommen, so erhalten die Fluggäste Ausgleichszahlungen …

(3) Die Ausgleichszahlungen nach Absatz 1 erfolgen durch Barzahlung, durch elektronische oder gewöhnliche Überweisung, durch Scheck oder, mit schriftlichem Einverständnis des Fluggasts, in Form von Reisegutscheinen und/oder anderen Dienstleistungen.“

6 Art. 8 („Anspruch auf Erstattung oder anderweitige Beförderung“) der Verordnung sieht in Abs. 1 Buchst. a vor:

„Wird auf diesen Artikel Bezug genommen, so können Fluggäste wählen zwischen

a) – der binnen sieben Tagen zu leistenden vollständigen Erstattung der Flugscheinkosten nach den in Artikel 7 Absatz 3 genannten Modalitäten zu dem Preis, zu dem der Flugschein erworben wurde, für nicht zurückgelegte Reiseabschnitte sowie für bereits zurückgelegte Reiseabschnitte, wenn der Flug im Hinblick auf den ursprünglichen Reiseplan des Fluggastes zwecklos geworden ist …“

Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

7 Ein von einem Fluggast bei TAP Air Portugal als ausführendem Luftfahrtunternehmen für den 1. Juli 2020 zu einem Preis von 1 447,02 Euro gebuchter Flug mit Anschlussflug von Fortaleza (Brasilien) über Lissabon (Portugal) nach Frankfurt am Main (Deutschland) wurde von diesem Unternehmen annulliert.

8 Das Luftfahrtunternehmen hält seit dem 19. Mai 2020 auf der Homepage seiner Website u. a. für von ihm annullierte Flüge ein Verfahren zur Einleitung von Erstattungen bereit. Die Fluggäste haben dabei die Wahl zwischen einer sofortigen Erstattung in Form eines Reisegutscheins, wenn sie ein Online‑Formular ausfüllen, und anderen Formen der Erstattung, beispielsweise durch einen Geldbetrag, die aber voraussetzen, dass die Fluggäste zuvor mit dem „Contact-Center“ des Luftfahrtunternehmens Kontakt aufgenommen haben, damit es den Sachverhalt prüfen kann.

9 Nach den Erstattungsbedingungen, die ausschließlich in englischer Sprache verfügbar sind und denen der Fluggast zustimmen muss, nachdem er die erforderlichen Eingaben (Flugscheinnummer, Nachname, E‑Mail‑Adresse und Telefonnummer) gemacht hat, ist eine Rückerstattung der Flugscheinkosten in Geld ausgeschlossen, wenn der Fluggast die Erstattung in Form eines Reisegutscheins wählt.

10 TAP Air Portugal behauptet, der betreffende Fluggast habe am 4. Juni 2020 die Erstattung durch Ausstellung eines Gutscheins beantragt und per E‑Mail einen Gutschein in Höhe von 1 737,52 Euro – den Kosten des ursprünglichen Flugscheins nebst eines Zuschlags – zugesandt bekommen.

11 Am 30. Juli 2020 trat der Fluggast seine Ansprüche gegen TAP Air Portugal an Cobult ab, die dieses Unternehmen am gleichen Tag aufforderte, den Preis des annullierten Fluges in Geld binnen 14 Tagen zu erstatten.

12 Angesichts der Weigerung von TAP Air Portugal, die begehrte Erstattung vorzunehmen, erhob Cobult Klage beim zuständigen erstinstanzlichen Gericht, die mit der Begründung abgewiesen wurde, dass die vom Fluggast abgetretenen Ansprüche durch die Erstattung in Form eines Reisegutscheins erloschen seien.

13 Cobult legte gegen dieses Urteil beim Landgericht Frankfurt am Main (Deutschland), dem vorlegenden Gericht, Berufung ein.

14 Das vorlegende Gericht hegt Zweifel hinsichtlich der Auslegung von Art. 7 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004, wonach die Erstattung der Flugscheinkosten in Form eines Reisegutscheins nur „mit schriftlichem Einverständnis des Fluggasts“ erfolgen kann. Es fragt insbesondere nach der Tragweite der Wendung „mit schriftlichem Einverständnis des Fluggasts“, um beurteilen zu können, ob die von TAP Air Portugal auf ihrer Website vorgegebenen Erstattungsmodalitäten mit dieser Bestimmung vereinbar sind. Hierzu führt das vorlegende Gericht aus, das Erfordernis eines schriftlichen Einverständnisses des Fluggasts könne nach einem ersten Ansatz als zusätzliches Formerfordernis angesehen werden, mit dem der Fluggast davor gewarnt werden solle, vorschnell und unüberlegt einen Reisegutschein zu wählen, der eine Erstattungsform darstelle, die der Unionsgesetzgeber als für den Fluggast weniger günstig angesehen habe. Unter diesen Umständen stünde Art. 7 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 dem von TAP Air Portugal praktizierten Verfahren zur Erstattung der Flugscheinkosten in Form eines Reisegutscheins entgegen.

15 Nach einem zweiten Ansatz würde das Erfordernis einer schriftlichen Zustimmung des Fluggasts in Form einer Zustimmung auf dem Postweg oder per E‑Mail den Erstattungszeitraum ausdehnen und zugleich den mit der Bearbeitung der Erstattungen verbundenen Verwaltungsaufwand für die Luftfahrtunternehmen erhöhen. Demnach könnte ein mehrstufiges Online-Erstattungsverfahren wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende als den Anforderungen von Art. 7 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 genügend eingestuft werden.

16 Unter diesen Umständen hat das Landgericht Frankfurt am Main beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist Art. 7 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 dahingehend auszulegen, dass ein schriftliches Einverständnis des Fluggasts zur Erstattung der Flugscheinkosten im Sinne des Art. 8 Abs. 1 Buchst. a erster Spiegelstrich dieser Verordnung durch einen Reisegutschein schon dann vorliegt, wenn der Fluggast einen solchen Gutschein auf der Internetseite des ausführenden Luftfahrtunternehmens unter Ausschluss einer nachträglichen Auszahlung der Flugscheinkosten in Geld auswählt und per E‑Mail zugesandt erhält, während eine Erstattung der Flugscheinkosten in Geld nur nach vorheriger Kontaktaufnahme mit dem ausführenden Luftfahrtunternehmen möglich ist?

Zur Vorlagefrage

17 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 7 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 in Verbindung mit ihrem Art. 8 Abs. 1 Buchst. a dahin auszulegen ist, dass im Fall der Annullierung eines Fluges durch das ausführende Luftfahrtunternehmen davon auszugehen ist, dass der Fluggast sein „schriftliches Einverständnis“ mit einer Erstattung der Flugscheinkosten in Form eines Reisegutscheins erteilt hat, wenn er auf der Website des Luftfahrtunternehmens ein Online-Formular ausgefüllt und darin diese Form der Erstattung unter Ausschluss der Auszahlung eines Geldbetrags gewählt hat, wobei die letztgenannte Erstattungsform von der Einhaltung eines Verfahrens abhing, das zusätzliche beim Kundendienst des Luftfahrtunternehmens zu unternehmende Schritte umfasste.

18 Nach Art. 8 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 261/2004 in Verbindung mit ihrem Art. 5 Abs. 1 Buchst. a hat der Fluggast bei Annullierung eines Fluges Anspruch auf eine binnen sieben Tagen zu leistende vollständige Erstattung der Flugscheinkosten nach den in Art. 7 Abs. 3 der Verordnung genannten Modalitäten zu dem Preis, zu dem der Flugschein erworben wurde.

19 Die letztgenannte Bestimmung sieht vor, dass die Erstattung durch Barzahlung, durch elektronische oder gewöhnliche Überweisung, durch Scheck oder, mit schriftlichem Einverständnis des Fluggasts, in Form von Reisegutscheinen und/oder anderen Dienstleistungen erfolgt.

20 Aus Art. 7 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 8 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 261/2004 ergibt sich, dass der Unionsgesetzgeber mit diesen Bestimmungen einen Rahmen für die Modalitäten der Erstattung der Flugscheinkosten bei Annullierung eines Fluges geschaffen hat. Dabei zeigt der Aufbau von Art. 7 Abs. 3 der Verordnung, dass die Erstattung der Flugscheinkosten in erster Linie durch Zahlung eines Geldbetrags zu erfolgen hat. Demgegenüber stellt die Erstattung in Form von Reisegutscheinen eine subsidiäre Erstattungsmodalität dar, die nur mit „schriftlichem Einverständnis des Fluggasts“ zulässig ist.

21 In der Verordnung Nr. 261/2004 wird nicht definiert, was unter dem „schriftliche[n] Einverständnis des Fluggasts“ zu verstehen ist.

22 Hierzu ist zum einen festzustellen, dass unter dem Begriff „Einverständnis“ nach seinem üblichen Sinn eine nach Aufklärung freiwillig erteilte Zustimmung verstanden wird. Im Kontext von Art. 7 Abs. 3 der Verordnung verlangt dieser Begriff daher, dass der Fluggast nach Aufklärung freiwillig zugestimmt hat, die Erstattung seiner Flugscheinkosten in Form eines Reisegutscheins zu erhalten.

23 Zum anderen ist, soweit Art. 7 Abs. 3 der Verordnung ein „schriftliches“ Einverständnis des Fluggasts verlangt, festzustellen, dass die verschiedenen Sprachfassungen dieser Bestimmung voneinander abweichen.

24 Während nämlich in der französischen Sprachfassung dieser Bestimmung („accord signé du passager“) und ihr entsprechend in der bulgarischen („с подписано съгласие на пътника“), spanischen („previo acuerdo firmado por el pasajero“), tschechischen („v případě dohody podepsané cestujícím“), griechischen („εφόσον συμφωνήσει ενυπογράφως ο επιβάτης“), englischen („with the signed agreement of the passenger“), italienischen („previo accordo firmato dal passeggero“), lettischen („saņemot pasažiera parakstītu piekrišanu“), litauischen („keleiviui savo parašu patvirtinus, kad jis su tuo sutinka“), maltesischen („bil-ftehim iffirmat tal-passiġġier“) und finnischen („matkustajan allekirjoitetulla suostumuksella“) Sprachfassung ein vom Fluggast unterzeichnetes Einverständnis verlangt wird, setzt nach ihrer dänischen („med passagerens skriftlige billigelse“), deutschen („mit schriftlichem Einverständnis des Fluggasts“), estnischen („kirjalikul kokkuleppel reisijaga“), kroatischen („uz pisanu suglasnost putnika“), ungarischen („az utas írásos beleegyezése esetén“), niederländischen („met de schriftelijke toestemming van de passagier“), polnischen („za pisemną zgodą pasażera“), portugiesischen („com o acordo escrito do passageiro“), rumänischen („cu acordul scris al pasagerului“), slowakischen („s písomným súhlasom cestujúceho“), slowenischen („s pisnim soglasjem potnika“) und schwedischen („med passagerarens skriftliga samtycke“) Sprachfassung die Erstattung in Form von Reisegutscheinen das schriftliche Einverständnis des Fluggasts voraus.

25 Nach ständiger Rechtsprechung kann die in einer der Sprachfassungen einer Bestimmung des Unionsrechts verwendete Formulierung nicht als alleinige Grundlage für die Auslegung dieser Bestimmung herangezogen werden oder Vorrang vor den anderen Sprachfassungen beanspruchen. Die Bestimmungen des Unionsrechts müssen nämlich im Licht der Fassungen in allen Sprachen der Union einheitlich ausgelegt und angewandt werden. Weichen die verschiedenen Sprachfassungen eines Rechtstexts der Union voneinander ab, ist die fragliche Bestimmung anhand der allgemeinen Systematik und des Zwecks der Regelung auszulegen, zu der sie gehört (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 2. Dezember 2022, Compania Naţională de Transporturi Aeriene Tarom, C‑229/22, EU:C:2022:978, Rn. 21 und die dort angeführte Rechtsprechung).

26 Insoweit ergibt sich zum einen aus den Erwägungsgründen 1, 2 und 4 der Verordnung Nr. 261/2004, dass sie ein hohes Schutzniveau für Fluggäste und Verbraucher sicherstellen soll, indem ihre Rechte in einer Reihe von Situationen, die für sie ein Ärgernis sind und ihnen große Unannehmlichkeiten verursachen, gestärkt werden und ihnen standardisiert und sofort Ersatz geleistet wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. April 2021, Austrian Airlines, C‑826/19, EU:C:2021:318, Rn. 26).

27 Zum anderen folgt aus dem 20. Erwägungsgrund dieser Verordnung, dass Fluggäste, deren Flug annulliert wurde, umfassend über ihre Rechte informiert werden sollten, damit sie diese Rechte wirksam wahrnehmen können.

28 Wie der Gerichtshof unter Verweis auf den 20. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 261/2004 entschieden hat, muss das ausführende Luftfahrtunternehmen den Fluggästen die Informationen liefern, die erforderlich sind, damit sie eine zweckdienliche und informierte Wahl in Bezug auf die Geltendmachung des in Art. 8 Abs. 1 der Verordnung vorgesehenen Anspruchs auf Erstattung treffen können, ohne dass dessen Zuerkennung eine aktive Mitwirkung des Fluggasts erfordert (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. Juli 2019, Rusu, C‑354/18, EU:C:2019:637, Rn. 50 bis 55).

29 In diesem Rahmen ist im Licht des Ziels, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen, und der dem ausführenden Luftfahrtunternehmen obliegenden Informationspflicht davon auszugehen, dass die Wendung „mit schriftlichem Einverständnis des Fluggasts“ in Art. 7 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 erstens voraussetzt, dass der Fluggast in der Lage war, eine zweckdienliche und informierte Wahl zu treffen und somit nach Aufklärung freiwillig der Erstattung seiner Flugscheinkosten in Form eines Reisegutscheins anstelle eines Geldbetrags zuzustimmen.

30 Dabei obliegt es dem Luftfahrtunternehmen, dem Fluggast, dessen Flug annulliert wurde, in lauterer Weise klare und umfassende Informationen über die verschiedenen Erstattungsmodalitäten seiner Flugscheinkosten zu geben, die er nach Art. 7 Abs. 3 der Verordnung hat.

31 Stehen dem Fluggast solche Informationen nicht zur Verfügung, kann hingegen nicht davon ausgegangen werden, dass er in der Lage ist, eine zweckdienliche und informierte Wahl zu treffen und somit nach Aufklärung freiwillig einer Erstattung in Form eines Reisegutscheins zuzustimmen.

32 Daher kann nicht davon ausgegangen werden, dass ein Fluggast sein „Einverständnis“ im Sinne von Art. 7 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 erteilt hat, wenn das ausführende Luftfahrtunternehmen, etwa auf seiner Website, Informationen über die Erstattungsmodalitäten von Flugscheinkosten bereitstellt, die mehrdeutig oder unvollständig oder in einer Sprache abgefasst sind, deren Beherrschung durch den Fluggast bei vernünftiger Betrachtung nicht erwartet werden kann, oder die in unlauterer Weise erteilt werden, etwa wenn die Erstattung der Flugscheinkosten durch einen Geldbetrag einem Verfahren unterliegt, das gegenüber der Erstattung in Form eines Reisegutscheins zusätzliche Schritte umfasst.

33 Eine solche Schlussfolgerung ist umso mehr geboten, als die Hinzufügung solcher zusätzlichen Schritte geeignet ist, die Erlangung einer Erstattung in Form eines Geldbetrags zu erschweren und somit das vom Unionsgesetzgeber vorgesehene, in Rn. 20 des vorliegenden Urteils dargelegte Verhältnis zwischen den beiden Erstattungsmodalitäten umzukehren, im Widerspruch zu dem mit der Verordnung Nr. 261/2004 verfolgten Ziel, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen.

34 Zweitens ist in Bezug auf die Form des Einverständnisses des Fluggasts zu ergänzen, dass, sofern er klare und umfassende Informationen erhalten hat, sein „schriftliche[s] Einverständnis“ im Sinne von Art. 7 Abs. 3 der Verordnung, wie sich im Wesentlichen aus den Erklärungen der französischen Regierung ergibt, insbesondere seine ausdrücklich erklärte, endgültige und eindeutige Annahme einer Erstattung der Flugscheinkosten in Form eines Reisegutscheins umfassen kann, die dadurch erfolgt, dass er ein auf der Website des ausführenden Luftfahrtunternehmens ausgefülltes Formular versendet, ohne dass dieses seine handschriftliche oder digitalisierte Unterschrift enthält.

35 Diese Auslegung von Art. 7 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 wahrt den Ausgleich zwischen den jeweiligen Interessen der Fluggäste und der ausführenden Luftfahrtunternehmen, den der Unionsgesetzgeber durch den Erlass der Verordnung Nr. 261/2004 schaffen wollte (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. November 2009, Sturgeon u. a., C‑402/07 und C‑432/07, EU:C:2009:716, Rn. 67, und vom 23. Oktober 2012, Nelson u. a., C‑581/10 und C‑629/10, EU:C:2012:657, Rn. 39).

36 Würde man ausschließen, dass das „schriftliche Einverständnis des Fluggasts“ mit einer Erstattung der Flugscheinkosten in Form eines Reisegutscheins mittels eines vom Fluggast auf der Website des ausführenden Luftfahrtunternehmens auszufüllenden Formulars erteilt werden kann, erschiene dies nämlich nicht nur überzogen, sondern auch unangemessen, da ein solcher Ausschluss den mit der Bearbeitung der Erstattungen verbundenen Verwaltungsaufwand für das Luftfahrtunternehmen erhöhen würde und geeignet wäre, das Erstattungsverfahren für den Fluggast zu verzögern, was seinen Interessen letztlich zuwiderlaufen könnte.

37 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 7 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 in Verbindung mit ihrem Art. 8 Abs. 1 Buchst. a und im Licht ihres 20. Erwägungsgrundes dahin auszulegen ist, dass im Fall der Annullierung eines Fluges durch das ausführende Luftfahrtunternehmen davon auszugehen ist, dass der Fluggast sein „schriftliches Einverständnis“ mit einer Erstattung der Flugscheinkosten in Form eines Reisegutscheins erteilt hat, wenn er auf der Website des Luftfahrtunternehmens ein Online-Formular ausgefüllt und darin diese Erstattungsmodalität unter Ausschluss der Auszahlung eines Geldbetrags gewählt hat, sofern er in der Lage war, eine zweckdienliche und informierte Wahl zu treffen und somit der Erstattung seiner Flugscheinkosten in Form eines Reisegutscheins anstelle eines Geldbetrags nach Aufklärung zuzustimmen; dies setzt voraus, dass das Luftfahrtunternehmen dem Fluggast in lauterer Weise klare und umfassende Informationen über die verschiedenen ihm zur Verfügung stehenden Erstattungsmodalitäten gegeben hat.

Kosten

38 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 7 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 ist in Verbindung mit ihrem Art. 8 Abs. 1 Buchst. a und im Licht ihres 20. Erwägungsgrundes

dahin auszulegen, dass

im Fall der Annullierung eines Fluges durch das ausführende Luftfahrtunternehmen davon auszugehen ist, dass der Fluggast sein „schriftliches Einverständnis“ mit einer Erstattung der Flugscheinkosten in Form eines Reisegutscheins erteilt hat, wenn er auf der Website des Luftfahrtunternehmens ein Online-Formular ausgefüllt und darin diese Erstattungsmodalität unter Ausschluss der Auszahlung eines Geldbetrags gewählt hat, sofern er in der Lage war, eine zweckdienliche und informierte Wahl zu treffen und somit der Erstattung seiner Flugscheinkosten in Form eines Reisegutscheins anstelle eines Geldbetrags nach Aufklärung zuzustimmen; dies setzt voraus, dass das Luftfahrtunternehmen dem Fluggast in lauterer Weise klare und umfassende Informationen über die verschiedenen ihm zur Verfügung stehenden Erstattungsmodalitäten gegeben hat.

Jürimäe

Leanerts

Piçarra

Jääskinen

Gavalec

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 21. März 2024.

Der Kanzler

Die Kammerpräsidentin

A. Calot Escobar

K. Jürimäe

Quelle:

https://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=261%252F2004&docid=284090&pageIndex=0&doclang=de&mode=req&dir=&occ=first&part=1&cid=7284012#ctx1

EuGH, Urteil v. 29. Februar 2024, C-11/23

Ausgleichsverpflichtung ergibt sich unmittelbar aus der EU-VO 261/2004. Abtretungsverbote von Ansprüchen aus der EU-VO 261/2004 unzulässig.

Leitsätze der Kanzlei Woicke

In der Rechtssache C‑11/23

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Juzgado de lo Mercantil n.º 1 de Palma de Mallorca (Handelsgericht Nr. 1 Palma de Mallorca, Spanien) mit Entscheidung vom 31. Oktober 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 12. Januar 2023, in dem Verfahren

Eventmedia Soluciones SL

gegen

Air Europa Líneas Aéreas SAU

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin K. Jürimäe (Berichterstatterin), des Präsidenten des Gerichtshofs K. Lenaerts in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Dritten Kammer sowie der Richter N. Piçarra, N. Jääskinen und M. Gavalec,

Generalanwalt: M. Szpunar,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– der Eventmedia Soluciones SL, vertreten durch R. M. Jiménez Varela, Procuradora, und A. M. Martínez Cuadros, Abogada,

– der Air Europa Líneas Aéreas SAU, vertreten durch N. de Dorremochea Guiot, Procurador, und E. Olea Ballesteros, Abogado,

– der spanischen Regierung, vertreten durch L. Aguilera Ruiz als Bevollmächtigten,

– der litauischen Regierung, vertreten durch S. Grigonis und V. Kazlauskaitė-Švenčionienė als Bevollmächtigte,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch J. L. Buendía Sierra, N. Ruiz García und G. Wilms als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 5 Abs. 1 Buchst. c und Abs. 3, Art. 7 Abs. 1 und Art. 15 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (ABl. 2004, L 46, S. 1) sowie von Art. 6 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen (ABl. 1993, L 95, S. 29).

2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Eventmedia Soluciones SL (im Folgenden: Eventmedia), der Zessionarin der Forderungen von sechs Fluggästen, und der Air Europa Líneas Aéreas SAU (im Folgenden: Air Europa) wegen einer Ausgleichsleistung aufgrund der Annullierung eines Flugs.

Unionsrecht

Verordnung (EG) Nr. 44/2001

3 Die Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1) sah in Art. 5 Nr. 1 Buchst. a vor:

„Eine Person, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, kann in einem anderen Mitgliedstaat verklagt werden:

  1. a) wenn ein Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag den Gegenstand des Verfahrens bilden, vor dem Gericht des Ortes, an dem die Verpflichtung erfüllt worden ist oder zu erfüllen wäre…“ Verordnung Nr. 261/2004

4 Die Erwägungsgründe 1, 7 und 20 der Verordnung Nr. 261/2004 lauten:

„(1) Die Maßnahmen der Gemeinschaft im Bereich des Luftverkehrs sollten unter anderem darauf abzielen, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen. Ferner sollte den Erfordernissen des Verbraucherschutzes im Allgemeinen in vollem Umfang Rechnung getragen werden.

(7) Damit diese Verordnung wirksam angewandt wird, sollten die durch sie geschaffenen Verpflichtungen dem ausführenden Luftfahrtunternehmen obliegen, das einen Flug durchführt oder durchzuführen beabsichtigt, und zwar unabhängig davon, ob der Flug mit einem eigenen Luftfahrzeug oder mit einem mit oder ohne Besatzung gemieteten Luftfahrzeug oder in sonstiger Form durchgeführt wird.

(20) Die Fluggäste sollten umfassend über ihre Rechte im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen informiert werden, damit sie diese Rechte wirksam wahrnehmen können.“

5 In Art. 1 Abs. 1 Buchst. b dieser Verordnung heißt es:

„Durch diese Verordnung werden unter den in ihr genannten Bedingungen Mindestrechte für Fluggäste in folgenden Fällen festgelegt:

b) Annullierung des Flugs…“

6 Art. 2 Buchst. b dieser Verordnung definiert den Begriff „ausführendes Luftfahrtunternehmen“ als „ein Luftfahrtunternehmen, das im Rahmen eines Vertrags mit einem Fluggast oder im Namen einer anderen – juristischen oder natürlichen – Person, die mit dem betreffenden Fluggast in einer Vertragsbeziehung steht, einen Flug durchführt oder durchzuführen beabsichtigt“.

7 Art. 3 („Anwendungsbereich“) Abs. 5 dieser Verordnung bestimmt:

„Diese Verordnung gilt für alle ausführenden Luftfahrtunternehmen, die Beförderungen für Fluggäste im Sinne der Absätze 1 und 2 erbringen. Erfüllt ein ausführendes Luftfahrtunternehmen, das in keiner Vertragsbeziehung mit dem Fluggast steht, Verpflichtungen im Rahmen dieser Verordnung, so wird davon ausgegangen, dass es im Namen der Person handelt, die in einer Vertragsbeziehung mit dem betreffenden Fluggast steht.“

8 In Art. 5 („Annullierung“) der Verordnung Nr. 261/2004 heißt es:

„(1) Bei Annullierung eines Fluges [wird] den betroffenen Fluggästen

c) vom ausführenden Luftfahrtunternehmen ein Anspruch auf Ausgleichsleistungen gemäß Artikel 7 eingeräumt, es sei denn, … sie werden über die Annullierung … unterrichtet…

(3) Ein ausführendes Luftfahrtunternehmen ist nicht verpflichtet, Ausgleichszahlungen gemäß Artikel 7 zu leisten, wenn es nachweisen kann, dass die Annullierung auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären.

…“

9 Art. 7 („Ausgleichsanspruch“) der Verordnung Nr. 261/2004 bestimmt in Abs. 1 Unterabs. 1:

„Wird auf diesen Artikel Bezug genommen, so erhalten die Fluggäste Ausgleichszahlungen in folgender Höhe:

a) 250 [Euro] bei allen Flügen über eine Entfernung von 1 500 km oder weniger,

b) 400 [Euro] bei allen innergemeinschaftlichen Flügen über eine Entfernung von mehr als 1 500 km und bei allen anderen Flügen über eine Entfernung zwischen 1 500 km und 3 500 km,

c) 600 [Euro] bei allen nicht unter Buchstabe a) oder b) fallenden Flügen.“

10 Art. 15 („Ausschluss der Rechtsbeschränkung“) dieser Verordnung sieht vor:

„(1) Die Verpflichtungen gegenüber Fluggästen gemäß dieser Verordnung dürfen – insbesondere durch abweichende oder restriktive Bestimmungen im Beförderungsvertrag – nicht eingeschränkt oder ausgeschlossen werden.

(2) Wird dennoch eine abweichende oder restriktive Bestimmung bei einem Fluggast angewandt oder wird der Fluggast nicht ordnungsgemäß über seine Rechte unterrichtet und hat er aus diesem Grund einer Ausgleichsleistung zugestimmt, die unter der in dieser Verordnung vorgesehenen Leistung liegt, so ist der Fluggast weiterhin berechtigt, die erforderlichen Schritte bei den zuständigen Gerichten oder Stellen zu unternehmen, um eine zusätzliche Ausgleichsleistung zu erhalten.“

Richtlinie 93/13

11 Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass missbräuchliche Klauseln in Verträgen, die ein Gewerbetreibender mit einem Verbraucher geschlossen hat, für den Verbraucher unverbindlich sind, und legen die Bedingungen hierfür in ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften fest; sie sehen ferner vor, dass der Vertrag für beide Parteien auf derselben Grundlage bindend bleibt, wenn er ohne die missbräuchlichen Klauseln bestehen kann.“

12 Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass im Interesse der Verbraucher und der gewerbetreibenden Wettbewerber angemessene und wirksame Mittel vorhanden sind, damit der Verwendung missbräuchlicher Klauseln durch einen Gewerbetreibenden in den Verträgen, die er mit Verbrauchern schließt, ein Ende gesetzt wird.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

13 Sechs Fluggäste, die von der Annullierung eines für den 24. März 2022 geplanten Flugs vom Flughafen Viru Viru von Santa Cruz (Bolivien) nach Madrid (Spanien) betroffen waren, traten ihre Ausgleichsforderungen gegen Air Europa an Eventmedia, eine Handelsgesellschaft, ab.

14 In der Folge erhob Eventmedia beim Juzgado de lo Mercantil n.º 1 de Palma de Mallorca (Handelsgericht Nr. 1 Palma de Mallorca, Spanien), dem vorlegenden Gericht, gegen Air Europa Klage auf Ausgleichszahlung in Höhe von 600 Euro für jeden dieser Fluggäste auf der Grundlage der Verordnung Nr. 261/2004.

15 Vor diesem Gericht bestreitet Air Europa die Klagebefugnis von Eventmedia. Die Forderungsabtretung sei rechtlich nicht wirksam, da sie gegen das in Art. 15 Abs. 1 ihrer Allgemeinen Beförderungsbedingungen vorgesehene Verbot der Übertragung von Passagierrechten (im Folgenden: in Rede stehende Klausel) verstoße. In dieser Klausel heißt es: „Die Haftung von Air Europa und die eines jeden Flugunternehmens gemäß Artikel 1 richtet sich nach den Beförderungsbedingungen des das Ticket ausstellenden Flugunternehmens, sofern nichts anderes bestimmt ist. Die Rechte, die dem Passagier entsprechen, sind persönlich und eine Übertragung wird nicht erlaubt.“

16 Das vorlegende Gericht erläutert, dass ein Fluggast nach spanischem Recht seinen in der Verordnung Nr. 261/2004 vorgesehenen Ausgleichsanspruch gegen das ausführende Luftfahrtunternehmen in einem sogenannten „vereinfachten“ Verfahren gerichtlich geltend machen könne, ohne sich durch einen Rechtsanwalt vertreten lassen zu müssen. In der Praxis machten Fluggäste aufgrund der von den meisten Luftfahrtunternehmen aufgebrachten Gegenwehr und der Komplexität der Verfahrensvorschriften selten von dieser Möglichkeit Gebrauch. Außerdem könne ein Fluggast einem Rechtsanwalt eine Prozessvollmacht erteilen, damit dieser in seinem Namen und für seine Rechnung vor Gericht auftrete.

17 Schließlich könne ein Fluggast nach spanischem Recht seine Forderung gegen das Luftfahrtunternehmen u. a. an eine Stelle abtreten, die auf Anträge nach der Verordnung Nr. 261/2004 spezialisiert sei. In einem solchen Fall trete diese Stelle im eigenen Namen und für eigene Rechnung unter Wahrnehmung ihres Interesses als Zessionarin in das Verfahren ein.

18 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass die in Rede stehende Klausel diese Möglichkeit für Fluggäste, ihre Rechte abzutreten, einschränke. Es fragt daher, ob eine solche Klausel mit dem Unionsrecht vereinbar ist.

19 Zunächst hält es das vorlegende Gericht für erforderlich, festzustellen, ob eine Klausel in den Allgemeinen Beförderungsbedingungen, die die Abtretung der dem Fluggast zustehenden Ansprüche verbietet, eine unter Art. 15 der Verordnung Nr. 261/2004 fallende Einschränkung der Verpflichtungen gegenüber Fluggästen darstellt. Wäre dies der Fall, wäre die in Rede stehende Klausel kraft Gesetzes nichtig, da sie gegen eine zwingende oder prohibitive Vorschrift im Sinne des spanischen Rechts verstieße.

20 Sodann sei es vor dem Hintergrund unterschiedlicher Ansätze der spanischen Gerichte wesentlich, die Natur des in Art. 5 und Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 vorgesehenen Ausgleichsanspruchs zu bestimmen. Insoweit könnten die Urteile vom 7. März 2018, flightright u. a. (C‑274/16, C‑447/16 und C‑448/16, EU:C:2018:160, Rn. 63), und vom 26. März 2020, Primera Air Scandinavia (C‑215/18, EU:C:2020:235, Rn. 49), darauf hindeuten, dass es sich um ein vertragliches Recht handele. Dagegen spreche der Umstand, dass Art. 5 der Verordnung Nr. 261/2004 im Licht des siebten Erwägungsgrundes und von Art. 2 Buchst. b dieser Verordnung das ausführende Luftfahrtunternehmen auch dann haftbar mache, wenn es in keiner Vertragsbeziehung mit dem Fluggast stehe, dafür, dass der Fluggast seinen Ausgleichsanspruch unmittelbar aus dieser Verordnung ableite.

21 Hilfsweise, für den Fall, dass Art. 15 der Verordnung Nr. 261/2004 einer Klausel, die die Abtretung der Ansprüche des Fluggasts verbietet, nicht entgegensteht, oder für den Fall, dass der in dieser Verordnung vorgesehene Ausgleichsanspruch eine vertragliche Grundlage hat, fragt das vorlegende Gericht schließlich, wie die Richtlinie 93/13 auszulegen sei. Es fragt insoweit, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen es in einem Rechtsstreit zwischen zwei Gewerbetreibenden von Amts wegen die Missbräuchlichkeit einer Klausel feststellen könne, die in einem Vertrag enthalten sei, der zwischen einem dieser Gewerbetreibenden und einem Verbraucher geschlossen worden sei, der seine Rechte an den anderen Gewerbetreibenden abgetreten habe.

22 Unter diesen Umständen hat der Juzgado de lo Mercantil n.º 1 de Palma de Mallorca (Handelsgericht Nr. 1 Palma de Mallorca) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

  1. Kann die Einbeziehung einer Klausel wie der in Rede stehenden in einen Luftbeförderungsvertrag als gemäß Art. 15 der Verordnung Nr. 261/2004 ausgeschlossene Rechtsbeschränkung angesehen werden, weil sie die Verpflichtungen des Luftfahrtunternehmens einschränkt, indem sie für Fluggäste die Möglichkeit beschränkt, sich ihren Ausgleichsanspruch bei Annullierung eines Flugs durch Abtretung der Forderung erfüllen zu lassen?
  2. Ist Art. 7 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 5 Abs. 1 Buchst. c und Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen, dass es sich bei der Zahlung der zulasten des ausführenden Luftfahrtunternehmens vorgesehenen Ausgleichsleistungen wegen Annullierung eines Flugs unabhängig davon, ob ein Beförderungsvertrag mit dem Fluggast besteht und das Luftfahrtunternehmen seine Vertragspflichten schuldhaft verletzt hat, um eine durch diese Verordnung auferlegte Verpflichtung handelt?
  3. Sind, hilfsweise, für den Fall, dass die genannte Klausel keine gemäß Art. 15 der Verordnung Nr. 261/2004 ausgeschlossene Rechtsbeschränkung darstellt oder der Ausgleichsanspruch vertraglicher Natur ist, Art. 6 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 dahin auszulegen, dass das nationale Gericht, das über eine Klage auf Erfüllung des in Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 vorgesehenen Anspruchs auf Ausgleichsleistungen wegen Annullierung eines Flugs zu entscheiden hat, von Amts wegen die etwaige Missbräuchlichkeit einer Klausel des Beförderungsvertrag zu prüfen hat, mit der dem Fluggast die Abtretung seiner Rechte untersagt wird, wenn die Klage vom Zessionar erhoben wird, bei dem es sich im Gegensatz zum Zedenten nicht um einen Verbraucher und Dienstleistungsnehmer handelt?
  4. Falls die Prüfung von Amts wegen durchzuführen ist, kann die Verpflichtung zur Unterrichtung des Verbrauchers und zur Feststellung, ob er die Missbräuchlichkeit der Klausel geltend macht oder der Klausel zustimmt, unter Berücksichtigung der konkludenten Handlung entfallen, dass er seinen Anspruch unter Verstoß gegen die möglicherweise missbräuchliche Klausel, mit der die Abtretung der Forderung untersagt wird, übertragen hat? Zu den Vorlagefragen Zur zweiten Frage

23 Mit seiner zweiten Frage, die zuerst zu prüfen ist, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 5 Abs. 1 Buchst. c und Abs. 3 sowie Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen sind, dass sich im Fall der Annullierung eines Flugs der Anspruch der Fluggäste gegen das ausführende Luftfahrtunternehmen auf die in diesen Bestimmungen vorgesehene Ausgleichsleistung und die entsprechende Verpflichtung des ausführenden Luftfahrtunternehmens zu deren Zahlung aus dieser Verordnung ergeben, oder dahin, dass dieser Anspruch und diese Verpflichtung ihre Grundlage in einem gegebenenfalls zwischen dem betreffenden Luftfahrtunternehmen und dem betreffenden Fluggast geschlossenen Vertrag oder sogar in der schuldhaften Nichterfüllung eines solchen Vertrags durch das Luftfahrtunternehmen finden.

24 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind bei der Auslegung einer Bestimmung des Unionsrechts nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Kontext und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (Urteile vom 11. Mai 2017, Krijgsman, C‑302/16, EU:C:2017:359, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 29. September 2022, LOT (Von einer Verwaltungsbehörde auferlegter Ausgleich), C‑597/20, EU:C:2022:735, Rn. 21).

25 Nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 261/2004 wird bei Annullierung eines Flugs den betroffenen Fluggästen „vom ausführenden Luftfahrtunternehmen ein Anspruch auf Ausgleichsleistungen“ gemäß Art. 7 der Verordnung „eingeräumt“, es sei denn, sie werden über die Annullierung in der in Art. 5 Abs. 1 Buchst. c vorgesehenen Weise unterrichtet (Urteil vom 21. Dezember 2021, Airhelp, C‑263/20, EU:C:2021:1039, Rn. 49). Abs. 3 dieses Artikels legt die Voraussetzungen fest, unter denen das ausführende Luftfahrtunternehmen von der Leistung von Ausgleichszahlungen befreit ist, wenn die Annullierung auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Dezember 2008, Wallentin-Hermann, C‑549/07, EU:C:2008:771, Rn. 20).

26 In Art. 7 Abs. 1 der Verordnung ist die Höhe der Ausgleichszahlung, auf die ein Fluggast Anspruch hat, wenn in der Verordnung auf diese Bestimmung Bezug genommen wird, pauschal festgelegt.

27 In Anbetracht des Wortlauts dieser Bestimmungen und nach Maßgabe der Rechtsprechung des Gerichtshofs gehört das Recht auf eine standardisierte und pauschal berechnete Ausgleichszahlung zulasten des ausführenden Luftfahrtunternehmens zu den wesentlichen Rechten, die den Fluggästen durch die Verordnung Nr. 261/2004 verliehen wurden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. März 2020, Primera Air Scandinavia, C‑215/18, EU:C:2020:235, Rn. 37).

28 Daraus folgt, dass sich im Fall der Annullierung eines Flugs der Ausgleichsanspruch der Fluggäste nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 261/2004 und die entsprechende Verpflichtung des ausführenden Luftfahrtunternehmens, die in Art. 7 Abs. 1 dieser Verordnung vorgesehene Ausgleichszahlung zu leisten, unmittelbar aus der Verordnung ergeben. Es kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass dieser Anspruch und diese Verpflichtung ihre Grundlage in einem Vertrag haben, der gegebenenfalls zwischen dem betreffenden Fluggast und dem betreffenden ausführenden Luftfahrtunternehmen geschlossen wurde, und erst recht nicht in der schuldhaften Nichterfüllung eines solchen Vertrags durch das Luftfahrtunternehmen.

29 Diese Auslegung wird durch den Kontext von Art. 5 Abs. 1 Buchst. c und Abs. 3 sowie von Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 und auch durch das Ziel dieser Verordnung bestätigt.

30 Was erstens den fraglichen Kontext betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass durch die Verordnung Nr. 261/2004, wie es in ihrem Art. 1 Abs. 1 Buchst. b heißt, Mindestrechte für Fluggäste bei Annullierung ihres Flugs unter den in dieser Verordnung genannten Bedingungen „festgelegt“ werden.

31 Ferner ergibt sich aus Art. 2 Buchst. b in Verbindung mit Art. 3 Abs. 5 der Verordnung Nr. 261/2004, dass sich der Fluggast eines annullierten oder verspäteten Flugs gegenüber dem ausführenden Luftfahrtunternehmen auf diese Verordnung berufen kann, selbst wenn zwischen dem Fluggast und dem Luftfahrtunternehmen kein Vertrag geschlossen wurde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. März 2020, Primera Air Scandinavia, C‑215/18, EU:C:2020:235, Rn. 27 bis 29).

32 Diese Bestimmungen stützen somit die Auslegung, wonach sich der Anspruch der Fluggäste auf Ausgleichsleistungen nach den Art. 5 und 7 der Verordnung Nr. 261/2004 im Fall der Annullierung ihres Flugs unmittelbar aus dieser Verordnung ergibt.

33 Was zweitens das Ziel der Verordnung Nr. 261/2004 betrifft, so besteht dieses, wie aus deren erstem Erwägungsgrund hervorgeht, darin, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen, so dass die ihnen zuerkannten Rechte weit auszulegen sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 4. Oktober 2012, Rodríguez Cachafeiro und Martínez-Reboredo Varela-Villamor, C‑321/11, EU:C:2012:609, Rn. 25, sowie vom 30. April 2020, Blue Air – Airline Management Solutions, C‑584/18, EU:C:2020:324, Rn. 93).

34 Die in Rn. 28 des vorliegenden Urteils dargelegte Auslegung von Art. 5 Abs. 1 Buchst. c in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 steht mit diesem Ziel in Einklang, da durch sie sichergestellt wird, dass jeder von einer Flugannullierung betroffene Fluggast unter den in diesen Bestimmungen vorgesehenen Voraussetzungen unabhängig davon einen Ausgleichsanspruch hat, ob er mit dem ausführenden Luftfahrtunternehmen einen Beförderungsvertrag geschlossen hat oder nicht.

35 Diese Auslegung ist im Übrigen keineswegs unvereinbar mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs, wonach Klagen im Zusammenhang mit dem Ausgleichsanspruch nach der Verordnung Nr. 261/2004 einen „Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag“ im Sinne von Art. 5 Nr. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 betreffen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 7. März 2018, flightright u. a., C‑274/16, C‑447/16 und C‑448/16, EU:C:2018:160, Rn. 63 bis 65, sowie vom 26. März 2020, Primera Air Scandinavia, C‑215/18, EU:C:2020:235, Rn. 49). Mit dieser Rechtsprechung zur gerichtlichen Zuständigkeit in Zivil- und Handelssachen wollte der Gerichtshof nämlich eine einheitliche Anwendung des Begriffs „Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag“ im Sinne dieser Bestimmung sicherstellen, indem er entschieden hat, dass es für die Anwendung dieses Begriffs unerheblich ist, wenn der Beförderungsvertrag vom Fluggast nicht unmittelbar mit dem betreffenden ausführenden Luftfahrtunternehmen, sondern mit einem anderen Dienstleistungsträger, z. B. einem Reisebüro, geschlossen wurde. Wie die spanische Regierung und die Europäische Kommission geltend gemacht haben, soll diese Rechtsprechung nicht der Frage vorgreifen, was die eigentliche Grundlage des in der Verordnung Nr. 261/2004 vorgesehenen Ausgleichsanspruchs ist.

36 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass eine Klage, deren Ausgangspunkt in einem Vertrag liegt, auf die Geltendmachung eines Anspruchs gerichtet sein kann, der auf den Bestimmungen des betreffenden Vertrags als solchen oder auf Rechtsvorschriften beruht, die aufgrund dieses Vertrags anwendbar sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. November 2020, Wikingerhof, C‑59/19, EU:C:2020:950, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung). In einem Fall, wie er im Ausgangsverfahren vorliegt, hat die auf Ausgleichszahlung gerichtete Klage des Fluggasts bzw. eines Unternehmens, an das der Fluggast seine Ausgleichsforderung abgetreten hat, gegen das ausführende Luftfahrtunternehmen ihren Ausgangspunkt zwar notwendigerweise in einem Vertrag, sei es mit diesem Luftfahrtunternehmen oder mit einem anderen Dienstleister (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. März 2020, Primera Air Scandinavia, C‑215/18, EU:C:2020:235, Rn. 50 bis 52); jedoch ergibt sich der Ausgleichsanspruch, den dieser Fluggast bzw. dieses Unternehmen als Zessionar im Rahmen der Klage insbesondere im Fall der Annullierung eines Flugs geltend machen kann, selbst unmittelbar aus Art. 5 Abs. 1 Buchst. c in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004, wie aus den Rn. 28 und 32 des vorliegenden Urteils hervorgeht.

37 Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 5 Abs. 1 Buchst. c und Abs. 3 sowie Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen sind, dass sich im Fall der Annullierung eines Flugs der Anspruch der Fluggäste gegen das ausführende Luftfahrtunternehmen auf die in diesen Bestimmungen vorgesehene Ausgleichsleistung und die entsprechende Verpflichtung des ausführenden Luftfahrtunternehmens zu deren Zahlung unmittelbar aus dieser Verordnung ergeben.

Zur ersten Frage

38 Mit seiner ersten Frage, die an zweiter Stelle zu prüfen ist, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 15 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen ist, dass er der Einbeziehung einer Klausel in einen Beförderungsvertrag entgegensteht, die die Abtretung von Ansprüchen verbietet, die dem Fluggast gegenüber dem ausführenden Luftfahrtunternehmen nach den Bestimmungen dieser Verordnung zustehen.

39 Art. 15 („Ausschluss der Rechtsbeschränkung“) Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 bestimmt, dass die Verpflichtungen der Luftfahrtunternehmen gegenüber Fluggästen gemäß dieser Verordnung – insbesondere durch abweichende oder restriktive Bestimmungen im Beförderungsvertrag – nicht eingeschränkt oder ausgeschlossen werden dürfen.

40 Nach Maßgabe dieser Bestimmung und unter Berücksichtigung der Antwort auf die zweite Frage kann die Verpflichtung des ausführenden Luftfahrtunternehmens, im Fall der Annullierung eines Flugs die in Art. 7 Abs. 1 dieser Verordnung vorgesehene Ausgleichszahlung zu leisten, somit nicht vertraglich eingeschränkt oder ausgeschlossen werden.

41 Insoweit ist ergänzend darauf hinzuweisen, dass angesichts des u. a. Art. 15 der Verordnung Nr. 261/2004 zugrunde liegenden Ziels eines hohen Schutzniveaus für Fluggäste und der nach der in Rn. 33 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung gebotenen weiten Auslegung der Rechte der Fluggäste auch dieser Art. 15 weit auszulegen ist, soweit er den Ausschluss von Beschränkungen dieser Rechte festlegt (vgl. entsprechend Urteil vom 30. April 2020, Blue Air – Airline Management Solutions, C‑584/18, EU:C:2020:324, Rn. 102).

42 Angesichts der Verwendung des Wortes „insbesondere“ in dieser Bestimmung und in Anbetracht dieses Ziels müssen daher nicht nur Rechtsbeschränkungen als unzulässig angesehen werden, die in einem Beförderungsvertrag – einem vom Fluggast geschlossenen gegenseitigen Vertrag – enthalten sind, sondern erst recht auch solche, die in sonstigen – einseitig vom ausführenden Luftfahrtunternehmen verfassten – Dokumenten enthalten sind, auf die sich dieses gegenüber den betreffenden Fluggästen berufen möchte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 30. April 2020, Blue Air – Airline Management Solutions, C‑584/18, EU:C:2020:324, Rn. 102). Diese Bestimmung ist mithin auch auf Rechtsbeschränkungen anwendbar, die in Allgemeinen Beförderungsbedingungen enthalten sind.

43 Außerdem sind im Hinblick auf dieses Ziel und zur Gewährleistung der Wirksamkeit des Ausgleichsanspruchs der Fluggäste nicht nur solche Abweichungen oder Beschränkungen als unzulässig im Sinne von Art. 15 der Verordnung Nr. 261/2004 anzusehen, die sich unmittelbar auf diesen Anspruch als solchen beziehen, sondern auch solche, die zum Nachteil der Fluggäste die Modalitäten der Geltendmachung dieses Anspruchs im Verhältnis zu den anwendbaren Rechtsvorschriften beschränken.

44 Um ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen und sie in die Lage zu versetzen, ihre Rechte im Einklang mit dem im 20. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 261/2004 genannten Ziel wirksam wahrzunehmen, ist dem von einer Flugannullierung betroffenen Fluggast nämlich die Freiheit zu lassen, die wirksamste Art und Weise der Geltendmachung seines Anspruchs zu wählen, indem ihm insbesondere die Entscheidung überlassen wird, ob er sich unmittelbar an das ausführende Luftfahrtunternehmen wendet, die zuständigen Gerichte anruft oder – wenn dies im einschlägigen nationalen Recht vorgesehen ist – seine Forderung an einen Dritten abtritt, um Schwierigkeiten und Kosten zu vermeiden, die ihn davon abhalten könnten, für einen begrenzten Streitwert persönlich gegen das Luftfahrtunternehmen vorzugehen.

45 Daraus folgt, dass eine Klausel in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen des Beförderungsvertrags, die die Abtretung der Ansprüche des Fluggasts gegen das ausführende Luftfahrtunternehmen verbietet, eine ausgeschlossene Rechtsbeschränkung im Sinne von Art. 15 der Verordnung Nr. 261/2004 darstellt.

46 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 15 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen ist, dass er der Einbeziehung einer Klausel in einen Beförderungsvertrag entgegensteht, die die Abtretung von Ansprüchen verbietet, die dem Fluggast gegenüber dem ausführenden Luftfahrtunternehmen nach den Bestimmungen dieser Verordnung zustehen.

Zur dritten und zur vierten Frage

47 In Anbetracht der Antworten auf die ersten beiden Fragen sind die dritte und die vierte Frage nicht zu beantworten.

Kosten

48 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

  1. Art. 5 Abs. 1 Buchst. c und Abs. 3 sowie Art. 7 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91

sind dahin auszulegen, dass

sich im Fall der Annullierung eines Flugs der Anspruch der Fluggäste gegen das ausführende Luftfahrtunternehmen auf die in diesen Bestimmungen vorgesehene Ausgleichsleistung und die entsprechende Verpflichtung des ausführenden Luftfahrtunternehmens zu deren Zahlung unmittelbar aus dieser Verordnung ergeben.

  1. Art. 15 der Verordnung Nr. 261/2004

ist dahin auszulegen, dass

er der Einbeziehung einer Klausel in einen Beförderungsvertrag entgegensteht, die die Abtretung von Ansprüchen verbietet, die dem Fluggast gegenüber dem ausführenden Luftfahrtunternehmen nach den Bestimmungen dieser Verordnung zustehen.

Unterschriften

Quelle:

https://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=261%252F2004&docid=283292&pageIndex=0&doclang=de&mode=req&dir=&occ=first&part=1&cid=7284012#ctx1

EuGH, Urteil v. 25. Januar 2024, C‑54/23

Erleidet der Fluggast trotz der großen Verspätung seines Fluges nur einen kleinen Zeitverlust an seinem Endziel, weil er sich selbst einen Ersatzflug bucht, hat er keinen Ausgleichsanspruch.

Leitsatz der Kanzlei Woicke.

In der Rechtssache C‑54/23

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesgerichtshof (Deutschland) mit Entscheidung vom 10. Januar 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 3. Februar 2023, in dem Verfahren

WY

gegen

Laudamotion GmbH,

Ryanair DAC

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin K. Jürimäe, des Präsidenten des Gerichtshofs K. Lenaerts in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Dritten Kammer sowie der Richter N. Piçarra, N. Jääskinen und M. Gavalec (Berichterstatter),

Generalanwältin: L. Medina,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– der Laudamotion GmbH, vertreten durch W. Nassall, Rechtsanwalt,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Braun, G. von Rintelen, G. Wilms und N. Yerrell als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 3 und 5 bis 7 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (ABl. 2004, L 46, S. 1).

2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen WY, einem Fluggast, auf der einen Seite und Laudamotion GmbH und Ryanair DAC auf der anderen Seite wegen der Weigerung dieser beiden Luftfahrtunternehmen, diesem Fluggast wegen der verspäteten Ankunft eines Fluges, für den er über eine bestätigte Buchung verfügte, einen Ausgleich zu leisten.

Rechtlicher Rahmen

3 Der zweite Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 261/2004 lautet:

„Nichtbeförderung und Annullierung oder eine große Verspätung von Flügen sind für die Fluggäste ein Ärgernis und verursachen ihnen große Unannehmlichkeiten.“

4 Art. 3 („Anwendungsbereich“) Abs. 1 und 2 dieser Verordnung bestimmt:

„(1) Diese Verordnung gilt

a) für Fluggäste, die auf Flughäfen im Gebiet eines Mitgliedstaats, das den Bestimmungen des Vertrags unterliegt, einen Flug antreten;

(2) Absatz 1 gilt unter der Bedingung, dass die Fluggäste

a) über eine bestätigte Buchung für den betreffenden Flug verfügen und – außer im Fall einer Annullierung gemäß Artikel 5 – sich

– wie vorgegeben und zu der zuvor schriftlich (einschließlich auf elektronischem Wege) von dem Luftfahrtunternehmen, dem Reiseunternehmen oder einem zugelassenen Reisevermittler angegebenen Zeit zur Abfertigung einfinden

oder, falls keine Zeit angegeben wurde,

– spätestens 45 Minuten vor der veröffentlichten Abflugzeit zur Abfertigung einfinden …

…“

5 Art. 5 („Annullierung“) Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 sieht vor:

„Bei Annullierung eines Fluges werden den betroffenen Fluggästen

a) vom ausführenden Luftfahrtunternehmen Unterstützungsleistungen gemäß Artikel 8 angeboten,

c) vom ausführenden Luftfahrtunternehmen ein Anspruch auf Ausgleichsleistungen gemäß Artikel 7 eingeräumt, es sei denn,

iii) sie werden über die Annullierung weniger als sieben Tage vor der planmäßigen Abflugzeit unterrichtet und erhalten ein Angebot zur anderweitigen Beförderung, das es ihnen ermöglicht, nicht mehr als eine Stunde vor der planmäßigen Abflugzeit abzufliegen und ihr Endziel höchstens zwei Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit zu erreichen.“

6 Art. 6 („Verspätung“) Abs. 1 dieser Verordnung lautet:

„Ist für ein ausführendes Luftfahrtunternehmen nach vernünftigem Ermessen absehbar, dass sich der Abflug

a) bei allen Flügen über eine Entfernung von 1 500 km oder weniger um zwei Stunden oder mehr oder

b) bei allen innergemeinschaftlichen Flügen über eine Entfernung von mehr als 1 500 km und bei allen anderen Flügen über eine Entfernung zwischen 1 500 km und 3 500 km um drei Stunden oder mehr oder

c) bei allen nicht unter Buchstabe a) oder b) fallenden Flügen um vier Stunden oder mehr

gegenüber der planmäßigen Abflugzeit verzögert, so werden den Fluggästen vom ausführenden Luftfahrtunternehmen

i) die Unterstützungsleistungen gemäß Artikel 9 Absatz 1 Buchstabe a) und Absatz 2 angeboten,

ii) wenn die nach vernünftigem Ermessen zu erwartende Abflugzeit erst am Tag nach der zuvor angekündigten Abflugzeit liegt, die Unterstützungsleistungen gemäß Artikel 9 Absatz 1 Buchstaben b) und c) angeboten und,

iii) wenn die Verspätung mindestens fünf Stunden beträgt, die Unterstützungsleistungen gemäß Artikel 8 Absatz 1 Buchstabe a) angeboten.“

7 Art. 7 („Ausgleichsanspruch“) Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 bestimmt:

„Wird auf diesen Artikel Bezug genommen, so erhalten die Fluggäste Ausgleichszahlungen in folgender Höhe:

a) 250 EUR bei allen Flügen über eine Entfernung von 1 500 km oder weniger,

…“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

8 WY buchte bei Ryanair für den 31. Oktober 2019 einen Flug von Düsseldorf (Deutschland) nach Palma de Mallorca (Spanien) und zurück. Nachdem dieser Fluggast von Laudamotion, dem ausführenden Luftfahrtunternehmen, darüber informiert worden war, dass sich der Hinflug (im Folgenden: ursprünglicher Flug) um sechs Stunden verspäten werde, buchte er selbst einen Ersatzflug, um einen Geschäftstermin wahrzunehmen, der in Palma de Mallorca stattfinden sollte. Dank dieses Ersatzflugs erreichte er sein Ziel schließlich mit einer Verspätung von weniger als drei Stunden gegenüber der planmäßigen Ankunftszeit des ursprünglichen Fluges. Der Fluggast, der behauptet, sich rechtzeitig zur Abfertigung für den ursprünglichen Flug eingefunden zu haben, verlangte von Laudamotion u. a. eine Ausgleichszahlung in Höhe von 250 Euro nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. c und Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004. Außerdem nahm er Ryanair auf Auskunft über die Höhe nicht verbrauchter Steuern und deren Zahlung in Anspruch.

9 Mit seiner Klage gegen Laudamotion hatte WY weder in erster Instanz noch in der Berufungsinstanz Erfolg. Das Berufungsgericht war der Ansicht, dass Laudamotion, obwohl der ursprüngliche Flug eine Ankunftsverspätung von mehr als drei Stunden gehabt habe, nicht verpflichtet gewesen sei, die geforderte Ausgleichszahlung zu leisten, da WY diesen Flug nicht angetreten und das Endziel mit weniger als drei Stunden Verspätung erreicht habe. Dabei sei unerheblich, dass der Fluggast den Ersatzflug selbst gebucht habe. Somit sei WY nicht schlechter gestellt, als wenn er den ursprünglichen Flug genutzt hätte. Allerdings habe er nach deutschem Zivilrecht Anspruch auf Ersatz der Kosten des von ihm selbst gebuchten Ersatzflugs.

10 WY legte Revision beim Bundesgerichtshof (Deutschland) ein, der das vorlegende Gericht ist. Dieses Gericht ist der Ansicht, dass die Entscheidung über die Revision von der Auslegung von Art. 3 Abs. 2 Buchst. a, Art. 5 Abs. 1 Buchst. c und Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 abhänge.

11 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergebe, dass die in den letzteren beiden Bestimmungen vorgesehenen Ausgleichsleistungen einem Fluggast zustünden, der bei der Ankunft an seinem Endziel einen Zeitverlust von drei Stunden oder mehr erleide. Folglich sollten diese Ausgleichsleistungen nicht an einen Fluggast gezahlt werden, bei dessen Flug eine große Verspätung drohe und der deshalb selbst einen Ersatzflug buche, der es ihm ermögliche, das Endziel mit einer Verspätung von weniger als drei Stunden gegenüber der planmäßigen Ankunftszeit des ersten Fluges zu erreichen.

12 Aus dem Beschluss vom 24. Oktober 2019, easyJet Airline (C‑756/18, EU:C:2019:902, Rn. 33 ff.), lasse sich ableiten, dass ein Anspruch auf Ausgleichleistung wegen großer Verspätung eines Fluges grundsätzlich nur solchen Fluggästen zustehe, die den betroffenen Flug genutzt haben und tatsächlich mit einer Verspätung von mindestens drei Stunden an ihrem Endziel angekommen seien. Dass das Luftfahrtunternehmen, wie im vorliegenden Fall, es pflichtwidrig versäumt habe, einen Ersatzflug anzubieten, der es den Fluggästen ermöglicht hätte, die angekündigte Verspätung des ursprünglichen Fluges zu vermeiden, sei insoweit unerheblich.

13 Aus dem Urteil vom 11. Juni 2020, Transportes Aéreos Portugueses (C‑74/19, EU:C:2020:460, Rn. 61), ergebe sich zwar, dass ein Luftfahrtunternehmen im Fall einer großen Verspätung oder einer Annullierung eines Fluges u. a. verpflichtet sei, dem Fluggast eine mögliche anderweitige direkte oder indirekte Beförderung mit einem Flug anzubieten, den es selbst oder ein anderes Luftfahrtunternehmen durchführe und der mit weniger Verspätung als der nächste Flug des betreffenden Luftfahrtunternehmens ankomme, es sei denn, die Durchführung einer solchen anderweitigen Beförderung stelle für das betreffende Unternehmen angesichts seiner Kapazitäten zum maßgeblichen Zeitpunkt ein nicht tragbares Opfer dar. Allerdings könne die Verletzung dieser Pflicht für sich genommen keinen Ausgleichsanspruch nach Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 begründen. Nach dieser Bestimmung bestehe nämlich nicht für jede Art von Unannehmlichkeit, sondern nur für einen mindestens dreistündigen Zeitverlust ein Ausgleichsanspruch. Die Unannehmlichkeit, die dem im Ausgangsverfahren betroffenen Fluggast entstanden sei, stelle daher keine große Unannehmlichkeit im Sinne dieser Verordnung dar, wie sich aus dem Urteil vom 30. April 2020, Air Nostrum (C‑191/19, EU:C:2020:339, Rn. 32), ergebe.

14 Das vorlegende Gericht hält es jedoch für möglich, die Situation im Hinblick auf Art. 5 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 261/2004 abweichend zu beurteilen, der im Fall der Annullierung des Fluges eine Ausgleichsleistung für die Fluggäste vorsehe, wenn ihnen kein Alternativflug mit einem Zeitverlust von weniger als drei Stunden angeboten werde. Wenn nämlich schon vor dem Zeitpunkt, in dem sich der Fluggast spätestens zur Abfertigung einfinden müsse, hinreichende Anhaltspunkte dafür vorlägen, dass der Flug am Endziel eine Verspätung von mindestens drei Stunden haben werde, könne von diesem Fluggast für die Zwecke seiner Ausgleichsleistung nicht verlangt werden, dass er sich rechtzeitig zur Abfertigung einfinde oder die Reise tatsächlich antrete. Außerdem sei es dafür auch unerheblich, wann der Fluggast am Endziel ankomme.

15 Unter diesen Umständen hat der Bundesgerichtshof beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

  1. Ist ein Ausgleichsanspruch wegen Verspätung des Fluges von mindestens drei Stunden nach den Art. 5, 6 und 7 der Verordnung Nr. 261/2004 generell ausgeschlossen, wenn der Fluggast bei drohender großer Verspätung einen von ihm selbst gebuchten Ersatzflug nutzt und dadurch das Endziel mit einer Verspätung von weniger als drei Stunden erreicht, oder kommt ein Ausgleichsanspruch in dieser Konstellation jedenfalls dann in Betracht, wenn schon vor dem Zeitpunkt, in dem sich der Fluggast spätestens zur Abfertigung einfinden muss, hinreichend gesicherte Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass es am Endziel zu einer Verspätung von mindestens drei Stunden kommen wird?
  2. Setzt im letztgenannten Fall der Ausgleichsanspruch wegen Verspätung des Fluges von mindestens drei Stunden nach den Art. 5, 6 und 7 der Verordnung in der genannten Konstellation voraus, dass sich der Fluggast nach Art. 3 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung rechtzeitig zur Abfertigung einfindet? Zu den Vorlagefragen Zur ersten Frage

16 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass das vorlegende Gericht mit seiner ersten Frage wissen möchte, wie die Art. 5, 6 und 7 der Verordnung Nr. 261/2004 auszulegen sind. Insoweit hat der Ausgangsrechtsstreit zwar seinen Ursprung im verspäteten Abflug eines Flugzeugs, sein Gegenstand sind aber die etwaigen Auswirkungen dieser Verspätung bei der Ankunft. Der Kläger des Ausgangsverfahrens verlangt nämlich eine Ausgleichszahlung wegen der wahrscheinlichen Verspätung des betreffenden Fluges bei der Ankunft am Endziel, die ihn daran gehindert habe, rechtzeitig zu einem Geschäftstermin zu gelangen, der in Palma de Mallorca stattfinden sollte. Art. 6 dieser Verordnung bezieht sich jedoch nur auf die Verspätung eines Fluges gegenüber der planmäßigen Abflugzeit. Daraus folgt, dass die pauschale Ausgleichszahlung, auf die ein Fluggast nach Art. 7 dieser Verordnung Anspruch hat, wenn sein Flug das Endziel drei Stunden oder mehr nach der planmäßigen Ankunftszeit erreicht, nicht von der Einhaltung der in Art. 6 der Verordnung genannten Voraussetzungen abhängt (Urteil vom 26. Februar 2013, Folkerts, C‑11/11, EU:C:2013:106, Rn. 36 und 37).

17 Außerdem geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass der Kläger des Ausgangsverfahrens nach deutschem Recht einen Anspruch auf Ersatz der Kosten für die selbst gebuchte Ersatzbeförderung geltend machen kann, so dass diese Frage nur seinen Anspruch auf pauschale Ausgleichszahlung nach Art. 5 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 wegen großer Verspätung eines Fluges betrifft.

18 Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner ersten Frage im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 5 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen sind, dass ein Fluggast, der wegen drohender großer Verspätung des Fluges, für den er über eine bestätigte Buchung verfügt, bei der Ankunft am Endziel oder wegen hinreichender Anhaltspunkte für eine solche Verspätung selbst einen Ersatzflug gebucht hat und das Endziel mit einer Verspätung von weniger als drei Stunden gegenüber der planmäßigen Ankunftszeit des ersten Fluges erreicht hat, einen Ausgleichsanspruch im Sinne dieser Bestimmungen haben kann.

19 Nach ständiger Rechtsprechung sind die Art. 5 und 7 der Verordnung Nr. 261/2004 im Licht des Grundsatzes der Gleichbehandlung dahin auszulegen, dass die Fluggäste verspäteter Flüge im Hinblick auf die Anwendung des in Art. 7 Abs. 1 dieser Verordnung vorgesehenen Ausgleichsanspruchs den Fluggästen annullierter Flüge gleichgestellt werden können und diesen Ausgleichsanspruch geltend machen können, wenn sie wegen eines verspäteten Fluges einen Zeitverlust von drei Stunden oder mehr erleiden, d. h., wenn sie ihr Endziel nicht früher als drei Stunden nach der von dem Luftfahrtunternehmen ursprünglich geplanten Ankunftszeit erreichen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. November 2009, Sturgeon u. a., C‑402/07 und C‑432/07, EU:C:2009:716, Rn. 60, 61 und 69, und vom 7. Juli 2022, SATA International – Azores Airlines [Ausfall des Betankungssystems], C‑308/21, EU:C:2022:533, Rn. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung).

20 Die Fluggäste der so verspäteten Flüge erleiden nämlich ebenso wie Fluggäste, deren ursprünglicher Flug annulliert wurde, einen irreversiblen Zeitverlust und somit ähnliche Unannehmlichkeiten. Diese Unannehmlichkeiten treten aber im Fall verspäteter Flüge bei der Ankunft am Endziel ein, so dass das Vorliegen einer Verspätung für die Zwecke der in Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 vorgesehenen Ausgleichszahlung anhand der planmäßigen Ankunftszeit am Endziel beurteilt werden muss (Urteil vom 26. Februar 2013, Folkerts, C‑11/11, EU:C:2013:106, Rn. 32 und 33).

21 Der entscheidende Gesichtspunkt, der den Gerichtshof dazu veranlasst hat, die große Verspätung eines Fluges bei der Ankunft mit der Annullierung eines Fluges gleichzusetzen, besteht darin, dass die Fluggäste eines Fluges mit großer Verspätung ebenso wie die Fluggäste eines annullierten Fluges einen Schaden erleiden, der in einem irreversiblen Zeitverlust von drei Stunden oder mehr besteht und der nur durch eine Ausgleichszahlung ersetzt werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. November 2009, Sturgeon u. a., C‑402/07 und C‑432/07, EU:C:2009:716, Rn. 52, 53 und 61, vom 23. Oktober 2012, Nelson u. a., C‑581/10 und C‑629/10, EU:C:2012:657, Rn. 54, und vom 12. März 2020, Finnair, C‑832/18, EU:C:2020:204, Rn. 23). Im Fall der Annullierung eines Fluges oder einer großen Verspätung eines Fluges bei der Ankunft an seinem Endziel ist der in Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 vorgesehene Ausgleichsanspruch somit untrennbar mit dem Vorliegen dieses Zeitverlusts von drei Stunden oder mehr verbunden.

22 Daraus folgt, dass ein Fluggast, der den Flug, für den er über eine bestätigte Buchung verfügte, nicht angetreten hat und der dank eines von ihm selbst gebuchten Ersatzflugs das Endziel mit einer Verspätung von weniger als drei Stunden gegenüber der von dem Luftfahrtunternehmen ursprünglich geplanten Ankunftszeit erreicht hat, keinen solchen Zeitverlust erlitten hat und diesen Ausgleichsanspruch somit nicht haben kann.

23 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Verordnung Nr. 261/2004 gemäß ihrem zweiten Erwägungsgrund darauf abzielt, Ärgernissen und „großen Unannehmlichkeiten“ der Fluggäste bei einer Beförderung im Luftverkehr abzuhelfen. Zwar kann der Umstand, dass ein Fluggast selbst einen Ersatzflug gefunden hat, dem betreffenden Fluggast eine Unannehmlichkeit verursachen, doch kann eine solche Unannehmlichkeit nicht als „groß“ im Sinne dieser Verordnung angesehen werden, wenn der Fluggast sein Endziel mit einer Verspätung von weniger als drei Stunden gegenüber der planmäßigen Ankunftszeit erreicht (vgl. entsprechend Urteile vom 30. April 2020, Air Nostrum, C‑191/19, EU:C:2020:339, Rn. 30 bis 33, und vom 22. April 2021, Austrian Airlines, C‑826/19, EU:C:2021:318, Rn. 42 und 43).

24 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 5 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen sind, dass ein Fluggast, der wegen drohender großer Verspätung des Fluges, für den er über eine bestätigte Buchung verfügt, bei der Ankunft am Endziel oder wegen hinreichender Anhaltspunkte für eine solche Verspätung selbst einen Ersatzflug gebucht hat und das Endziel mit einer Verspätung von weniger als drei Stunden gegenüber der planmäßigen Ankunftszeit des ersten Fluges erreicht hat, keinen Ausgleichsanspruch im Sinne dieser Bestimmungen haben kann.

Zur zweiten Frage

25 In Anbetracht der Antwort auf die erste Frage ist die zweite Frage nicht zu prüfen. Wenn nämlich die Verspätung eines Fluges bei der Ankunft am Endziel gegenüber der planmäßigen Ankunftszeit weniger als drei Stunden beträgt, können die Fluggäste dieses Fluges die in Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 vorgesehene Ausgleichszahlung nicht erhalten. Daher ist es in diesem Fall unerheblich, ob sich diese Fluggäste, wie von Art. 3 Abs. 2 Buchst. a dieser Verordnung gefordert, rechtzeitig zur Abfertigung eingefunden haben.

Kosten

26 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 5 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91

sind dahin auszulegen, dass

ein Fluggast, der wegen drohender großer Verspätung des Fluges, für den er über eine bestätigte Buchung verfügt, bei der Ankunft am Endziel oder wegen hinreichender Anhaltspunkte für eine solche Verspätung selbst einen Ersatzflug gebucht hat und das Endziel mit einer Verspätung von weniger als drei Stunden gegenüber der planmäßigen Ankunftszeit des ersten Fluges erreicht hat, keinen Ausgleichsanspruch im Sinne dieser Bestimmungen haben kann.

Unterschriften

Quelle: https://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf;jsessionid=C8AD841489DAEB0EC039AB5B5EB8D23F?text=&docid=282072&pageIndex=0&doclang=de&mode=lst&dir=&occ=first&part=1&cid=256318