EuGH, Beschluss v. 3. Oktober 2022, C‑302/22

Werden Reifen beschädigt, weil Startvorgang des Flugzeugs wegen eines Vogelschlags durch Vollbremsung abgebrochen wird, liegen außergewöhnliche Umstände vor.

Leitsatz der Kanzlei Woicke.

In der Rechtssache C‑302/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Amtsgericht Eilenburg (Deutschland) mit Entscheidung vom 19. April 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 6. Mai 2022, in dem Verfahren

YS,

RW

gegen

Freebird Airlines Europe Ltd.

erlässt

DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten N. Jääskinen sowie der Richter M. Safjan und M. Gavalec (Berichterstatter),

Generalanwalt: N. Emiliou,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund der nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Entscheidung, gemäß Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden,

folgenden

Beschluss

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (ABl. 2004, L 46, S. 1).

2 Es ergeht in einem Rechtsstreit zwischen YS und RW einerseits und dem Luftfahrtunternehmen Freebird Airlines Europe Ltd. andererseits wegen dessen Weigerung, diesen von einer großen Ankunftsverspätung ihres Fluges betroffenen Fluggästen einen Ausgleich zu leisten.

Rechtlicher Rahmen

3 Die Erwägungsgründe 1, 14 und 15 der Verordnung Nr. 261/2004 lauten:

„(1) Die Maßnahmen der [Europäischen Union] im Bereich des Luftverkehrs sollten unter anderem darauf abzielen, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen. Ferner sollte den Erfordernissen des Verbraucherschutzes im Allgemeinen in vollem Umfang Rechnung getragen werden.

(14) Wie nach dem [am 28. Mai 1999 in Montreal geschlossenen, von der Europäischen Gemeinschaft am 9. Dezember 1999 unterzeichneten und mit dem Beschluss 2001/539/EG des Rates vom 5. April 2001 (ABl. 2001, L 194, S. 38) in ihrem Namen genehmigten Übereinkommen zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr] sollten die Verpflichtungen für ausführende Luftfahrtunternehmen in den Fällen beschränkt oder ausgeschlossen sein, in denen ein Vorkommnis auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären. Solche Umstände können insbesondere bei politischer Instabilität, mit der Durchführung des betreffenden Fluges nicht zu vereinbarenden Wetterbedingungen, Sicherheitsrisiken, unerwarteten Flugsicherheitsmängeln und den Betrieb eines ausführenden Luftfahrtunternehmens beeinträchtigenden Streiks eintreten.

(15) Vom Vorliegen außergewöhnlicher Umstände sollte ausgegangen werden, wenn eine Entscheidung des Flugverkehrsmanagements zu einem einzelnen Flugzeug an einem bestimmten Tag zur Folge hat, dass es bei einem oder mehreren Flügen des betreffenden Flugzeugs zu einer großen Verspätung, einer Verspätung bis zum nächsten Tag oder zu einer Annullierung kommt, obgleich vom betreffenden Luftfahrtunternehmen alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen wurden, um die Verspätungen oder Annullierungen zu verhindern.

…“

4 Art. 5 („Annullierung“) der Verordnung Nr. 261/2004 bestimmt:

„(1) Bei Annullierung eines Fluges werden den betroffenen Fluggästen

c) vom ausführenden Luftfahrtunternehmen ein Anspruch auf Ausgleichsleistungen gemäß Artikel 7 eingeräumt …

(3) Ein ausführendes Luftfahrtunternehmen ist nicht verpflichtet, Ausgleichszahlungen gemäß Artikel 7 zu leisten, wenn es nachweisen kann, dass die Annullierung auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären.

…“

5 Art. 7 („Ausgleichsanspruch“) dieser Verordnung sieht in Abs. 1 Buchst. b vor:

„(1) Wird auf diesen Artikel Bezug genommen, so erhalten die Fluggäste Ausgleichszahlungen in folgender Höhe:

b) 400 EUR bei allen innergemeinschaftlichen Flügen über eine Entfernung von mehr als 1500 km und bei allen anderen Flügen über eine Entfernung zwischen 1500 km und 3500 km,

…“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

6 YS und RW hatten einen Flug vom Flughafen Leipzig-Halle (Deutschland) zum Flughafen Heraklion (Griechenland) gebucht.

7 Dieser Flug wurde mit einer Ankunftsverspätung von über drei Stunden durchgeführt. Freebird Airlines Europe, das ausführende Luftfahrtunternehmen, tritt dem von YS und RW gemäß Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 261/2004 geltend gemachten Ausgleichsanspruch mit dem Vorbringen entgegen, diese Verspätung sei auf einen außergewöhnlichen Umstand beim Start des betreffenden Flugzeugs zurückzuführen. Das Flugzeug habe sich im Startlauf befunden und eine Geschwindigkeit von 120 kn (etwa 222 km/h) erreicht, als es mit Vögeln kollidiert sei. Daraufhin habe der Flugkapitän eine Vollbremsung eingeleitet, durch die zwei Reifen überhitzt und zerstört worden seien. Die Verspätung sei somit nicht durch den Vogelschlag verursacht worden, sondern durch die Zeit, die benötigt worden sei, um die beiden Reifen zu wechseln.

8 Das vorlegende Gericht hat Zweifel, ob diese Vollbremsung unter den Begriff „außergewöhnliche Umstände“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 fällt, da sie eine mit der Ausübung des Luftfahrtbetriebs typischerweise verbundene Handlung sei und vom Flugkapitän beherrscht werden könne. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts könnte ein solches Manöver jedoch als „außergewöhnlicher Umstand“ im Sinne dieser Vorschrift eingestuft werden, sofern es durch ein Ereignis – etwa einen Vogelschlag – verursacht worden sei, das seinerseits einen „außergewöhnlichen Umstand“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 darstelle.

9 Vor diesem Hintergrund hat das Amtsgericht Eilenburg (Deutschland) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Stellt eine Beschädigung eines Reifens am Flugzeug aufgrund eines Bremsmanövers auf der Rollbahn, welches wegen eines Vogelschlags eingeleitet wurde, einen außergewöhnlichen Umstand im Sinne des Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 dar?

Zur Vorlagefrage

10 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen ist, dass der wegen eines Vogelschlags erfolgte Abbruch des Startvorgangs eines Flugzeugs durch eine Vollbremsung, durch die die Reifen des Flugzeugs beschädigt werden, unter den Begriff „außergewöhnlicher Umstand“ im Sinne dieser Vorschrift fällt.

11 Nach Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs kann dieser, u. a. wenn die Beantwortung der zur Vorabentscheidung vorgelegten Frage keinen Raum für vernünftige Zweifel lässt, auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts jederzeit die Entscheidung treffen, durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden.

12 Da dies hier der Fall ist, ist von dieser Vorschrift Gebrauch zu machen.

13 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass nach dem Willen des Unionsgesetzgebers bei Annullierung oder großer – d. h. drei Stunden oder mehr betragender – Verspätung von Flügen die Verpflichtungen der Luftfahrtunternehmen gemäß Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 gelten sollen (Urteil vom 4. Mai 2017, Pešková und Peška, C‑315/15, EU:C:2017:342, Rn. 19).

14 Nach den Erwägungsgründen 14 und 15 sowie Art. 5 Abs. 3 dieser Verordnung ist das Luftfahrtunternehmen abweichend von Abs. 1 dieses Artikels von seiner Verpflichtung zu Ausgleichszahlungen an die Fluggäste gemäß Art. 7 der Verordnung Nr. 261/2004 befreit, wenn es nachweisen kann, dass die Annullierung des Fluges bzw. dessen um drei Stunden oder mehr verspätete Ankunft auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären (Urteil vom 4. Mai 2017, Pešková und Peška, C‑315/15, EU:C:2017:342, Rn. 20).

15 Nach dem 14. Erwägungsgrund dieser Verordnung können solche Umstände insbesondere bei Sicherheitsrisiken und unerwarteten Flugsicherheitsmängeln eintreten.

16 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs werden als „außergewöhnliche Umstände“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004, der eng auszulegen ist, Vorkommnisse angesehen, die ihrer Natur oder Ursache nach nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betreffenden Luftfahrtunternehmens sind und von ihm nicht tatsächlich beherrschbar sind, wobei diese beiden Bedingungen kumulativ sind und ihr Vorliegen von Fall zu Fall zu beurteilen ist (Urteil vom 23. März 2021, Airhelp, C‑28/20, EU:C:2021:226, Rn. 23 und 24 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

17 So hat der Gerichtshof entschieden, dass die Kollision eines Flugzeugs mit einem Vogel sowie die dadurch möglicherweise verursachte Beschädigung mangels untrennbarer Verbundenheit mit dem System zum Betrieb des Flugzeugs ihrer Natur oder Ursache nach nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betroffenen Luftfahrtunternehmens und von ihm nicht tatsächlich beherrschbar sind. Folglich ist diese Kollision als „außergewöhnlicher Umstand“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 einzustufen (Urteil vom 4. Mai 2017, Pešková und Peška, C‑315/15, EU:C:2017:342, Rn. 24).

18 Ferner hat der Gerichtshof entschieden, dass es unerheblich ist, ob diese Kollision tatsächlich Schäden am betroffenen Flugzeug hervorgerufen hat. Denn das mit der Verordnung Nr. 261/2004 verfolgte, in ihrem ersten Erwägungsgrund genannte Ziel, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen, impliziert, dass Luftfahrtunternehmen nicht dazu motiviert werden sollten, die aufgrund eines solchen Zwischenfalls erforderlichen Maßnahmen zu unterlassen, indem sie der Aufrechterhaltung und der Pünktlichkeit ihrer Flüge einen höheren Stellenwert einräumen als deren Sicherheit (Urteile vom 4. Mai 2017, Pešková und Peška, C‑315/15, EU:C:2017:342, Rn. 25, und vom 4. April 2019, Germanwings, C‑501/17, EU:C:2019:288, Rn. 28).

19 Außerdem hat der Gerichtshof festgestellt, dass ein Reifenschaden, der ausschließlich auf die Kollision mit einem Fremdkörper auf dem Rollfeld des Flughafens zurückzuführen ist, nicht seiner Natur oder Ursache nach als Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betreffenden Luftfahrtunternehmens angesehen werden kann. Angesichts der besonderen Zwänge, denen das Luftfahrtunternehmen beim Start und bei der Landung unterliegt, die u. a. mit der Geschwindigkeit, mit der diese durchgeführt werden, und dem Gebot der Sicherheit der Fluggäste an Bord zusammenhängen, sowie des Umstands, dass die Instandhaltung des Rollfelds nicht in seine Zuständigkeit fällt, ist darüber hinaus dieser Umstand von ihm nicht tatsächlich beherrschbar. Folglich fällt die Beschädigung des Reifens eines Flugzeugs durch einen Fremdkörper, wie einen umherliegenden Gegenstand, auf dem Rollfeld eines Flughafens unter den Begriff „außergewöhnlicher Umstand“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 (Urteil vom 4. April 2019, Germanwings, C‑501/17, EU:C:2019:288, Rn. 26 und 34).

20 Daraus ergibt sich, dass im vorliegenden Fall der wegen der Kollision mit einem Vogel erfolgte Abbruch des Startvorgangs eines Flugzeugs durch eine Vollbremsung, durch die die Reifen des Flugzeugs beschädigt werden, nicht als Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betreffenden Luftfahrtunternehmens anzusehen und von ihm nicht tatsächlich beherrschbar ist. Daher ist ein solches Ereignis als „außergewöhnlicher Umstand“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 einzustufen.

21 Jedoch ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung das Luftfahrtunternehmen bei Eintritt eines „außergewöhnlichen Umstands“ von seiner Verpflichtung zu Ausgleichszahlungen an die Fluggäste gemäß Art. 7 der Verordnung Nr. 261/2004 nur befreit ist, wenn es nachweisen kann, dass es die der Situation angemessenen Maßnahmen ergriffen hat, indem es alle ihm zur Verfügung stehenden personellen, materiellen und finanziellen Mittel eingesetzt hat, um zu vermeiden, dass dieser Umstand zur Annullierung oder zur großen Verspätung des betreffenden Fluges führt, ohne dass jedoch von ihm angesichts der Kapazitäten seines Unternehmens zum maßgeblichen Zeitpunkt nicht tragbare Opfer verlangt werden könnten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. April 2019, Germanwings, C‑501/17, EU:C:2019:288, Rn. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung).

22 Insoweit ist es in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens Sache des betreffenden Luftfahrtunternehmens, nachzuweisen, dass es alle ihm zur Verfügung stehenden personellen, materiellen und finanziellen Mittel eingesetzt hat, um zu vermeiden, dass der Austausch der durch die Vollbremsung beschädigten Reifen nicht zur großen Ankunftsverspätung des betreffenden Fluges führt; dies zu prüfen ist Sache des vorlegenden Gerichts (vgl. entsprechend Urteil vom 4. April 2019, Germanwings, C‑501/17, EU:C:2019:288, Rn. 33).

23 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen ist, dass der wegen eines Vogelschlags erfolgte Abbruch des Startvorgangs eines Flugzeugs durch eine Vollbremsung, durch die die Reifen des Flugzeugs beschädigt werden, unter den Begriff „außergewöhnlicher Umstand“ im Sinne dieser Vorschrift fällt.

Kosten

24 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 5 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91

ist dahin auszulegen, dass

der wegen eines Vogelschlags erfolgte Abbruch des Startvorgangs eines Flugzeugs durch eine Vollbremsung, durch die die Reifen des Flugzeugs beschädigt werden, unter den Begriff „außergewöhnlicher Umstand“ im Sinne dieser Vorschrift fällt.

Unterschriften

Quelle: https://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=261%252F2004&docid=266974&pageIndex=0&doclang=de&mode=req&dir=&occ=first&part=1&cid=2242215#ctx1