EuGH, Urteil v. 25. Januar 2024, C‑54/23

Erleidet der Fluggast trotz der großen Verspätung seines Fluges nur einen kleinen Zeitverlust an seinem Endziel, weil er sich selbst einen Ersatzflug bucht, hat er keinen Ausgleichsanspruch.

Leitsatz der Kanzlei Woicke.

In der Rechtssache C‑54/23

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesgerichtshof (Deutschland) mit Entscheidung vom 10. Januar 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 3. Februar 2023, in dem Verfahren

WY

gegen

Laudamotion GmbH,

Ryanair DAC

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin K. Jürimäe, des Präsidenten des Gerichtshofs K. Lenaerts in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Dritten Kammer sowie der Richter N. Piçarra, N. Jääskinen und M. Gavalec (Berichterstatter),

Generalanwältin: L. Medina,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– der Laudamotion GmbH, vertreten durch W. Nassall, Rechtsanwalt,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Braun, G. von Rintelen, G. Wilms und N. Yerrell als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 3 und 5 bis 7 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (ABl. 2004, L 46, S. 1).

2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen WY, einem Fluggast, auf der einen Seite und Laudamotion GmbH und Ryanair DAC auf der anderen Seite wegen der Weigerung dieser beiden Luftfahrtunternehmen, diesem Fluggast wegen der verspäteten Ankunft eines Fluges, für den er über eine bestätigte Buchung verfügte, einen Ausgleich zu leisten.

Rechtlicher Rahmen

3 Der zweite Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 261/2004 lautet:

„Nichtbeförderung und Annullierung oder eine große Verspätung von Flügen sind für die Fluggäste ein Ärgernis und verursachen ihnen große Unannehmlichkeiten.“

4 Art. 3 („Anwendungsbereich“) Abs. 1 und 2 dieser Verordnung bestimmt:

„(1) Diese Verordnung gilt

a) für Fluggäste, die auf Flughäfen im Gebiet eines Mitgliedstaats, das den Bestimmungen des Vertrags unterliegt, einen Flug antreten;

(2) Absatz 1 gilt unter der Bedingung, dass die Fluggäste

a) über eine bestätigte Buchung für den betreffenden Flug verfügen und – außer im Fall einer Annullierung gemäß Artikel 5 – sich

– wie vorgegeben und zu der zuvor schriftlich (einschließlich auf elektronischem Wege) von dem Luftfahrtunternehmen, dem Reiseunternehmen oder einem zugelassenen Reisevermittler angegebenen Zeit zur Abfertigung einfinden

oder, falls keine Zeit angegeben wurde,

– spätestens 45 Minuten vor der veröffentlichten Abflugzeit zur Abfertigung einfinden …

…“

5 Art. 5 („Annullierung“) Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 sieht vor:

„Bei Annullierung eines Fluges werden den betroffenen Fluggästen

a) vom ausführenden Luftfahrtunternehmen Unterstützungsleistungen gemäß Artikel 8 angeboten,

c) vom ausführenden Luftfahrtunternehmen ein Anspruch auf Ausgleichsleistungen gemäß Artikel 7 eingeräumt, es sei denn,

iii) sie werden über die Annullierung weniger als sieben Tage vor der planmäßigen Abflugzeit unterrichtet und erhalten ein Angebot zur anderweitigen Beförderung, das es ihnen ermöglicht, nicht mehr als eine Stunde vor der planmäßigen Abflugzeit abzufliegen und ihr Endziel höchstens zwei Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit zu erreichen.“

6 Art. 6 („Verspätung“) Abs. 1 dieser Verordnung lautet:

„Ist für ein ausführendes Luftfahrtunternehmen nach vernünftigem Ermessen absehbar, dass sich der Abflug

a) bei allen Flügen über eine Entfernung von 1 500 km oder weniger um zwei Stunden oder mehr oder

b) bei allen innergemeinschaftlichen Flügen über eine Entfernung von mehr als 1 500 km und bei allen anderen Flügen über eine Entfernung zwischen 1 500 km und 3 500 km um drei Stunden oder mehr oder

c) bei allen nicht unter Buchstabe a) oder b) fallenden Flügen um vier Stunden oder mehr

gegenüber der planmäßigen Abflugzeit verzögert, so werden den Fluggästen vom ausführenden Luftfahrtunternehmen

i) die Unterstützungsleistungen gemäß Artikel 9 Absatz 1 Buchstabe a) und Absatz 2 angeboten,

ii) wenn die nach vernünftigem Ermessen zu erwartende Abflugzeit erst am Tag nach der zuvor angekündigten Abflugzeit liegt, die Unterstützungsleistungen gemäß Artikel 9 Absatz 1 Buchstaben b) und c) angeboten und,

iii) wenn die Verspätung mindestens fünf Stunden beträgt, die Unterstützungsleistungen gemäß Artikel 8 Absatz 1 Buchstabe a) angeboten.“

7 Art. 7 („Ausgleichsanspruch“) Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 bestimmt:

„Wird auf diesen Artikel Bezug genommen, so erhalten die Fluggäste Ausgleichszahlungen in folgender Höhe:

a) 250 EUR bei allen Flügen über eine Entfernung von 1 500 km oder weniger,

…“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

8 WY buchte bei Ryanair für den 31. Oktober 2019 einen Flug von Düsseldorf (Deutschland) nach Palma de Mallorca (Spanien) und zurück. Nachdem dieser Fluggast von Laudamotion, dem ausführenden Luftfahrtunternehmen, darüber informiert worden war, dass sich der Hinflug (im Folgenden: ursprünglicher Flug) um sechs Stunden verspäten werde, buchte er selbst einen Ersatzflug, um einen Geschäftstermin wahrzunehmen, der in Palma de Mallorca stattfinden sollte. Dank dieses Ersatzflugs erreichte er sein Ziel schließlich mit einer Verspätung von weniger als drei Stunden gegenüber der planmäßigen Ankunftszeit des ursprünglichen Fluges. Der Fluggast, der behauptet, sich rechtzeitig zur Abfertigung für den ursprünglichen Flug eingefunden zu haben, verlangte von Laudamotion u. a. eine Ausgleichszahlung in Höhe von 250 Euro nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. c und Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004. Außerdem nahm er Ryanair auf Auskunft über die Höhe nicht verbrauchter Steuern und deren Zahlung in Anspruch.

9 Mit seiner Klage gegen Laudamotion hatte WY weder in erster Instanz noch in der Berufungsinstanz Erfolg. Das Berufungsgericht war der Ansicht, dass Laudamotion, obwohl der ursprüngliche Flug eine Ankunftsverspätung von mehr als drei Stunden gehabt habe, nicht verpflichtet gewesen sei, die geforderte Ausgleichszahlung zu leisten, da WY diesen Flug nicht angetreten und das Endziel mit weniger als drei Stunden Verspätung erreicht habe. Dabei sei unerheblich, dass der Fluggast den Ersatzflug selbst gebucht habe. Somit sei WY nicht schlechter gestellt, als wenn er den ursprünglichen Flug genutzt hätte. Allerdings habe er nach deutschem Zivilrecht Anspruch auf Ersatz der Kosten des von ihm selbst gebuchten Ersatzflugs.

10 WY legte Revision beim Bundesgerichtshof (Deutschland) ein, der das vorlegende Gericht ist. Dieses Gericht ist der Ansicht, dass die Entscheidung über die Revision von der Auslegung von Art. 3 Abs. 2 Buchst. a, Art. 5 Abs. 1 Buchst. c und Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 abhänge.

11 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergebe, dass die in den letzteren beiden Bestimmungen vorgesehenen Ausgleichsleistungen einem Fluggast zustünden, der bei der Ankunft an seinem Endziel einen Zeitverlust von drei Stunden oder mehr erleide. Folglich sollten diese Ausgleichsleistungen nicht an einen Fluggast gezahlt werden, bei dessen Flug eine große Verspätung drohe und der deshalb selbst einen Ersatzflug buche, der es ihm ermögliche, das Endziel mit einer Verspätung von weniger als drei Stunden gegenüber der planmäßigen Ankunftszeit des ersten Fluges zu erreichen.

12 Aus dem Beschluss vom 24. Oktober 2019, easyJet Airline (C‑756/18, EU:C:2019:902, Rn. 33 ff.), lasse sich ableiten, dass ein Anspruch auf Ausgleichleistung wegen großer Verspätung eines Fluges grundsätzlich nur solchen Fluggästen zustehe, die den betroffenen Flug genutzt haben und tatsächlich mit einer Verspätung von mindestens drei Stunden an ihrem Endziel angekommen seien. Dass das Luftfahrtunternehmen, wie im vorliegenden Fall, es pflichtwidrig versäumt habe, einen Ersatzflug anzubieten, der es den Fluggästen ermöglicht hätte, die angekündigte Verspätung des ursprünglichen Fluges zu vermeiden, sei insoweit unerheblich.

13 Aus dem Urteil vom 11. Juni 2020, Transportes Aéreos Portugueses (C‑74/19, EU:C:2020:460, Rn. 61), ergebe sich zwar, dass ein Luftfahrtunternehmen im Fall einer großen Verspätung oder einer Annullierung eines Fluges u. a. verpflichtet sei, dem Fluggast eine mögliche anderweitige direkte oder indirekte Beförderung mit einem Flug anzubieten, den es selbst oder ein anderes Luftfahrtunternehmen durchführe und der mit weniger Verspätung als der nächste Flug des betreffenden Luftfahrtunternehmens ankomme, es sei denn, die Durchführung einer solchen anderweitigen Beförderung stelle für das betreffende Unternehmen angesichts seiner Kapazitäten zum maßgeblichen Zeitpunkt ein nicht tragbares Opfer dar. Allerdings könne die Verletzung dieser Pflicht für sich genommen keinen Ausgleichsanspruch nach Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 begründen. Nach dieser Bestimmung bestehe nämlich nicht für jede Art von Unannehmlichkeit, sondern nur für einen mindestens dreistündigen Zeitverlust ein Ausgleichsanspruch. Die Unannehmlichkeit, die dem im Ausgangsverfahren betroffenen Fluggast entstanden sei, stelle daher keine große Unannehmlichkeit im Sinne dieser Verordnung dar, wie sich aus dem Urteil vom 30. April 2020, Air Nostrum (C‑191/19, EU:C:2020:339, Rn. 32), ergebe.

14 Das vorlegende Gericht hält es jedoch für möglich, die Situation im Hinblick auf Art. 5 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 261/2004 abweichend zu beurteilen, der im Fall der Annullierung des Fluges eine Ausgleichsleistung für die Fluggäste vorsehe, wenn ihnen kein Alternativflug mit einem Zeitverlust von weniger als drei Stunden angeboten werde. Wenn nämlich schon vor dem Zeitpunkt, in dem sich der Fluggast spätestens zur Abfertigung einfinden müsse, hinreichende Anhaltspunkte dafür vorlägen, dass der Flug am Endziel eine Verspätung von mindestens drei Stunden haben werde, könne von diesem Fluggast für die Zwecke seiner Ausgleichsleistung nicht verlangt werden, dass er sich rechtzeitig zur Abfertigung einfinde oder die Reise tatsächlich antrete. Außerdem sei es dafür auch unerheblich, wann der Fluggast am Endziel ankomme.

15 Unter diesen Umständen hat der Bundesgerichtshof beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

  1. Ist ein Ausgleichsanspruch wegen Verspätung des Fluges von mindestens drei Stunden nach den Art. 5, 6 und 7 der Verordnung Nr. 261/2004 generell ausgeschlossen, wenn der Fluggast bei drohender großer Verspätung einen von ihm selbst gebuchten Ersatzflug nutzt und dadurch das Endziel mit einer Verspätung von weniger als drei Stunden erreicht, oder kommt ein Ausgleichsanspruch in dieser Konstellation jedenfalls dann in Betracht, wenn schon vor dem Zeitpunkt, in dem sich der Fluggast spätestens zur Abfertigung einfinden muss, hinreichend gesicherte Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass es am Endziel zu einer Verspätung von mindestens drei Stunden kommen wird?
  2. Setzt im letztgenannten Fall der Ausgleichsanspruch wegen Verspätung des Fluges von mindestens drei Stunden nach den Art. 5, 6 und 7 der Verordnung in der genannten Konstellation voraus, dass sich der Fluggast nach Art. 3 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung rechtzeitig zur Abfertigung einfindet? Zu den Vorlagefragen Zur ersten Frage

16 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass das vorlegende Gericht mit seiner ersten Frage wissen möchte, wie die Art. 5, 6 und 7 der Verordnung Nr. 261/2004 auszulegen sind. Insoweit hat der Ausgangsrechtsstreit zwar seinen Ursprung im verspäteten Abflug eines Flugzeugs, sein Gegenstand sind aber die etwaigen Auswirkungen dieser Verspätung bei der Ankunft. Der Kläger des Ausgangsverfahrens verlangt nämlich eine Ausgleichszahlung wegen der wahrscheinlichen Verspätung des betreffenden Fluges bei der Ankunft am Endziel, die ihn daran gehindert habe, rechtzeitig zu einem Geschäftstermin zu gelangen, der in Palma de Mallorca stattfinden sollte. Art. 6 dieser Verordnung bezieht sich jedoch nur auf die Verspätung eines Fluges gegenüber der planmäßigen Abflugzeit. Daraus folgt, dass die pauschale Ausgleichszahlung, auf die ein Fluggast nach Art. 7 dieser Verordnung Anspruch hat, wenn sein Flug das Endziel drei Stunden oder mehr nach der planmäßigen Ankunftszeit erreicht, nicht von der Einhaltung der in Art. 6 der Verordnung genannten Voraussetzungen abhängt (Urteil vom 26. Februar 2013, Folkerts, C‑11/11, EU:C:2013:106, Rn. 36 und 37).

17 Außerdem geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass der Kläger des Ausgangsverfahrens nach deutschem Recht einen Anspruch auf Ersatz der Kosten für die selbst gebuchte Ersatzbeförderung geltend machen kann, so dass diese Frage nur seinen Anspruch auf pauschale Ausgleichszahlung nach Art. 5 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 wegen großer Verspätung eines Fluges betrifft.

18 Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner ersten Frage im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 5 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen sind, dass ein Fluggast, der wegen drohender großer Verspätung des Fluges, für den er über eine bestätigte Buchung verfügt, bei der Ankunft am Endziel oder wegen hinreichender Anhaltspunkte für eine solche Verspätung selbst einen Ersatzflug gebucht hat und das Endziel mit einer Verspätung von weniger als drei Stunden gegenüber der planmäßigen Ankunftszeit des ersten Fluges erreicht hat, einen Ausgleichsanspruch im Sinne dieser Bestimmungen haben kann.

19 Nach ständiger Rechtsprechung sind die Art. 5 und 7 der Verordnung Nr. 261/2004 im Licht des Grundsatzes der Gleichbehandlung dahin auszulegen, dass die Fluggäste verspäteter Flüge im Hinblick auf die Anwendung des in Art. 7 Abs. 1 dieser Verordnung vorgesehenen Ausgleichsanspruchs den Fluggästen annullierter Flüge gleichgestellt werden können und diesen Ausgleichsanspruch geltend machen können, wenn sie wegen eines verspäteten Fluges einen Zeitverlust von drei Stunden oder mehr erleiden, d. h., wenn sie ihr Endziel nicht früher als drei Stunden nach der von dem Luftfahrtunternehmen ursprünglich geplanten Ankunftszeit erreichen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. November 2009, Sturgeon u. a., C‑402/07 und C‑432/07, EU:C:2009:716, Rn. 60, 61 und 69, und vom 7. Juli 2022, SATA International – Azores Airlines [Ausfall des Betankungssystems], C‑308/21, EU:C:2022:533, Rn. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung).

20 Die Fluggäste der so verspäteten Flüge erleiden nämlich ebenso wie Fluggäste, deren ursprünglicher Flug annulliert wurde, einen irreversiblen Zeitverlust und somit ähnliche Unannehmlichkeiten. Diese Unannehmlichkeiten treten aber im Fall verspäteter Flüge bei der Ankunft am Endziel ein, so dass das Vorliegen einer Verspätung für die Zwecke der in Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 vorgesehenen Ausgleichszahlung anhand der planmäßigen Ankunftszeit am Endziel beurteilt werden muss (Urteil vom 26. Februar 2013, Folkerts, C‑11/11, EU:C:2013:106, Rn. 32 und 33).

21 Der entscheidende Gesichtspunkt, der den Gerichtshof dazu veranlasst hat, die große Verspätung eines Fluges bei der Ankunft mit der Annullierung eines Fluges gleichzusetzen, besteht darin, dass die Fluggäste eines Fluges mit großer Verspätung ebenso wie die Fluggäste eines annullierten Fluges einen Schaden erleiden, der in einem irreversiblen Zeitverlust von drei Stunden oder mehr besteht und der nur durch eine Ausgleichszahlung ersetzt werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. November 2009, Sturgeon u. a., C‑402/07 und C‑432/07, EU:C:2009:716, Rn. 52, 53 und 61, vom 23. Oktober 2012, Nelson u. a., C‑581/10 und C‑629/10, EU:C:2012:657, Rn. 54, und vom 12. März 2020, Finnair, C‑832/18, EU:C:2020:204, Rn. 23). Im Fall der Annullierung eines Fluges oder einer großen Verspätung eines Fluges bei der Ankunft an seinem Endziel ist der in Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 vorgesehene Ausgleichsanspruch somit untrennbar mit dem Vorliegen dieses Zeitverlusts von drei Stunden oder mehr verbunden.

22 Daraus folgt, dass ein Fluggast, der den Flug, für den er über eine bestätigte Buchung verfügte, nicht angetreten hat und der dank eines von ihm selbst gebuchten Ersatzflugs das Endziel mit einer Verspätung von weniger als drei Stunden gegenüber der von dem Luftfahrtunternehmen ursprünglich geplanten Ankunftszeit erreicht hat, keinen solchen Zeitverlust erlitten hat und diesen Ausgleichsanspruch somit nicht haben kann.

23 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Verordnung Nr. 261/2004 gemäß ihrem zweiten Erwägungsgrund darauf abzielt, Ärgernissen und „großen Unannehmlichkeiten“ der Fluggäste bei einer Beförderung im Luftverkehr abzuhelfen. Zwar kann der Umstand, dass ein Fluggast selbst einen Ersatzflug gefunden hat, dem betreffenden Fluggast eine Unannehmlichkeit verursachen, doch kann eine solche Unannehmlichkeit nicht als „groß“ im Sinne dieser Verordnung angesehen werden, wenn der Fluggast sein Endziel mit einer Verspätung von weniger als drei Stunden gegenüber der planmäßigen Ankunftszeit erreicht (vgl. entsprechend Urteile vom 30. April 2020, Air Nostrum, C‑191/19, EU:C:2020:339, Rn. 30 bis 33, und vom 22. April 2021, Austrian Airlines, C‑826/19, EU:C:2021:318, Rn. 42 und 43).

24 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 5 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen sind, dass ein Fluggast, der wegen drohender großer Verspätung des Fluges, für den er über eine bestätigte Buchung verfügt, bei der Ankunft am Endziel oder wegen hinreichender Anhaltspunkte für eine solche Verspätung selbst einen Ersatzflug gebucht hat und das Endziel mit einer Verspätung von weniger als drei Stunden gegenüber der planmäßigen Ankunftszeit des ersten Fluges erreicht hat, keinen Ausgleichsanspruch im Sinne dieser Bestimmungen haben kann.

Zur zweiten Frage

25 In Anbetracht der Antwort auf die erste Frage ist die zweite Frage nicht zu prüfen. Wenn nämlich die Verspätung eines Fluges bei der Ankunft am Endziel gegenüber der planmäßigen Ankunftszeit weniger als drei Stunden beträgt, können die Fluggäste dieses Fluges die in Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 vorgesehene Ausgleichszahlung nicht erhalten. Daher ist es in diesem Fall unerheblich, ob sich diese Fluggäste, wie von Art. 3 Abs. 2 Buchst. a dieser Verordnung gefordert, rechtzeitig zur Abfertigung eingefunden haben.

Kosten

26 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 5 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91

sind dahin auszulegen, dass

ein Fluggast, der wegen drohender großer Verspätung des Fluges, für den er über eine bestätigte Buchung verfügt, bei der Ankunft am Endziel oder wegen hinreichender Anhaltspunkte für eine solche Verspätung selbst einen Ersatzflug gebucht hat und das Endziel mit einer Verspätung von weniger als drei Stunden gegenüber der planmäßigen Ankunftszeit des ersten Fluges erreicht hat, keinen Ausgleichsanspruch im Sinne dieser Bestimmungen haben kann.

Unterschriften

Quelle: https://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf;jsessionid=C8AD841489DAEB0EC039AB5B5EB8D23F?text=&docid=282072&pageIndex=0&doclang=de&mode=lst&dir=&occ=first&part=1&cid=256318