Fluggast braucht sich nicht am Flugsteig einfinden, um eine Ausgleichszahlung zu erhalten, falls ihm Beförderung im Voraus verweigert wurde. Ausgleichszahlungspflicht besteht auch, wenn Fluggast mind. zwei Wochen vor geplantem Flug Beförderung verweigert wurde.
Leitsätze der Kanzlei Woicke.
n der Rechtssache C‑238/22
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landgericht Frankfurt am Main (Deutschland) mit Entscheidung vom 21. Februar 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 5. April 2022, in dem Verfahren
FW
gegen
LATAM Airlines Group SA
erlässt
DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten N. Piçarra sowie der Richter M. Safjan und M. Gavalec (Berichterstatter),
Generalanwalt: A. Rantos,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– von FW, vertreten durch Rechtsanwalt H. Hopperdietzel,
– der LATAM Airlines Group SA, vertreten durch Rechtsanwalt S. Wassmer,
– der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller, P. Busche und M. Hellmann als Bevollmächtigte,
– der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Braun, G. Wilms und N. Yerrell als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Buchst. j, Art. 3 Abs. 2, Art. 4 Abs. 3, Art. 5 Abs. 1 Buchst. c Ziff. i und Art. 7 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (ABl. 2004, L 46, S. 1).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen FW und der LATAM Airlines Group SA (im Folgenden: Latam Airlines) wegen einer auf die Verordnung Nr. 261/2004 gestützten Klage von FW auf Ausgleichszahlung, nachdem Latam Airlines ihre Buchung für einen Flug zwischen Madrid (Spanien) und Frankfurt am Main (Deutschland) gesperrt hatte.
Rechtlicher Rahmen
3 Die Erwägungsgründe 1 bis 4 und 9 der Verordnung Nr. 261/2004 lauten:
„(1) Die Maßnahmen der Gemeinschaft im Bereich des Luftverkehrs sollten unter anderem darauf abzielen, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen. Ferner sollte den Erfordernissen des Verbraucherschutzes im Allgemeinen in vollem Umfang Rechnung getragen werden.
(2) Nichtbeförderung und Annullierung oder eine große Verspätung von Flügen sind für die Fluggäste ein Ärgernis und verursachen ihnen große Unannehmlichkeiten.
(3) Durch die Verordnung (EWG) Nr. 295/91 des Rates vom 4. Februar 1991 über eine gemeinsame Regelung für ein System von Ausgleichsleistungen bei Nichtbeförderung im Linienflugverkehr [(ABl. 1991, L 36, S. 5)] wurde zwar ein grundlegender Schutz für die Fluggäste geschaffen, die Zahl der gegen ihren Willen nicht beförderten Fluggäste ist aber immer noch zu hoch; dasselbe gilt für nicht angekündigte Annullierungen und große Verspätungen.
(4) Die Gemeinschaft sollte deshalb die mit der genannten Verordnung festgelegten Schutzstandards erhöhen, um die Fluggastrechte zu stärken und um sicherzustellen, dass die Geschäftstätigkeit von Luftfahrtunternehmen in einem liberalisierten Markt harmonisierten Bedingungen unterliegt.
…
(9) Die Zahl der gegen ihren Willen nicht beförderten Fluggäste sollte dadurch verringert werden, dass von den Luftfahrtunternehmen verlangt wird, Fluggäste gegen eine entsprechende Gegenleistung zum freiwilligen Verzicht auf ihre Buchungen zu bewegen, anstatt Fluggästen die Beförderung zu verweigern, und denjenigen, die letztlich nicht befördert werden, eine vollwertige Ausgleichsleistung zu erbringen.“
4 Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) Buchst. j und l der Verordnung Nr. 261/2004 lautet:
„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck
…
j) ‚Nichtbeförderung‘ die Weigerung, Fluggäste zu befördern, obwohl sie sich unter den in Artikel 3 Absatz 2 genannten Bedingungen am Flugsteig eingefunden haben, sofern keine vertretbaren Gründe für die Nichtbeförderung gegeben sind, z. B. im Zusammenhang mit der Gesundheit oder der allgemeinen oder betrieblichen Sicherheit oder unzureichenden Reiseunterlagen;
…
l) ‚Annullierung‘ die Nichtdurchführung eines geplanten Fluges, für den zumindest ein Platz reserviert war.“
5 Art. 3 („Anwendungsbereich“) Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 261/2004 bestimmt:
„(1) Diese Verordnung gilt
a) für Fluggäste, die auf Flughäfen im Gebiet eines Mitgliedstaats, das den Bestimmungen des Vertrags unterliegt, einen Flug antreten;
…
(2) Absatz 1 gilt unter der Bedingung, dass die Fluggäste
a) über eine bestätigte Buchung für den betreffenden Flug verfügen und – außer im Fall einer Annullierung gemäß Artikel 5 – sich
– wie vorgegeben und zu der zuvor schriftlich (einschließlich auf elektronischem Wege) von dem Luftfahrtunternehmen, dem Reiseunternehmen oder einem zugelassenen Reisevermittler angegebenen Zeit zur Abfertigung einfinden
oder, falls keine Zeit angegeben wurde,
– spätestens 45 Minuten vor der veröffentlichten Abflugzeit zur Abfertigung einfinden oder
b) von einem Luftfahrtunternehmen oder Reiseunternehmen von einem Flug, für den sie eine Buchung besaßen, auf einen anderen Flug verlegt wurden, ungeachtet des Grundes hierfür.“
6 In Art. 4 („Nichtbeförderung“) der Verordnung Nr. 261/2004 heißt es:
„(1) Ist für ein ausführendes Luftfahrtunternehmen nach vernünftigem Ermessen absehbar, dass Fluggästen die Beförderung zu verweigern ist, so versucht es zunächst, Fluggäste gegen eine entsprechende Gegenleistung unter Bedingungen, die zwischen dem betreffenden Fluggast und dem ausführenden Luftfahrtunternehmen zu vereinbaren sind, zum freiwilligen Verzicht auf ihre Buchungen zu bewegen. Die Freiwilligen sind gemäß Artikel 8 zu unterstützen, wobei die Unterstützungsleistungen zusätzlich zu dem in diesem Absatz genannten Ausgleich zu gewähren sind.
(2) Finden sich nicht genügend Freiwillige, um die Beförderung der verbleibenden Fluggäste mit Buchungen mit dem betreffenden Flug zu ermöglichen, so kann das ausführende Luftfahrtunternehmen Fluggästen gegen ihren Willen die Beförderung verweigern.
(3) Wird Fluggästen gegen ihren Willen die Beförderung verweigert, so erbringt das ausführende Luftfahrtunternehmen diesen unverzüglich die Ausgleichsleistungen gemäß Artikel 7 und die Unterstützungsleistungen gemäß den Artikeln 8 und 9.
7 Art. 5 („Annullierung“) der Verordnung Nr. 261/2004 sieht in Abs. 1 Buchst. c vor:
„Bei Annullierung eines Fluges [wird] den betroffenen Fluggästen
…
c) vom ausführenden Luftfahrtunternehmen ein Anspruch auf Ausgleichsleistungen gemäß Artikel 7 eingeräumt, es sei denn,
i) sie werden über die Annullierung mindestens zwei Wochen vor der planmäßigen Abflugzeit unterrichtet, oder
ii) sie werden über die Annullierung in einem Zeitraum zwischen zwei Wochen und sieben Tagen vor der planmäßigen Abflugzeit unterrichtet und erhalten ein Angebot zur anderweitigen Beförderung, das es ihnen ermöglicht, nicht mehr als zwei Stunden vor der planmäßigen Abflugzeit abzufliegen und ihr Endziel höchstens vier Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit zu erreichen, oder
iii) sie werden über die Annullierung weniger als sieben Tage vor der planmäßigen Abflugzeit unterrichtet und erhalten ein Angebot zur anderweitigen Beförderung, das es ihnen ermöglicht, nicht mehr als eine Stunde vor der planmäßigen Abflugzeit abzufliegen und ihr Endziel höchstens zwei Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit zu erreichen.“
8 Art. 7 („Ausgleichsanspruch“) der Verordnung Nr. 261/2004 bestimmt:
„(1) Wird auf diesen Artikel Bezug genommen, so erhalten die Fluggäste Ausgleichszahlungen in folgender Höhe:
a) 250 EUR bei allen Flügen über eine Entfernung von 1 500 km oder weniger,
b) 400 EUR bei allen innergemeinschaftlichen Flügen über eine Entfernung von mehr als 1 500 km und bei allen anderen Flügen über eine Entfernung zwischen 1 500 km und 3 500 km,
c) 600 EUR bei allen nicht unter Buchstabe a) oder b) fallenden Flügen.
Bei der Ermittlung der Entfernung wird der letzte Zielort zugrunde gelegt, an dem der Fluggast infolge der Nichtbeförderung oder der Annullierung später als zur planmäßigen Ankunftszeit ankommt.
…
(4) Die in den Absätzen 1 und 2 genannten Entfernungen werden nach der Methode der Großkreisentfernung ermittelt.“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen
9 FW buchte bei Latam Airlines Hin- und Rückflüge zwischen Frankfurt am Main und Madrid. Der Hinflug sollte planmäßig am 22. Dezember 2017 stattfinden, der Rückflug am 7. Januar 2018.
10 Da es FW am 21. Dezember 2017 nicht gelang, für den Hinflug online einzuchecken, nahm sie Kontakt zu Latam Airlines auf. Diese teilte FW daraufhin mit, dass sie sie – einseitig und ohne sie davon zuvor zu unterrichten – auf einen früheren Flug am 20. Dezember 2017 umgebucht habe. Zugleich setzte Latam Airlines FW davon in Kenntnis, dass sie wegen des Nichtantritts ihres Hinflugs für den Rückflug am 7. Januar 2018 gesperrt worden sei.
11 Daraufhin buchte FW sowohl für den Hinflug als auch für den Rückflug Ersatzflüge bei anderen Luftfahrtunternehmen und zahlte für die entsprechenden Tickets 528,23 Euro. Latam Airlines leistete hierauf vorgerichtlich 101,55 Euro.
12 Mit Urteil vom 2. September 2021 verurteilte das Amtsgericht Frankfurt am Main (Deutschland) Latam Airlines dazu, an FW Schadensersatz in Höhe von 426,68 Euro, was dem Restbetrag für die Ticketkosten entspricht, sowie eine Ausgleichsleistung in Höhe von 250 Euro gemäß den Art. 5 und 7 der Verordnung Nr. 261/2004 zu zahlen. Das Amtsgericht wertete die Buchungsänderung für den von Latam Airlines auszuführenden Hinflug nämlich als Annullierung. Das Urteil ist insoweit rechtskräftig.
13 Dagegen wies das Amtsgericht die Klage von FW ab, soweit damit eine Ausgleichsleistung über weitere 250 Euro wegen der Verweigerung der Beförderung auf dem von ihr bei diesem Luftfahrtunternehmen gebuchten Rückflug geltend gemacht wurde. FW sei im Sinne von Art. 4 der Verordnung Nr. 261/2004 die Beförderung verweigert worden, auch wenn sie sich entgegen Art. 2 Buchst. j und Art. 3 Abs. 2 Buchst. a dieser Verordnung nicht zur Abfertigung bzw. am Flugsteig eingefunden habe. Da es aber für den Fluggast keinen Unterschied mache, ob die verweigerte Beförderung auf einer Annullierung des Fluges oder einer Nichtbeförderung – bei Aufrechterhaltung des Flugplans – beruhe, wandte das Amtsgericht Art. 5 Abs. 1 Buchst. c Ziff. i dieser Verordnung analog an. Infolgedessen sprach es FW diese zusätzliche Ausgleichsleistung nicht zu, da sie am 21. Dezember 2017 und damit mehr als zwei Wochen vor der geplanten Abflugzeit des ursprünglich gebuchten Rückflugs von der Nichtbeförderung unterrichtet worden sei.
14 FW legte gegen das Urteil vom 2. September 2021 beim vorlegenden Gericht, dem Landgericht Frankfurt am Main (Deutschland), Berufung ein. FW beanstandet die analoge Anwendung von Art. 5 Abs. 1 Buchst. c Ziff. i der Verordnung Nr. 261/2004 in Nichtbeförderungsfällen.
15 Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts wirft die vorliegende Rechtssache zwei Fragen zur Auslegung der Verordnung Nr. 261/2004 auf. Zunächst möchte es wissen, ob eine Nichtbeförderung im Sinne von Art. 4 der Verordnung gegeben sein kann, wenn ein ausführendes Luftfahrtunternehmen einen Fluggast im Voraus darüber unterrichtet, dass es ihn auf einem Flug, für den er eine bestätigte Buchung hat, nicht befördern wird. Werde dies bejaht, stelle sich sodann die Frage, ob Art. 5 Abs. 1 Buchst. c Ziff. i dieser Verordnung, der die Annullierung eines Fluges betreffe, auf den Fall der Nichtbeförderung analog angewandt werden könne.
16 Was den ersten Aspekt angeht, so führt das vorlegende Gericht aus, dass der Bundesgerichtshof (Deutschland) in einem Urteil vom 17. März 2015 u. a. festgestellt habe, dass im Fall einer sogenannten vorweggenommenen Beförderungsverweigerung, also bei einer dem Fluggast zuvor mitgeteilten Umbuchung auf einen anderen Flug oder – wie im vorliegenden Fall – einer Streichung von der Passagierliste, vom Fluggast nicht verlangt werden könne, sich dennoch zur Abfertigung bzw. am Flugsteig einzufinden. Angesichts des von der Verordnung Nr. 261/2004 angestrebten hohen Schutzniveaus könne von einem Fluggast nicht verlangt werden, sich zum Flughafen zu begeben und die Beförderung zu begehren, wenn bereits von Beginn an feststehe, dass ihm diese Mitnahme verweigert werde. Obgleich das vorlegende Gericht die Auslegung des Bundesgerichtshofs teilt, hält es die Vorlage an den Gerichtshof in Bezug auf diesen Aspekt für erforderlich.
17 Was den zweiten Aspekt angeht – und für den Fall, dass der Gerichtshof es zulassen sollte, dass der Fluggast im Fall der vorweggenommenen Beförderungsverweigerung eine Ausgleichszahlung erhalten kann, ohne sich zur Abfertigung oder am Flugsteig einfinden zu müssen –, meint das vorlegende Gericht, dass sich ein solcher Fluggast, auch wenn der Unionsgesetzgeber den Fall eines Fluggasts, dem die Beförderung im Voraus verweigert werde, nicht ausdrücklich vorgesehen habe, in derselben Situation wie ein Fluggast befinde, dessen Flug annulliert worden sei. Folglich sei gemäß dem Grundsatz der Gleichbehandlung im Fall einer Nichtbeförderung im Sinne von Art. 4 der Verordnung Nr. 261/2004 auf die Fluggäste Art. 5 Abs. 1 Buchst. c Ziff. i dieser Verordnung analog anzuwenden.
18 Das vorlegende Gericht weist jedoch darauf hin, dass im Fall einer Flugannullierung keine Ausgleichszahlung zu leisten ist, wenn der Fluggast über diese Annullierung mindestens zwei Wochen vorher unterrichtet wurde. Binnen einer solchen Frist könne der Fluggast sich auf die neue Situation einstellen, so dass die Ärgernisse und Unannehmlichkeiten, die durch den Ausgleichsanspruch nach Art. 7 der Verordnung Nr. 261/2004 entschädigt werden sollten, gar nicht erst einträten. Ebenso habe der Fluggast im Fall der vorweggenommenen Beförderungsverweigerung, wenn er hiervon mehr als zwei Wochen vor dem planmäßigen Abflug unterrichtet werde, hinreichend Zeit, sich auf diese Weigerung einzustellen und umzudisponieren. Für einen Fluggast sei es gleichgültig, ob er auf dem gebuchten Flug nicht befördert werde, weil der Flug insgesamt annulliert werde, oder ob ihm die Beförderung aus anderen Gründen, etwa wegen Überbuchung, verweigert werde. Die Folgen der von der Nichtbeförderung ausgehenden Unannehmlichkeiten seien nämlich dieselben wie bei der Annullierung eines Fluges. Wenn nach dem Willen des Verordnungsgebers im Fall der Annullierung eines Fluges ein Ausgleichsanspruch entfalle, wenn der Fluggast im Voraus informiert werde, müsse dies auch für den Fall einer vorweggenommenen Beförderungsverweigerung gelten. Andernfalls stünden die von einer Flugannullierung betroffenen Fluggäste deutlich besser da als die Fluggäste, denen die Beförderung verweigert werde, obwohl sich diese beiden Fluggastgruppen in einer vergleichbaren Situation befänden.
19 Unter diesen Umständen hat das Landgericht Frankfurt am Main beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
- Ist die Verordnung Nr. 261/2004 dahin gehend auszulegen, dass sich der Fluggast – wie von Art. 3 Abs. 2 bzw. Art. 2 Buchst. j dieser Verordnung gefordert – auch dann zu der angegebenen Zeit bzw. spätestens 45 Minuten vor der veröffentlichten Abflugzeit zur Abfertigung bzw. am Flugsteig eingefunden haben muss, um den Anwendungsbereich der Verordnung zu eröffnen und eine ausgleichspflichtige Nichtbeförderung gemäß Art. 4 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 7 der Verordnung zu begründen, obwohl das ausführende Luftfahrtunternehmen bereits zuvor angekündigt hat, den Fluggast nicht befördern zu wollen?
- Für den Fall, dass die Frage zu 1. bejaht wird:
Ist die Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen, dass Ausgleichsansprüche wegen Nichtbeförderung gemäß den Art. 4 und 7 in entsprechender Anwendung von Art. 5 Abs. 1 Buchst. c Ziff. i dieser Verordnung ausgeschlossen sind, wenn der Fluggast über die Beförderungsverweigerung mindestens zwei Wochen vor der planmäßigen Abflugzeit unterrichtet worden ist?
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
20 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 4 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 in Verbindung mit ihrem Art. 2 Buchst. j dahin auszulegen ist, dass ein ausführendes Luftfahrtunternehmen, das einen Fluggast im Voraus darüber unterrichtet hat, dass es ihm gegen seinen Willen die Beförderung auf einem Flug verweigern werde, für den er über eine bestätigte Buchung verfügt, dem Fluggast dann keine Ausgleichszahlung leisten muss, wenn er sich nicht unter den in Art. 3 Abs. 2 der Verordnung genannten Bedingungen am Flugsteig eingefunden hat.
21 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs verlangen sowohl die einheitliche Anwendung des Unionsrechts als auch der Gleichheitssatz, dass die Begriffe einer unionsrechtlichen Bestimmung, die für die Ermittlung ihres Sinns und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Union autonom und einheitlich auszulegen sind, wobei diese Auslegung unter Berücksichtigung nicht nur des Wortlauts der Bestimmung, sondern auch ihres Regelungszusammenhangs und des mit der fraglichen Regelung verfolgten Zwecks zu erfolgen hat (Urteile vom 18. Januar 1984, Ekro, 327/82, EU:C:1984:11, Rn. 11, und vom 25. Juni 2020, Ministerio Fiscal [Behörde, bei der ein Antrag auf internationalen Schutz wahrscheinlich gestellt wird], C‑36/20 PPU, EU:C:2020:495, Rn. 53).
22 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass Art. 4 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 bestimmt: „Wird Fluggästen gegen ihren Willen die Beförderung verweigert, so erbringt das ausführende Luftfahrtunternehmen diesen unverzüglich die Ausgleichsleistungen gemäß Artikel 7 [dieser Verordnung] und die Unterstützungsleistungen gemäß den Artikeln 8 und 9 [der Verordnung].“
23 Angesichts des Wortlauts dieses Art. 4 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 kann ein Fluggast die Ausgleichsleistung im Sinne dieser Bestimmung nur im Fall einer „Nichtbeförderung“ im Sinne von Art. 2 Buchst. j dieser Verordnung erhalten. Gemäß dieser Bestimmung bezeichnet der Ausdruck „Nichtbeförderung“ dabei „die Weigerung, Fluggäste zu befördern, obwohl sie sich unter den in Artikel 3 Absatz 2 [dieser Verordnung] genannten Bedingungen am Flugsteig eingefunden haben, sofern keine vertretbaren Gründe für die Nichtbeförderung gegeben sind, z. B. im Zusammenhang mit der Gesundheit oder der allgemeinen oder betrieblichen Sicherheit oder unzureichenden Reiseunterlagen“.
24 Da Art. 2 Buchst. j der Verordnung Nr. 261/2004 auf Art. 3 Abs. 2 dieser Verordnung verweist, ist darauf hinzuweisen, dass sich aus Art. 3 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 2 ergibt, dass in dem Fall, dass ein Fluggast, der – wie im vorliegenden Fall – für einen Flug, der auf einem Flughafen im Gebiet eines Mitgliedstaats angetreten wird, das den Bestimmungen des Vertrags unterliegt, über eine bestätigte Buchung verfügt, der Begriff „Nichtbeförderung“ voraussetzt, dass entweder dieser Fluggast sich – außer im Fall einer Annullierung gemäß Art. 5 der Verordnung – wie vorgegeben zu der zuvor schriftlich von dem Luftfahrtunternehmen, dem Reiseunternehmen oder einem zugelassenen Reisevermittler angegebenen Zeit zur Abfertigung oder, falls keine Zeit angegeben wurde, spätestens 45 Minuten vor der veröffentlichten Abflugzeit zur Abfertigung einfindet oder dass er von dem Luftfahrt- oder Reiseunternehmen von einem Flug, für den er eine Buchung besaß, auf einen anderen Flug verlegt wurde, ungeachtet des Grundes hierfür.
25 Im Hinblick auf die in den Rn. 22 bis 24 des vorliegenden Urteils genannten Bestimmungen ist erstens zu klären, ob der Begriff „Nichtbeförderung“ eine vorweggenommene Beförderungsverweigerung umfasst, also den Fall, dass ein ausführendes Luftfahrtunternehmen einen Fluggast im Voraus darüber unterrichtet, dass es sich gegen dessen Willen weigern wird, ihn auf einem Flug zu befördern, für den er über eine bestätigte Buchung verfügt, und zweitens, ob die Bedingung, dass sich der Fluggast zur Abfertigung einfinden muss, auch bei einer solchen vorweggenommenen Beförderungsverweigerung gilt.
26 Was den ersten Aspekt angeht, so ist darauf hinzuweisen, dass die Verordnung Nr. 261/2004 die Verordnung Nr. 295/91 aufgehoben hat, die einen Schutz gegen Nichtbeförderung eingeführt hatte. Mit dem Erlass der letztgenannten Verordnung wollte der Unionsgesetzgeber jedoch ausschließlich auf die übermäßige Überbuchungspraxis der Luftfahrtunternehmen reagieren. Daher beschränkte sich die Verordnung Nr. 295/91 gemäß ihrem Art. 1 auf die Einführung „eine[r] gemeinsame[n] Mindestregelung für den Fall …, dass Fluggäste auf einem überbuchten Linienflug … nicht befördert werden“ (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 4. Oktober 2012, Finnair, C‑22/11, EU:C:2012:604, Rn. 20, sowie vom 4. Oktober 2012, Rodríguez Cachafeiro und Martínez-Reboredo Varela-Villamor, C‑321/11, EU:C:2012:609, Rn. 22).
27 Dagegen ist im Begriff „Nichtbeförderung“ im Sinne von Art. 2 Buchst. j der Verordnung Nr. 261/2004 kein Hinweis auf den Grund zu finden, aus dem ein Luftfahrtunternehmen einem Fluggast die Beförderung verweigert. Somit knüpft der Wortlaut dieser Bestimmung eine solche Weigerung nicht mehr an eine vom Luftfahrtunternehmen aus wirtschaftlichen Gründen verursachte „Überbuchung“ des betreffenden Fluges. Damit hat der Unionsgesetzgeber den Anwendungsbereich des Begriffs „Nichtbeförderung“ erweitert, um sämtliche Fälle zu erfassen, in denen ein Luftfahrtunternehmen einem Fluggast die Beförderung verweigert (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 4. Oktober 2012, Finnair, C‑22/11, EU:C:2012:604, Rn. 19, 21 und 22, sowie vom 4. Oktober 2012, Rodríguez Cachafeiro und Martínez-Reboredo Varela-Villamor, C‑321/11, EU:C:2012:609, Rn. 21, 23 und 24).
28 Folglich umfasst der Begriff „Nichtbeförderung“ nach Art. 2 Buchst. j der Verordnung Nr. 261/2004 grundsätzlich eine vorweggenommene Beförderungsverweigerung, sofern der Fluggast sich rechtzeitig am Flugsteig eingefunden hat.
29 Diese Auslegung wird durch teleologische Erwägungen gestützt. Schlösse man eine vorweggenommene Beförderungsverweigerung vom Begriff „Nichtbeförderung“ im Sinne von Art. 2 Buchst. j der Verordnung Nr. 261/2004 aus, so würde der den Fluggästen durch diese Verordnung gewährte Schutz nämlich deutlich eingeschränkt. Somit liefe ein solcher Ausschluss dem Ziel der Verordnung zuwider, das nach ihrem ersten Erwägungsgrund darin besteht, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen, was eine weite Auslegung der ihnen zuerkannten Rechte rechtfertigt. Überdies wären dann Fluggäste, die sich – wie im Fall der Überbuchung aus wirtschaftlichen Gründen – in einer Situation befinden, für die sie nicht verantwortlich sind, völlig schutzlos gestellt, wenn ihnen die Möglichkeit genommen würde, sich auf Art. 4 der Verordnung zu berufen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Oktober 2012, Finnair, C‑22/11, EU:C:2012:604, Rn. 23 und 24).
30 Was den zweiten in Rn. 25 des vorliegenden Urteils genannten Aspekt angeht, legt die wörtliche Auslegung von Art. 2 Buchst. j der Verordnung Nr. 261/2004 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 2 dieser Verordnung nahe, dass eine „Nichtbeförderung“ eines Fluggasts nur vorliegen kann, wenn dieser sich am Flugsteig eingefunden hat.
31 Diese Auslegung kann jedoch im Fall einer vorweggenommenen Beförderungsverweigerung nicht zum Tragen kommen.
32 Denn zum einen ergibt sich, wie die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen ausgeführt hat, aus einer systematischen Analyse von Art. 3 Abs. 2 Buchst. b in Verbindung mit Art. 2 Buchst. j der Verordnung Nr. 261/2004, dass die Bedingung, wonach die Fluggäste sich am Flugsteig einfinden müssen, auch im Hinblick auf die Tatsache, dass eine Beförderungsverweigerung vorweggenommen werden kann, nicht unbedingt erfüllt sein muss, wenn die Fluggäste von einem Luftfahrtunternehmen oder Reiseunternehmen von einem Flug, für den sie eine Buchung besaßen, auf einen anderen Flug verlegt wurden. Eine solche Situation unterscheidet sich aber im Wesentlichen nicht von der des Fluggasts, der im Voraus vom Luftfahrtunternehmen unterrichtet wurde, dass es ihm die Beförderung auf dem Flug, für den er über eine bestätigte Buchung verfügt, verweigern werde. Dieser Fluggast muss also einen anderen Flug buchen, so als ob er im Voraus vom Luftfahrtunternehmen auf einen anderen Flug umgebucht worden wäre.
33 Zum anderen lässt das mit der Verordnung Nr. 295/91 verfolgte, in Rn. 26 des vorliegenden Urteils genannte Ziel erkennen, dass der Unionsgesetzgeber beim späteren Erlass von Art. 2 Buchst. j der Verordnung Nr. 261/2004 vor allem Fälle der Nichtbeförderung im Blick hatte, die – ebenso wie die Fälle der Überbuchung – im letzten Augenblick entstehen, nämlich zum Zeitpunkt der Ankunft der Fluggäste am Flughafen. In diesem Kontext ist es verständlich, dass der Unionsgesetzgeber in der Verordnung Nr. 261/2004 an der Bedingung festgehalten hat, dass der Fluggast sich zur Abfertigung einzufinden hat, da das Vorliegen solcher Fälle grundsätzlich erst bei der Abfertigung festgestellt werden kann.
34 Bei der Ausarbeitung der Verordnung Nr. 261/2004 hatte der Unionsgesetzgeber somit offensichtlich nicht die Situation im Blick, dass ein ausführendes Luftfahrtunternehmen schon vor dem geplanten Flug Fluggäste, die dafür über eine bestätigte Buchung verfügen, darüber unterrichtet, dass es sie nicht an Bord des für diesen Flug eingesetzten Flugzeugs nehmen werde.
35 Deswegen kann Art. 4 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 in Verbindung mit Art. 2 Buchst. j und Art. 3 Abs. 2 dieser Verordnung aber nicht dahin ausgelegt werden, dass damit ein bewusster Wille des Unionsgesetzgebers zum Ausdruck gebracht würde, für einen von einer vorweggenommenen Beförderungsverweigerung betroffenen Fluggast automatisch jede Ausgleichszahlung auszuschließen, weil er sich nicht am Flugsteig eingefunden hat. Daher ist davon auszugehen, dass diese Bestimmungen die Ausgleichszahlung für Nichtbeförderung nicht unter allen Umständen von der Bedingung abhängig machen, dass die betroffenen Fluggäste sich am Flugsteig eingefunden haben.
36 Dagegen trägt eine Auslegung der Verordnung Nr. 261/2004, wonach sich die Fluggäste, denen die Beförderung verweigert wird, nicht am Flugsteig einfinden müssen, um eine Ausgleichszahlung erhalten zu können – womit ihnen eine unnötige Formalität erspart bleibt –, zur Erreichung des mit dieser Verordnung verfolgten Ziels bei, das darin besteht, ein hohes Schutzniveau zu gewährleisten.
37 Den Erwägungsgründen 1 bis 4 der Verordnung Nr. 261/2004 und insbesondere ihrem zweiten Erwägungsgrund ist nämlich zu entnehmen, dass diese Verordnung darauf abzielt, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste unabhängig davon sicherzustellen, ob sie von einer Nichtbeförderung oder einer Annullierung oder Verspätung eines Fluges betroffen sind, da sie alle von vergleichbaren Ärgernissen und großen Unannehmlichkeiten in Verbindung mit dem Luftverkehr betroffen sind (Urteile vom 19. November 2009, Sturgeon u. a., C‑402/07 und C‑432/07, EU:C:2009:716, Rn. 44, und vom 29. Juli 2019, Rusu, C‑354/18, EU:C:2019:637, Rn. 26). Daher sind die Vorschriften, mit denen den Fluggästen Ansprüche eingeräumt werden, einschließlich derjenigen, die einen Ausgleichsanspruch vorsehen, weit auszulegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. November 2009, Sturgeon u. a., C‑402/07 und C‑432/07, EU:C:2009:716, Rn. 45).
38 Folglich ergibt sich aus einer systematischen und teleologischen Auslegung von Art. 4 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 in Verbindung mit Art. 2 Buchst. j und Art. 3 Abs. 2 dieser Verordnung, dass ein Fluggast nicht verpflichtet ist, sich zur Abfertigung einzufinden, wenn ein ausführendes Luftfahrtunternehmen ihm im Voraus mitgeteilt hat, dass es ihm gegen seinen Willen die Beförderung auf einem Flug verweigern werde, für den er über eine bestätigte Buchung verfügt.
39 Nach alledem ist Art. 4 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 in Verbindung mit ihrem Art. 2 Buchst. j dahin auszulegen, dass ein ausführendes Luftfahrtunternehmen, das einen Fluggast im Voraus darüber unterrichtet hat, dass es ihm gegen seinen Willen die Beförderung auf einem Flug verweigern werde, für den er über eine bestätigte Buchung verfügt, dem Fluggast eine Ausgleichszahlung leisten muss, selbst wenn er sich nicht unter den in Art. 3 Abs. 2 der Verordnung genannten Bedingungen am Flugsteig eingefunden hat.
Zur zweiten Frage
40 Obwohl die zweite Frage nur für den Fall gestellt wurde, dass die erste Frage bejaht wird, hält der Gerichtshof ihre Beantwortung im Hinblick auf die in Rn. 17 des vorliegenden Urteils zusammengefassten Ausführungen des vorlegenden Gerichts für erforderlich. Es führt nämlich aus, dass eine Beantwortung der zweiten Frage erforderlich sei, falls der Gerichtshof in Beantwortung der ersten Frage davon ausgehe, dass ein Fluggast, der über eine vorweggenommene Beförderungsverweigerung unterrichtet worden sei, eine Ausgleichszahlung erhalten könne, ohne sich am Flugsteig einfinden zu müssen.
41 Mit dieser zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 5 Abs. 1 Buchst. c Ziff. i der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen ist, dass diese Bestimmung, die eine Ausnahme vom Ausgleichsanspruch der Fluggäste im Fall der Annullierung eines Fluges vorsieht, auch den Fall regelt, dass ein Fluggast mindestens zwei Wochen vor der planmäßigen Abflugzeit darüber unterrichtet wurde, dass das ausführende Luftfahrtunternehmen ihn gegen seinen Willen nicht befördern werde, so dass ihm kein Ausgleichsanspruch wegen Nichtbeförderung im Sinne von Art. 4 der Verordnung zustehen kann.
42 Es ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. c Ziff. i der Verordnung Nr. 261/2004 die von der Annullierung eines Fluges betroffenen Fluggäste gegen das ausführende Luftfahrtunternehmen einen Anspruch auf Ausgleichsleistungen gemäß Art. 7 dieser Verordnung haben, sofern sie nicht mindestens zwei Wochen vor der planmäßigen Abflugzeit über die Annullierung unterrichtet wurden. Zudem bestimmt Art. 4 Abs. 3 dieser Verordnung: „Wird Fluggästen gegen ihren Willen die Beförderung verweigert, so erbringt das ausführende Luftfahrtunternehmen diesen unverzüglich die Ausgleichsleistungen gemäß Artikel 7 [dieser Verordnung] und die Unterstützungsleistungen gemäß den Artikeln 8 und 9 [der Verordnung].“
43 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs rechtfertigt das Ziel der Verordnung Nr. 261/2004, das nach ihrem ersten Erwägungsgrund darin besteht, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen, eine weite Auslegung der ihnen zuerkannten Rechte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Oktober 2012, Finnair, C‑22/11, EU:C:2012:604, Rn. 23). Dagegen ist eine Ausnahme von den Bestimmungen, die Fluggästen Rechte gewähren, eng auszulegen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. Dezember 2008, Wallentin-Hermann, C‑549/07, EU:C:2008:771, Rn. 17, und vom 4. Oktober 2012, Finnair, C‑22/11, EU:C:2012:604, Rn. 38).
44 Daher ist Art. 5 Abs. 1 Buchst. c Ziff. i der Verordnung Nr. 261/2004 eng auszulegen, da diese Bestimmung das ausführende Luftfahrtunternehmen im Fall der Annullierung eines Fluges von der in Art. 7 der Verordnung vorgesehenen Ausgleichszahlung befreit, wenn es die Fluggäste mindestens zwei Wochen vor der planmäßigen Abflugzeit über die Annullierung des Fluges unterrichtet hat.
45 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Art. 5 Abs. 1 Buchst. c Ziff. i der Verordnung Nr. 261/2004 nicht den Fall einer Nichtbeförderung betrifft, sondern ausschließlich den einer Flugannullierung, also nach Art. 2 Buchst. l dieser Verordnung die Nichtdurchführung eines geplanten Fluges, für den zumindest ein Platz reserviert war.
46 Überdies sieht Art. 4 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 nicht vor, dass ein ausführendes Luftfahrtunternehmen dadurch von seiner Verpflichtung befreit werden kann, Fluggästen, die gegen ihren Willen nicht befördert werden, eine Ausgleichszahlung gemäß Art. 7 dieser Verordnung zu leisten, dass es die Fluggäste mindestens zwei Wochen vor der planmäßigen Abflugzeit darüber unterrichtet, dass ihnen die Beförderung verweigert werde (vgl. entsprechend Urteile vom 10. Januar 2006, IATA und ELFAA, C‑344/04, EU:C:2006:10, Rn. 37, sowie vom 4. Oktober 2012, Finnair, C‑22/11, EU:C:2012:604, Rn. 36). Infolgedessen muss gemäß dem in Rn. 44 des vorliegenden Urteils erwähnten Grundsatz der engen Auslegung die in Art. 5 Abs. 1 Buchst. c Ziff. i der Verordnung Nr. 261/2004 vorgesehene Ausnahme vom Ausgleichsanspruch allein auf die in dieser Bestimmung genannten Annullierungsfälle beschränkt bleiben und kann nicht auf die Fälle der Nichtbeförderung im Sinne von Art. 4 dieser Verordnung ausgedehnt werden.
47 Angesichts des in ihrem ersten Erwägungsgrund genannten Ziels der Verordnung Nr. 261/2004, nämlich ein hohes Schutzniveau für die Fluggäste sicherzustellen, kann ihr Art. 5 Abs. 1 Buchst. c Ziff. i somit im Zusammenhang mit einer Nichtbeförderung nicht entsprechend angewandt werden, um die Tragweite des Ausgleichsanspruchs nach Art. 4 Abs. 3 der Verordnung zu verringern.
48 Diese Auslegung wird nicht durch den vom vorlegenden Gericht angeführten Grundsatz der Gleichbehandlung in Frage gestellt. Wie von der Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen ausgeführt, kann dieser Grundsatz, nach dem vergleichbare Situationen nicht unterschiedlich und unterschiedliche Situationen nicht gleichbehandelt werden dürfen, es sei denn, dass eine solche Behandlung objektiv gerechtfertigt ist (Urteil vom 14. Juli 2022, Kommission/VW u. a., C‑116/21 P bis C‑118/21 P, C‑138/21 P und C‑139/21 P, EU:C:2022:557, Rn. 95 und die dort angeführte Rechtsprechung), im vorliegenden Fall keine Anwendung finden, da – wie sich aus den Rn. 45 und 46 des vorliegenden Urteils ergibt – die Situationen, die zu Nichtbeförderungen oder zu Flugannullierungen führen, insoweit nicht vergleichbar sind, als sie vom Unionsgesetzgeber in den Art. 4 und 5 der Verordnung Nr. 261/2004 gesondert geregelt und für sie zum Teil unterschiedliche rechtliche Vorschriften vorgesehen worden sind, etwa eine Ausnahme vom Anspruch auf Ausgleichsleistungen in Art. 5 Abs. 1 Buchst. c Ziff. i, nicht aber in Art. 4 Abs. 3 dieser Verordnung.
49 Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 5 Abs. 1 Buchst. c Ziff. i der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen ist, dass diese Bestimmung, die eine Ausnahme vom Ausgleichsanspruch der Fluggäste im Fall der Annullierung eines Fluges vorsieht, nicht den Fall regelt, dass ein Fluggast mindestens zwei Wochen vor der planmäßigen Abflugzeit darüber unterrichtet wurde, dass das ausführende Luftfahrtunternehmen ihn gegen seinen Willen nicht befördern werde, so dass ihm ein Ausgleichsanspruch wegen Nichtbeförderung im Sinne von Art. 4 der Verordnung zusteht.
Kosten
50 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt:
- Art. 4 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs‑ und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 in Verbindung mit Art. 2 Buchst. j der Verordnung Nr. 261/2004
ist dahin auszulegen, dass
ein ausführendes Luftfahrtunternehmen, das einen Fluggast im Voraus darüber unterrichtet hat, dass es ihm gegen seinen Willen die Beförderung auf einem Flug verweigern werde, für den er über eine bestätigte Buchung verfügt, dem Fluggast eine Ausgleichszahlung leisten muss, selbst wenn er sich nicht unter den in Art. 3 Abs. 2 der Verordnung genannten Bedingungen am Flugsteig eingefunden hat.
- Art. 5 Abs. 1 Buchst. c Ziff. i der Verordnung Nr. 261/2004
ist dahin auszulegen, dass
diese Bestimmung, die eine Ausnahme vom Ausgleichsanspruch der Fluggäste im Fall der Annullierung eines Fluges vorsieht, nicht den Fall regelt, dass ein Fluggast mindestens zwei Wochen vor der planmäßigen Abflugzeit darüber unterrichtet wurde, dass das ausführende Luftfahrtunternehmen ihn gegen seinen Willen nicht befördern werde, so dass ihm ein Ausgleichsanspruch wegen Nichtbeförderung im Sinne von Art. 4 der Verordnung zusteht.
Unterschriften