EuGH, Beschluss v. 6. Oktober 2021, C‑253/21

Ein Flug, der auf einem Ausweichflughafen endet, ist annulliert i.S.d. VO.

Leitsatz der Kanzlei Woicke

In der Rechtssache C‑253/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landgericht Hamburg (Deutschland) mit Entscheidung vom 9. April 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 22. April 2021, in dem Verfahren

FI,

RE

gegen

TUIfly GmbH

erlässt

DER GERICHTSHOF (Neunte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten N. Piçarra sowie des Richters D. Šváby (Berichterstatter) und der Richterin K. Jürimäe,

Generalanwalt: P. Pikamäe,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund der nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Entscheidung, gemäß Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden,

folgenden

Beschluss

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 5, 7 und 8 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (ABl. 2004, L 46, S. 1).

2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen FI und RE auf der einen und der TUIfly GmbH, einem Luftfahrtunternehmen, auf der anderen Seite über deren Weigerung, diesen Fluggästen, deren Flug zu einem anderen als dem in der ursprünglichen Buchung vorgesehenen Flughafen umgeleitet wurde, Ausgleichsleistungen zu zahlen.

Rechtlicher Rahmen

3 Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Verordnung Nr. 261/2004 bestimmt:

„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck

l) ‚Annullierung‘ die Nichtdurchführung eines geplanten Fluges, für den zumindest ein Platz reserviert war.“

4 In Art. 5 („Annullierung“) Abs. 1 dieser Verordnung heißt es:

„(1) Bei Annullierung eines Fluges werden den betroffenen Fluggästen

c) vom ausführenden Luftfahrtunternehmen ein Anspruch auf Ausgleichsleistungen gemäß Artikel 7 eingeräumt, es sei denn,

iii) sie werden über die Annullierung weniger als sieben Tage vor der planmäßigen Abflugzeit unterrichtet und erhalten ein Angebot zur anderweitigen Beförderung, das es ihnen ermöglicht, nicht mehr als eine Stunde vor der planmäßigen Abflugzeit abzufliegen und ihr Endziel höchstens zwei Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit zu erreichen.“

5 Art. 7 („Ausgleichsanspruch“) dieser Verordnung sieht in Abs. 1 vor:

„Wird auf diesen Artikel Bezug genommen, so erhalten die Fluggäste Ausgleichszahlungen in folgender Höhe:

a) 250 EUR bei allen Flügen über eine Entfernung von 1 500 km oder weniger,

b) 400 EUR bei allen innergemeinschaftlichen Flügen über eine Entfernung von mehr als 1 500 km und bei allen anderen Flügen über eine Entfernung zwischen 1 500 km und 3 500 km,

c) 600 EUR bei allen nicht unter Buchstabe a) oder b) fallenden Flügen.

Bei der Ermittlung der Entfernung wird der letzte Zielort zugrunde gelegt, an dem der Fluggast infolge der Nichtbeförderung oder der Annullierung später als zur planmäßigen Ankunftszeit ankommt.“

6 Art. 8 („Anspruch auf Erstattung oder anderweitige Beförderung“) dieser Verordnung bestimmt in Abs. 3:

„Befinden sich an einem Ort, in einer Stadt oder Region mehrere Flughäfen und bietet ein ausführendes Luftfahrtunternehmen einem Fluggast einen Flug zu einem anderen als dem in der ursprünglichen Buchung vorgesehenen Zielflughafen an, so trägt das ausführende Luftfahrtunternehmen die Kosten für die Beförderung des Fluggastes von dem anderen Flughafen entweder zu dem in der ursprünglichen Buchung vorgesehenen Zielflughafen oder zu einem sonstigen nahe gelegenen, mit dem Fluggast vereinbarten Zielort.“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

7 FI und RE buchten bei dem Luftfahrtunternehmen TUIfly einen Flug von Gran Canaria (Spanien) nach Hamburg (Deutschland).

8 Dieser Flug sollte am 8. Juni 2018 um 17.10 Uhr in Gran Canaria abheben und am selben Tag um 22.55 Uhr in Hamburg landen.

9 Da der Flug jedoch leicht verspätet war, konnte er wegen des Nachtflugverbots nicht in Hamburg landen und wurde zum Flughafen Hannover (Deutschland) umgeleitet.

10 Die Fluggäste wurden mit dem Reisebus von Hannover nach Hamburg transportiert, wo sie mit einer Verspätung von weniger als drei Stunden ankamen.

11 Die Entfernung zwischen Gran Canaria und Hamburg beträgt nach der Großkreismethode mehr als 3 500 Kilometer.

12 Da TUIfly sich weigerte, die in Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 261/2004 vorgesehene Ausgleichsleistung in Höhe von 400 Euro pro Person zu zahlen, erhoben FI und RE Klage beim Amtsgericht Hamburg (Deutschland). Mit Urteil vom 24. Juni 2020 gab dieses Gericht den Anträgen von FI und RE auf Ausgleichsleistung statt, weil es der Auffassung war, dass die Umleitung des Fluges nach Hannover eine Änderung des Flugplans darstellte, die einer Annullierung des Fluges gleichkomme.

13 TUIfly legte gegen dieses Urteil beim Landgericht Hamburg (Deutschland) Berufung ein und machte geltend, dass der Flug nicht annulliert worden sei, sondern dass es nur zu einer Ankunftsverspätung von weniger als drei Stunden gekommen sei.

14 Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts hängt die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits davon ab, ob die Umleitung des Fluges zu einem Ausweichflughafen und der darauf folgende Bustransport zum ursprünglich vorgesehenen Zielflughafen mit einer Ankunftsverspätung von weniger als drei Stunden einer „Annullierung“ im Sinne der Verordnung Nr. 261/2004 gleichkommt, die einen Ausgleichsanspruch nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. c in Verbindung mit Art. 7 dieser Verordnung auslösen kann. Hierzu führt das vorlegende Gericht aus, dass die fragliche Verspätung nicht auf außergewöhnliche Umstände zurückzuführen sei und der Ausweichflughafen nicht denselben Ort, dieselbe Stadt oder dieselbe Region wie der ursprüngliche Zielflughafen bedient.

15 Unter diesen Umständen hat das Landgericht Hamburg beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Sind Art. 5 Abs. 1 lit. c Nr. iii, Art. 7 Abs. 1 und Art. 8 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 dahin gehend auszulegen, dass eine Annullierung eines Fluges vorliegt, wenn der Flug an einem anderen nicht in der Buchung vorgesehenen Ankunftsflughafen landet, der nicht in derselben Stadt, am selben Ort oder in derselben Region des in der Buchung vorgesehenen Zielflughafens liegt und die Fluggäste anschließend von diesem Flughafen mit einem Reisebus zum in der ursprünglichen Buchung vorgesehenen Zielflughafen gebracht werden, den die Fluggäste mit einer Ankunftsverspätung von weniger als drei Stunden erreichen?

Zur Vorlagefrage

16 Gemäß Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs kann dieser auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts jederzeit die Entscheidung treffen, durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden, wenn die Antwort auf eine zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage klar aus der Rechtsprechung abgeleitet werden kann oder wenn die Beantwortung einer solchen Frage keinen Raum für vernünftige Zweifel lässt.

17 Da dies hier der Fall ist, ist diese Bestimmung anzuwenden.

18 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 5 Abs. 1 Buchst. c, Art. 7 Abs. 1 und Art. 8 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen sind, dass ein Fluggast einen Ausgleichsanspruch wegen Annullierung hat, wenn sein Flug umgeleitet wurde und auf einem anderen als dem in der ursprünglichen Buchung vorgesehenen Zielflughafen landet, der nicht denselben Ort, dieselbe Stadt oder dieselbe Region bedient.

19 Es ist darauf hinzuweisen, dass Art. 2 Buchst. l dieser Verordnung „Annullierung“ definiert als „die Nichtdurchführung eines geplanten Fluges, für den zumindest ein Platz reserviert war“.

20 Hierzu hat der Gerichtshof entschieden, dass es sich bei einem Flug im Wesentlichen um einen Luftbeförderungsvorgang handelt, der somit in gewisser Weise eine „Einheit“ dieser Beförderung darstellt, die von einem Luftfahrtunternehmen durchgeführt wird, das die entsprechende Flugroute festlegt (Urteil vom 10. Juli 2008, Emirates Airlines, C‑173/07, EU:C:2008:400, Rn. 40). Außerdem ist die Flugroute ein wesentliches Element des Fluges, der nach einem von dem Luftfahrtunternehmen im Voraus aufgestellten Flugplan durchgeführt wird (Urteil vom 19. November 2009, Sturgeon u. a., C‑402/07 und C‑432/07, EU:C:2009:716, Rn. 30).

21 Da der Begriff „Flugroute“ somit die Strecke bezeichnet, die das Flugzeug vom Ausgangsflughafen zum Bestimmungsflughafen in einer festgelegten Abfolge zurückzulegen hat, reicht es folglich, damit ein Flug als durchgeführt betrachtet werden kann, nicht aus, dass das Flugzeug gemäß der geplanten Flugroute gestartet ist, sondern es muss auch seinen nach dieser Flugroute vorgesehenen Bestimmungsort erreichen (Urteil vom 13. Oktober 2011, Sousa Rodríguez u. a., C‑83/10, EU:C:2011:652, Rn. 28, sowie Beschluss vom 5. Oktober 2016, Wunderlich, C‑32/16, EU:C:2016:753, Rn. 21).

22 Somit kann ein Flug nicht als durchgeführt angesehen werden, wenn er zu einem anderen Flughafen als dem ursprünglich vorgesehenen Zielflughafen umgeleitet wurde, so dass dieser Flug grundsätzlich als annullierter Flug im Sinne von Art. 2 Buchst. l der Verordnung Nr. 261/2004 anzusehen ist, der einen Ausgleichsanspruch nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. c in Verbindung mit Art. 7 dieser Verordnung auslösen kann (Urteil vom 22. April 2021, Austrian Airlines, C‑826/19, EU:C:2021:318, Rn. 36).

23 In dem besonderen Fall, dass der Ausweichflughafen, zu dem der Flug umgeleitet wurde, denselben Ort, dieselbe Stadt oder dieselbe Region wie der in der ursprünglichen Buchung vorgesehene Zielflughafen bedient, hat der Gerichtshof Art. 5 Abs. 1 Buchst. c, Art. 7 Abs. 1 und Art. 8 Abs. 3 dieser Verordnung jedoch dahin ausgelegt, dass dieser umgeleitete Flug nicht als „annullierter Flug“ anzusehen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. April 2021, Austrian Airlines, C‑826/19, EU:C:2021:318, Rn. 37 und 44).

24 Hierzu hat der Gerichtshof entschieden, dass sich die in Art. 8 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 enthaltenen Begriffe „Ort, Stadt oder Region“ weniger auf eine bestimmte nach dem innerstaatlichen Recht festgelegte Verwaltungs- oder politische Einheit unterhalb der gesamtstaatlichen Ebene beziehen, sondern vielmehr auf ein Gebiet, das dadurch gekennzeichnet ist, dass in seiner unmittelbaren Nähe Flughäfen vorhanden sind, die es bedienen können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. April 2021, Austrian Airlines, C‑826/19, EU:C:2021:318, Rn. 23 bis 29).

25 Im vorliegenden Fall ist das vorlegende Gericht von der Prämisse ausgegangen, dass der Flughafen Hannover nicht denselben Ort, dieselbe Stadt oder dieselbe Region bedient wie der in der ursprünglichen Buchung als Zielflughafen vorgesehene Flughafen Hamburg und dass er somit nicht die Voraussetzung der unmittelbaren Nähe im Sinne der in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Beschlusses angeführten Rechtsprechung erfüllt.

26 Daraus folgt, dass der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Flug nicht unter Art. 8 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 fällt und daher als annulliert im Sinne der in den Rn. 20 bis 22 des vorliegenden Beschlusses angeführten Rechtsprechung anzusehen ist.

27 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 5 Abs. 1 Buchst. c, Art. 7 Abs. 1 und Art. 8 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen sind, dass ein Fluggast einen Ausgleichsanspruch wegen Annullierung hat, wenn sein Flug umgeleitet wurde und auf einem anderen als dem in der ursprünglichen Buchung vorgesehenen Zielflughafen landet, der nicht denselben Ort, dieselbe Stadt oder dieselbe Region bedient.

Kosten

28 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Neunte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 5 Abs. 1 Buchst. c, Art. 7 Abs. 1 und Art. 8 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 sind dahin auszulegen, dass ein Fluggast einen Ausgleichsanspruch wegen Annullierung hat, wenn sein Flug umgeleitet wurde und auf einem anderen als dem in der ursprünglichen Buchung vorgesehenen Zielflughafen landet, der nicht denselben Ort, dieselbe Stadt oder dieselbe Region bedient.

Unterschriften

Quelle:

https://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=261%252F2004&docid=247736&pageIndex=0&doclang=de&mode=req&dir=&occ=first&part=1&cid=181111#ctx1