Art. 4 – Nichtbeförderung

Gesetzestext

(1) Ist für ein ausführendes Luftfahrtunternehmen nach vernünftigem Ermessen absehbar, dass Fluggästen die Beförderung zu verweigern ist, so versucht es zunächst, Fluggäste gegen eine entsprechende Gegenleistung unter Bedingungen, die zwischen dem betreffenden Fluggast und dem ausführenden Luftfahrtunternehmen zu vereinbaren sind, zum freiwilligen Verzicht auf ihre Buchungen zu bewegen. Die Freiwilligen sind gemäß Artikel 8 zu unterstützen, wobei die Unterstützungsleistungen zusätzlich zu dem in diesem Absatz genannten Ausgleich zu gewähren sind.

(2) Finden sich nicht genügend Freiwillige, um die Beförderung der verbleibenden Fluggäste mit Buchungen mit dem betreffenden Flug zu ermöglichen, so kann das ausführende Luftfahrtunternehmen Fluggästen gegen ihren Willen die Beförderung verweigern.

(3) Wird Fluggästen gegen ihren Willen die Beförderung verweigert, so erbringt das ausführende Luftfahrtunternehmen diesen unverzüglich die Ausgleichsleistungen gemäß Artikel 7 und die Unterstützungsleistungen gemäß den Artikeln 8 und 9.

Kommentierung

Abs. 3

Vorweggenommene Beförderungsverweigerung

Wird dem Fluggast die Beförderung bereits im Vorfeld verweigert, braucht er sich entgegen des Wortlauts von Art. 2 Buchst. j nicht am Flugstein einzufinden. Dies folgt aus der systematischen und teleologischen Auslegung der Norm. Er wird hierzu regelmäßig auch gar nicht in der Lage sein, da der Fluggast eine Bordkarte benötigt, um zum Abfluggate zu gelangen, die er aber nicht erhält, wenn er von der Passagierliste gestrichen wurde.

"Art. 4 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs‑ und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 in Verbindung mit Art. 2 Buchst. j der Verordnung Nr. 261/2004
ist dahin auszulegen, dass

ein ausführendes Luftfahrtunternehmen, das einen Fluggast im Voraus darüber unterrichtet hat, dass es ihm gegen seinen Willen die Beförderung auf einem Flug verweigern werde, für den er über eine bestätigte Buchung verfügt, dem Fluggast eine Ausgleichszahlung leisten muss, selbst wenn er sich nicht unter den in Art. 3 Abs. 2 der Verordnung genannten Bedingungen am Flugsteig eingefunden hat."

EuGH, Urteil v. 26. Oktober 2023, C‑238/22

Unzutreffende Unterrichtung des Reiseveranstalters über Annullierung

Wird Fluggast vom Veranstalter einer Pauschalreise darüber unterrichtet, dass sein Flug vom Luftfahrtunternehmen annulliert wurde, während er in Wahrheit durchgeführt wird, und erscheint er deswegen nicht zur Abfertigung, liegt eine Nichtbeförderung vor. Das gilt auch dann, wenn das ausführende Luftfahrtunternehmen nicht dazu beigetragen hat, dass der Fluggast falsch informiert wurde.

"Art. 4 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 in Verbindung mit Art. 2 Buchst. j der Verordnung Nr. 261/2004

ist dahin auszulegen, dass

ein Fluggast, der im Rahmen einer Pauschalreise eine bestätigte Buchung für einen Flug hatte, vom ausführenden Luftfahrtunternehmen die Ausgleichsleistung im Sinne von Art. 7 Abs. 1 der Verordnung verlangen kann, wenn der Reiseveranstalter dem Fluggast – ohne zuvor das Luftfahrtunternehmen hierüber zu informieren – mitgeteilt hat, dass der ursprünglich vorgesehene Flug nicht durchgeführt werde, obwohl dieser wie vorgesehen stattfand."

EuGH, Urteil v. 17. Oktober 2024, C‑650/23 und C‑705/23

Ausgleichsanspruch auch bei frühzeitiger Beförderungsverweigerung

Erfolgt die Weigerung, den Fluggast zu befördern, zwei Wochen oder mehr vor der geplanten Durchführung des Fluges, entbindet dies das ausführende Luftfahrtunternehmen nicht von seiner Pflicht zur Ausgleichszahlung. Die Regelung des Art. 5 Abs. 1 Buchst. c Ziff. i, die eine Ausnahme von der Ausgleichspflicht bei Annullierungen vorsieht, ist nicht analog auf den Tatbestand der Nichtbeförderung anzuwenden. Der Grundsatz der Gleichbehandlung werde, so der EuGH, nicht verletzt, da „die Situationen, die zu Nichtbeförderungen oder zu Flugannullierungen führen, insoweit nicht vergleichbar sind“; EuGH, Urteil v. 26. Oktober 2023, C‑238/22, Rn. 48.

"Art. 5 Abs. 1 Buchst. c Ziff. i der Verordnung Nr. 261/2004

ist dahin auszulegen, dass

diese Bestimmung, die eine Ausnahme vom Ausgleichsanspruch der Fluggäste im Fall der Annullierung eines Fluges vorsieht, nicht den Fall regelt, dass ein Fluggast mindestens zwei Wochen vor der planmäßigen Abflugzeit darüber unterrichtet wurde, dass das ausführende Luftfahrtunternehmen ihn gegen seinen Willen nicht befördern werde, so dass ihm ein Ausgleichsanspruch wegen Nichtbeförderung im Sinne von Art. 4 der Verordnung zusteht."

EuGH, Urteil v. 26. Oktober 2023, C‑238/22

Art. 3 – Anwendungsbereich

Gesetzestext

(1) Diese Verordnung gilt

a) für Fluggäste, die auf Flughäfen im Gebiet eines Mitgliedstaats, das den Bestimmungen des Vertrags unterliegt, einen Flug antreten;

b) sofern das ausführende Luftfahrtunternehmen ein Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft ist, für Fluggäste, die von einem Flughafen in einem Drittstaat einen Flug zu einem Flughafen im Gebiet eines Mitgliedstaats, das den Bestimmungen des Vertrags unterliegt, antreten, es sei denn, sie haben in diesem Drittstaat Gegen- oder Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen erhalten.

(2) Absatz 1 gilt unter der Bedingung, dass die Fluggäste

a) über eine bestätigte Buchung für den betreffenden Flug verfügen und - außer im Fall einer Annullierung gemäß Artikel 5 - sich

- wie vorgegeben und zu der zuvor schriftlich (einschließlich auf elektronischem Wege) von dem Luftfahrtunternehmen, dem Reiseunternehmen oder einem zugelassenen Reisevermittler angegebenen Zeit zur Abfertigung einfinden

oder, falls keine Zeit angegeben wurde,

- spätestens 45 Minuten vor der veröffentlichten Abflugzeit zur Abfertigung einfinden oder

b) von einem Luftfahrtunternehmen oder Reiseunternehmen von einem Flug, für den sie eine Buchung besassen, auf einen anderen Flug verlegt wurden, ungeachtet des Grundes hierfür.

(3) Diese Verordnung gilt nicht für Fluggäste, die kostenlos oder zu einem reduzierten Tarif reisen, der für die Öffentlichkeit nicht unmittelbar oder mittelbar verfügbar ist. Sie gilt jedoch für Fluggäste mit Flugscheinen, die im Rahmen eines Kundenbindungsprogramms oder anderer Werbeprogramme von einem Luftfahrtunternehmen oder Reiseunternehmen ausgegeben wurden.

(4) Diese Verordnung gilt nur für Fluggäste, die von Motorluftfahrzeugen mit festen Tragflächen befördert werden.

(5) Diese Verordnung gilt für alle ausführenden Luftfahrtunternehmen, die Beförderungen für Fluggäste im Sinne der Absätze 1 und 2 erbringen. Erfuellt ein ausführendes Luftfahrtunternehmen, das in keiner Vertragsbeziehung mit dem Fluggast steht, Verpflichtungen im Rahmen dieser Verordnung, so wird davon ausgegangen, dass es im Namen der Person handelt, die in einer Vertragsbeziehung mit dem betreffenden Fluggast steht.

(6) Diese Verordnung lässt die aufgrund der Richtlinie 90/314/EWG bestehenden Fluggastrechte unberührt. Diese Verordnung gilt nicht für Fälle, in denen eine Pauschalreise aus anderen Gründen als der Annullierung des Fluges annulliert wird.

Kommentierung

Abs. 1

Lediglich Zwischenlandung innerhalb der Gemeinschaft

Erfolgt bei einem einheitlich gebuchten Flug mit Umsteigen lediglich die Zwischenlandung auf einem Flughafen im Gebiet eines Mitgliedsstaats, befinden sich also der erste und der letzte Flughafen jeweils in einem Drittstaat, findet die Verordnung keine Anwendung.

"Art. 3 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 ist dahin auszulegen, dass diese Verordnung auf eine einheitlich gebuchte, aus zwei Teilflügen bestehende Flugverbindung mit Anschlussflug, bei der die Teilflüge von einem Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft durchzuführen sind, nicht anwendbar ist, wenn sich sowohl der Abflughafen des ersten Teilflugs als auch der Ankunftsflughafen des zweiten Teilflugs in einem Drittstaat befinden und nur der Flughafen, auf dem die Zwischenlandung erfolgt, im Gebiet eines Mitgliedstaats liegt."

Die Anwendbarkeit der Verordnung ist in dem Fall auch dann nicht gegeben, wenn eines der ausführenden Luftfahrtunternehmen seinen Sitz innerhalb der Gemeinschaft hat. Beispiel: Bucht der Fluggast einen Flug von einem Flughafen in Japan aus zu einem Flughafen in die USA mit Umstieg auf einem Flughafen in Deutschland, findet die Verordnung selbst dann keine Anwendung, sollte ausführend für beide Teilflüge mit der Deutschen Lufthansa AG ein Luftfahrtunternehmen mit Sitz in der Gemeinschaft sein.

Abs. 1 Buchst. a

Störung auf Teilflug außerhalb der Gemeinschaft

Kommt es bei einem Flug mit Umsteigen, der im Gebiet eines Mitgliedstaats beginnt und außerhalb der Gemeinschaft endet, zur Störung (Annullierung, Verspätung, Nichtbeförderung etc.) auf einem Teilflug, der außerhalb der Gemeinschaft beginnt und endet, findet die EU-VO auch dann Anwendung, wenn ausführend für diesen Flugabschnitt ein Unternehmen ist, das seinen Sitz in einem Drittstaat hat. Voraussetzung ist, dass sämtliche Flugabschnitte Teil einer einheitlichen Buchung sind; vgl. bei „direkten Anschlussflügen“ Kommentierung zu Art. 2 Buchst. h.

"Art. 3 Abs. 1 Buchst. a in Verbindung mit den Art. 6 und 7 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 ist dahin auszulegen, dass einem Fluggast eines Fluges mit Umsteigen – der zwei Teilflüge umfasst und Gegenstand einer einzigen Buchung bei einem Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft war – von einem Flughafen im Gebiet eines Mitgliedstaats zu einem Flughafen eines Drittstaats mit Zwischenlandung auf einem anderen Flughafen dieses Drittstaats ein Ausgleichsanspruch gegen ein Luftfahrtunternehmen eines Drittstaats, das den gesamten Flug im Namen des Luftfahrtunternehmens der Gemeinschaft handelnd durchgeführt hat, zusteht, wenn dieser Fluggast sein Endziel mit einer Verspätung von mehr als drei Stunden erreicht hat, die ihre Ursache im zweiten Teilflug hat."
EuGH, Urteil v. 7. April 2022, C‑561/20

Bei Flügen aus der Gemeinschaft hinaus, ist der Ort, an dem es zur Störung kommt, für die Frage der Anwendbarkeit der Verordnung ohne Bedeutung; EuGH, Urteil v. 7. April 2022, C‑561/20, Rn. 30.

Abs. 2 Buchst. a

Bestätigte Buchung

Begriff der „bestätigten Buchung“ ist nicht definiert. Wohl aber Begriff der „Buchung“ in Art. 2 Buchst. g als der „Umstand, dass der Fluggast über einen Flugschein oder einen anderen Beleg verfügt, aus dem hervorgeht, dass die Buchung von dem Luftfahrtunternehmen oder dem Reiseunternehmen akzeptiert und registriert wurde“.

Bordkarte

Eine Bordkarte kann einen „anderen Beleg“ darstellen, aus dem hervorgeht, dass Fluggast über eine Buchungsbestätigung verfügt. Das Luftfahrtunternehmen hat aber die Möglichkeit, den Nachweis zu erbringen, dass trotz Vorlage der Bordkarte ausnahmsweise keine Buchungsbestätigung vorliegt.

"Nach alledem ist auf die erste und die zweite Frage zu antworten, dass Art. 2 Buchst. g und Art. 3 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen sind, dass eine Bordkarte einen „anderen Beleg“ im Sinne der erstgenannten Bestimmung darstellen kann, aus dem hervorgeht, dass die Buchung von dem Luftfahrtunternehmen oder dem Reiseunternehmen akzeptiert und registriert wurde, so dass davon auszugehen ist, dass ein Fluggast, der über eine Bordkarte verfügt, eine „bestätigte Buchung“ im Sinne der letztgenannten Bestimmung für den betreffenden Flug hat, wenn kein besonderer, außergewöhnlicher Umstand nachgewiesen wird."
EuGH, Urteil v. 6. März 2025, C‑20/24, Rn. 33
Beleg des Reiseunternehmens

Beleg eines Reiseunternehmens, das dem Fluggast einen – durch die Flughäfen, die Flugzeiten und Flugnummer – individualisierten Flug verspricht, stellt eine „bestätigte Buchung“ im Sinne dieser Norm dar. Das gilt selbst dann, wenn das ausführende Luftfahrunternehmen dem Reiseunternehmen die Flugzeiten nicht bestätigt hat.

"Art. 3 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 ist dahin auszulegen, dass der Fluggast über eine „bestätigte Buchung“ im Sinne dieser Bestimmung verfügt, wenn er von dem Reiseunternehmen, mit dem er in einer Vertragsbeziehung steht, einen „anderen Beleg“ im Sinne von Art. 2 Buchst. g der Verordnung erhalten hat, durch den ihm die Beförderung auf einem bestimmten, durch Abflug- und Ankunftsort, Abflug- und Ankunftszeit und Flugnummer individualisierten Flug versprochen wird; dies gilt auch dann, wenn das Reiseunternehmen von dem betreffenden Luftfahrtunternehmen keine Bestätigung in Bezug auf die Abflug- und Ankunftszeit dieses Fluges erhalten hat."
EuGH, Urteil v. 21. Dezember 2021, C‑146/20, C‑188/20, C‑196/20 und C‑270/20

Im vom EuGH zu entscheidenden Fall verfügte der Fluggast über einen Beleg des Reiseunternehmens, in dem Flugzeiten genannt waren, deren Änderung es sich vorbehielt. Später teilte das ausführende Luftfahrtunternehmen dem Reiseunternehmen veränderte Flugzeiten mit, die es aber nicht an den Fluggast weiterreichte. Dieser verfügte aus Sicht des Gerichtshofs über eine bestätigte Buchung über einen Flug zu den ihm genannten Zeiten.

Einfinden zur Abfertigung

Fluggast muss sich – außer im Falle der Annullierung seines Fluges – zur vorgegebenen Zeit, falls keine Zeit angegeben wurde, 45 Minuten vor der veröffentlichten Abflugzeit, am Flughafen einfinden, „genauer gesagt bei einem Vertreter des ausführenden Luftfahrtunternehmens“; EuGH, Urteil v. 25. Januar 2024, C‑474/22, Rn. 21. Das gilt auch dann, wenn er sich vor seiner Anreise zum Flughafen online registriert hat („Online-Check-in“).

Große Verspätung des Fluges

Auch im Falle einer großen Verspätung, daher bei einem zu erwartenden Zeitverlust des Fluggastes von drei Stunden oder mehr, muss sich der Fluggast rechtzeitig zur abfertigung einfinden, um insbesondere die Ausgleichszahlung zu erhalten.

"Art. 3 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91

ist dahin auszulegen, dass

ein Fluggast, um die in Art. 5 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 dieser Verordnung vorgesehene Ausgleichszahlung im Fall einer großen Verspätung eines Fluges, d. h. einer Verspätung von drei Stunden oder mehr gegenüber der von dem Luftfahrtunternehmen ursprünglich geplanten Ankunftszeit, zu erhalten, sich rechtzeitig zur Abfertigung eingefunden haben muss oder, wenn er sich bereits online registriert hat, sich rechtzeitig am Flughafen bei einem Vertreter des ausführenden Luftfahrtunternehmens eingefunden haben muss."

EuGH, Urteil v. 25. Januar 2024, C‑474/22
Vorweggenommene Beförderungsverweigerung

Wird dem Fluggast die Beförderung bereits im Vorfeld verweigert – z.B. durch Umbuchung gegen seinen Willen -, braucht er sich über den Wortlaut der Verordnung hinaus nicht zur Abfertigung einfinden. Das ergebe sich laut EuGH aus der teleologischen sowie systematischen Auslegung v. Art. 4 Abs. 3 sowie Art. 3 Abs. 2 Buchst. a; EuGH, Urteil v. 26. Oktober 2023, C‑238/22, Rn. 38. Er braucht also nicht am Flughafen zu erscheinen.

Abs. 3

Verordnung gilt ausnahmsweise nicht für Fluggäste, die kostenlos oder zu einem reduzierten Tarif reisen, der für die Öffentlichkeit nicht unmittelbar oder mittelbar verfügbar ist. Ausnahme von der Ausnahme: Kostenlos oder zu einem reduzierten Tarif reisende Passagiere verfügen über Flugscheine, die im Rahmen eines Kundenbindungsprogramms oder anderer Werbeprogramme von einem Luftfahrtunternehmen oder Reiseunternehmen ausgegeben wurden.

Fluggast zahlt lediglich Luftverkehrssteuern & Gebühren

Zahlt Fluggast lediglich Luftverkehrssteuern & Gebühren, reist er nicht „kostenlos“ i.S.d. VO. Entsprechend findet die VO Anwendung. Eine solche Auslegung des nicht definierten Begriffs erfordert Verordnungs-Ziel, ein hohes Schutzniveau sicherzustellen.

"Art. 3 Abs. 3 Satz 1 erste Variante der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91

ist dahin auszulegen, dass

ein Fluggast nicht kostenlos im Sinne dieser Bestimmung reist, wenn er für seine Buchung ausschließlich Luftverkehrsteuern und Gebühren zu entrichten hatte."

EuGH, Urteil v. 16. Januar 2025, C‑516/23

Begrenztes Angebot, das sich an bestimmte Berufsgruppe wendet

Verordnung ist bei einem Angebot, kostenlos oder zu einem ermäßigten Tarif zu reisen, anwendbar, falls die begünstigte Gruppe von Personen unter den Begriff „Öffentlichkeit“ fällt. Dieser umfasst eine unbestimmte Zahl möglicher Adressaten und setzt im Übrigen recht viele Personen voraus. Wesentliches Kriterium ist mit dem EuGH, „ob das Luftfahrtunternehmen eine einzelfallbezogene Zustimmung vor Ausstellung des Beförderungsscheins vorsieht“; EuGH, Urteil v. 16. Januar 2025, C‑516/23, Rn. 35. In dem dort entschiedenen Fall, waren Angehörige der Gesundheitsberufe ohne einzelfallbezogene Zustimmung berechtigt, den vergünstigten Tarif zu nutzen. Entsprechend war der Tarif der Öffentlichkeit zugänglich und die VO anwendbar.

"Art. 3 Abs. 3 Satz 1 zweite Variante der Verordnung Nr. 261/2004

ist dahin auszulegen, dass

ein Fluggast nicht zu einem für die Öffentlichkeit nicht unmittelbar oder mittelbar verfügbaren reduzierten Tarif im Sinne dieser Bestimmung reist, wenn er seinen Flugschein im Rahmen einer Werbeaktion gebucht hat, die zeitlich sowie hinsichtlich der Menge der angebotenen Flugscheine begrenzt war und sich an eine bestimmte Berufsgruppe richtete."

EuGH, Urteil v. 16. Januar 2025, C‑516/23

Pauschalreise

Zahlt der Reiseveranstalter dem ausführenden Luftfahrtunternehmen ein marktübliches Entgelt für den Fluggast, reist dieser nicht kostenlos oder zu einem reduzierten Tarif i.S. der Norm. Er gelangt also in den Anwendungsbereich der VO. An dieser Wertung ändert sich auch dann nichts, wenn den Preis der Pauschalreise nicht der Fluggast selbst, sondern ein Dritter für ihn an den Reiseveranstalter gezahlt hat.

"Nach alledem ist auf die dritte bis fünfte Frage zu antworten, dass Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen ist, dass ein Fluggast nicht als im Sinne dieser Bestimmung kostenlos oder zu einem reduzierten Tarif, der für die Öffentlichkeit nicht unmittelbar oder mittelbar verfügbar ist, reisend gilt, wenn zum einen das Reiseunternehmen den Flugpreis an das ausführende Luftfahrtunternehmen zu marktüblichen Bedingungen zahlt und zum anderen der Preis für die Pauschalreise nicht vom Fluggast, sondern von einem Dritten an das Reiseunternehmen gezahlt wird."
EuGH, Urteil v. 6. März 2025, C‑20/24

Beweislast

Beweisbelastet dafür, dass der Fluggast kostenlos oder zu einem reduzierten Tarif reist und entsprechend auch nicht in den Anwendungsbereich der VO gelangt, ist das ausfühende Luftfahrtunternehmen.

"Das Luftfahrtunternehmen muss nach den im nationalen Recht vorgesehenen Modalitäten beweisen, dass der Fluggast kostenlos oder zu einem solchen reduzierten Tarif gereist ist."
EuGH, Urteil v. 6. März 2025, C‑20/24

Art. 2 – Begriffsbestimmungen

Gesetzestext

Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck

a) "Luftfahrtunternehmen" ein Lufttransportunternehmen mit einer gültigen Betriebsgenehmigung;

b) "ausführendes Luftfahrtunternehmen" ein Luftfahrtunternehmen, das im Rahmen eines Vertrags mit einem Fluggast oder im Namen einer anderen - juristischen oder natürlichen - Person, die mit dem betreffenden Fluggast in einer Vertragsbeziehung steht, einen Flug durchführt oder durchzuführen beabsichtigt;

c) "Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft" ein Luftfahrtunternehmen mit einer gültigen Betriebsgenehmigung, die von einem Mitgliedstaat gemäß der Verordnung (EWG) Nr. 2407/92 des Rates vom 23. Juli 1992 über die Erteilung von Betriebsgenehmigungen an Luftfahrtunternehmen(5) erteilt wurde;

d) "Reiseunternehmen" einen Veranstalter im Sinne von Artikel 2 Nummer 2 der Richtlinie 90/314/EWG des Rates vom 13. Juni 1990 über Pauschalreisen(6), mit Ausnahme von Luftfahrtunternehmen;

e) "Pauschalreise" die in Artikel 2 Nummer 1 der Richtlinie 90/314/EWG definierten Leistungen;

f) "Flugschein" ein gültiges, einen Anspruch auf Beförderungsleistung begründendes Dokument oder eine gleichwertige papierlose, auch elektronisch ausgestellte Berechtigung, das bzw. die von dem Luftfahrtunternehmen oder dessen zugelassenem Vermittler ausgegeben oder genehmigt wurde;

g) "Buchung" den Umstand, dass der Fluggast über einen Flugschein oder einen anderen Beleg verfügt, aus dem hervorgeht, dass die Buchung von dem Luftfahrtunternehmen oder dem Reiseunternehmen akzeptiert und registriert wurde;

h) "Endziel" den Zielort auf dem am Abfertigungsschalter vorgelegten Flugschein bzw. bei direkten Anschlussfluegen den Zielort des letzten Fluges; verfügbare alternative Anschlussfluege bleiben unberücksichtigt, wenn die planmäßige Ankunftszeit eingehalten wird;

i) "Person mit eingeschränkter Mobilität" eine Person, deren Mobilität bei der Benutzung von Beförderungsmitteln aufgrund einer körperlichen Behinderung (sensorischer oder motorischer Art, dauerhaft oder vorübergehend), einer geistigen Beeinträchtigung, ihres Alters oder aufgrund anderer Behinderungen eingeschränkt ist und deren Zustand besondere Unterstützung und eine Anpassung der allen Fluggästen bereitgestellten Dienstleistungen an die Bedürfnisse dieser Person erfordert;

j) "Nichtbeförderung" die Weigerung, Fluggäste zu befördern, obwohl sie sich unter den in Artikel 3 Absatz 2 genannten Bedingungen am Flugsteig eingefunden haben, sofern keine vertretbaren Gründe für die Nichtbeförderung gegeben sind, z. B. im Zusammenhang mit der Gesundheit oder der allgemeinen oder betrieblichen Sicherheit oder unzureichenden Reiseunterlagen;

k) "Freiwilliger" eine Person, die sich unter den in Artikel 3 Absatz 2 genannten Bedingungen am Flugsteig eingefunden hat und dem Aufruf des Luftfahrtunternehmens nachkommt, gegen eine entsprechende Gegenleistung von ihrer Buchung zurückzutreten;

l) "Annullierung" die Nichtdurchführung eines geplanten Fluges, für den zumindest ein Platz reserviert war.

Kommentierung

Buchst. b

Einstufung als ausführendes Luftfahrtunternehmen“ setzt Flugplanung voraus

Voraussetzung dafür, dass ein Luftfahrtunternehmen „ausführend“ i.S.d. Verordnung sein kann, ist, dass es zu irgendeinem Zeitpunkt einen durch Flugnummer und Datum konkretisierten Flug auf der entsprechenden Strecke geplant hat. Unerhablich ist es, wenn es das Angebot dieses Fluges später geändert hat.

"Art. 2 Buchst. b der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs‑ und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91


ist dahin auszulegen, dass


ein Luftfahrtunternehmen nicht als „ausführendes Luftfahrtunternehmen“ im Sinne dieser Bestimmung eingestuft werden kann, wenn der Fluggast mit einem Reiseunternehmen einen Vertrag über einen bestimmten, durch Flugnummer und Datum konkretisierten Flug dieses Luftfahrtunternehmens geschlossen hat, ohne dass das Unternehmen je einen Flug mit dieser Nummer an diesem Tag geplant hat; es kann aber als „ausführendes Luftfahrtunternehmen“ im Sinne dieser Bestimmung angesehen werden, wenn es ein – gegebenenfalls später von ihm geändertes – Angebot unterbreitet hat."

EuGH, Beschluss v. 10. März 2023, C‑607/22

Buchung für den Fluggast durch Reiseunternehmen ist keine Voraussetzung

Ein Luftfahrtunternehmen kann auch dann als „ausführend“ eingestuft werden, wenn ein Reiseunternehmen, das in vertraglicher Beziehung zum Fluggast steht, für diesen (noch) keine Buchung bei ihm vorgenommen hat. Ebenso ist es nicht erforderlich, dass das Luftfahrt- dem Reiseunternehmen die Flugzeiten bestätigt hat.

"Art. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 261/2004 ist dahin auszulegen, dass ein Luftfahrtunternehmen im Verhältnis zu einem Fluggast als „ausführendes Luftfahrtunternehmen“ im Sinne dieser Bestimmung eingestuft werden kann, wenn der Fluggast mit einem Reiseunternehmen einen Vertrag für einen bestimmten Flug dieses Luftfahrtunternehmens geschlossen hat, ohne dass das Luftfahrtunternehmen die Flugzeiten bestätigt hat und ohne dass das Reiseunternehmen bei dem Luftfahrtunternehmen eine Buchung für den Fluggast vorgenommen hat."
EuGH, Urteil v. 21. Dezember 2021, C‑146/20, C‑188/20, C‑196/20 und C‑270/20

Wenn also einem Fluggast vom Reiseunternehmen fehlerhafte Flugzeiten mitgeteilt werden und/oder dieses für ihn beim Luftfahrtunternehmen gar keine Buchung vorgenommen hat, kann es sich nicht mit der Begründung gegen Ansprüche aus dieser Verordnung wehren, es sei nicht „ausführende Luftfahrunternehmen“.

Durchführung lediglich eines Teilflugs

Bei einheitlich gebuchten Flügen, die aus mindestens zwei Teilflügen bestehen, ist jedes Luftfahrtunternehmen, das verpflichtet ist, zumindest einen Teilflug durchzuführen, „ausführend“ und kann mithin auf die Leistungen aus dieser Voerordnung in Anspruch genommen werden. Nicht erforderlich ist, dass der Beförderungsvertrag mit dem in Anspruch genommenen Unternehmen in einer eigenen vertraglichen Beziehung steht.

"Art. 2 Buchst. b und Art. 7 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 sind dahin auszulegen, dass im Rahmen eines aus zwei Teilflügen bestehenden einheitlich gebuchten Anschlussflugs ein Fluggast, der am Endziel eine Verspätung von drei Stunden oder mehr hat, die auf die Annullierung des zweiten Teilflugs zurückzuführen ist, der von einem anderen Luftfahrtunternehmen als demjenigen, mit dem dieser Fluggast den Beförderungsvertrag geschlossen hat, hätte durchgeführt werden sollen, seine Schadensersatzklage nach Art. 7 Abs. 1 dieser Verordnung gegen dieses Luftfahrtunternehmen erheben und von ihm die Leistung der in dieser Bestimmung vorgesehenen Ausgleichszahlung verlangen kann, die auf der Grundlage der Gesamtentfernung des Anschlussflugs vom Abflugort des ersten Teilflugs bis zum Ankunftsort des zweiten Teilflugs ermittelt wird."
EuGH, Beschluss v. 22. April 2021, C-592/20

Buchst. h

Direkte Anschlussflüge

Der Begriff „direkte Anschlussflüge“ setzt nicht voraus, dass die ausführenden Luftfahrtunternehmen, die sich den Beförderungsvorgang, der aus mehreren Teilflügen besteht, teilen, in einer besonderen rechtlichen Beziehung zueinander stehen. Sie brauchen also z.B. nicht demselben Konzern oder der derselben Luftfahrtallianz anzugehören. Ausreichend ist, dass die einzelnen Teilflüge z.B. von einem Reisebüro derart zusammengefasst werden, dass für sie ein einheitlicher Flugschein ausgegeben und hierfür ein Gesamtpreis in Rechnung gestellt wird.

"Art. 2 Buchst. h der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91

ist dahin auszulegen, dass

der Begriff „direkte Anschlussflüge“ einen Beförderungsvorgang erfasst, der aus mehreren Flügen besteht, die von unterschiedlichen, nicht durch eine besondere rechtliche Beziehung miteinander verbundenen ausführenden Luftfahrtunternehmen durchgeführt werden, wenn diese Flüge von einem Reisebüro zusammengefasst wurden, das für diesen Vorgang einen Gesamtpreis in Rechnung gestellt und einen einheitlichen Flugschein ausgegeben hat, so dass einem Fluggast, der auf einem Flughafen im Gebiet eines Mitgliedstaats einen Flug angetreten hat und bei der Ankunft am Zielort des letzten Fluges mit großer Verspätung gelandet ist, der Ausgleichsanspruch nach Art. 7 dieser Verordnung zusteht."

EuGH, Urteil v. 6. Oktober 2022, C‑436/21

Das in Anspruch genommene ausführende Luftfahrtunternehmen hat die Möglichkeit, das ausstellende Reisebüro gem. Art. 13 in Regress zu nehmen.

Planmäßige Ankunftszeit

Die „planmäßige Ankunftszeit“ kann sich für die Frage, ob Ansprüche aus dieser Verordnung gegen das ausführende Luftfahrtunternehmen hergeleitet werden könnnen, auch aus einem „anderen Beleg“ i.S.v. Buchst. g ergeben, der dem Fluggast von einem Reiseunternehmen ausgestellt wurde.

"Art. 2 Buchst. h, Art. 5 Abs. 1 Buchst. c sowie Art. 7 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 der Verordnung Nr. 261/2004 sind dahin auszulegen, dass sich die planmäßige Ankunftszeit eines Fluges im Sinne dieser Bestimmungen für die Zwecke der Ausgleichszahlung gemäß Art. 7 der Verordnung aus einem „anderen Beleg“ im Sinne von Art. 2 Buchst. g der Verordnung ergeben kann, den ein Reiseunternehmen einem Fluggast ausgestellt hat."
EuGH, Urteil v. 21. Dezember 2021, C‑146/20, C‑188/20, C‑196/20 und C‑270/20

Ob ein Flug als annulliert oder verspätet betrachtet werden kann, hängt also unter Umständen nicht von der Flugplanung des Luftfahrtunternehmens ab, sondern davon, welche Flugzeiten dem betroffenen Fluggast (vom Reiseunternehmen) mitgeteilt worden sind.

EuGH, Urteil v. 17. Oktober 2024, C‑650/23 und C‑705/23

Nichtbeförderung liegt vor, falls Fluggast vom Veranstalter einer Pauschalreise unzutreffend mitgeteilt wird, Flug werde nicht durchgeführt.

Leitsatz der Kanzlei Woicke

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Achte Kammer)

17. Oktober 2024(*)

„ Vorlage zur Vorabentscheidung – Luftverkehr – Pauschalreise – Verordnung (EG) Nr. 261/2004 – Art. 3 Abs. 6 – Richtlinie (EU) 2015/2302 – Art. 14 Abs. 5 – Kumulative Anwendung – Grenzen – Verordnung Nr. 261/2004 – Art. 3 Abs. 2 – Art. 4 Abs. 3 – Ausgleichsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung – Fluggäste, die im Voraus über die Nichtbeförderung unterrichtet wurden – Falsche Information – Reiseunternehmen, das die Fluggäste auf einen anderen Flug umbucht – Flug, der gleichwohl vom ausführenden Luftfahrtunternehmen wie ursprünglich geplant durchgeführt wird – Dem ausführenden Luftfahrtunternehmen obliegende Pflicht zur Ausgleichsleistung – Art. 13 – Möglichkeit, vom Reiseunternehmen Schadensersatz zu verlangen “

In den verbundenen Rechtssachen C‑650/23 [Hembesler](i) und C‑705/23 [Condor Flugdienst],

betreffend zwei Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landesgericht Korneuburg (Österreich) (C‑650/23) und vom Landgericht Düsseldorf (Deutschland) (C‑705/23) mit Entscheidungen vom 22. August 2023 und vom 2. November 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 31. Oktober 2023 und am 17. November 2023, in den Verfahren

E EAD

gegen

DW (C‑650/23)



und

Flightright GmbH

gegen

Condor Flugdienst GmbH (C‑705/23)

erlässt

DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten der Neunten Kammer N. Jääskinen in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Achten Kammer, des Richters M. Gavalec (Berichterstatter) und der Richterin I. Ziemele,

Generalanwältin: L. Medina,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– der E EAD, vertreten durch Rechtsanwalt G. Dirnberger,

– von DW, vertreten durch Rechtsanwalt A. Skribe,

– der Flightright GmbH, vertreten durch Rechtsanwälte M. Michel und R. Weist,

– der österreichischen Regierung, vertreten durch A. Posch, J. Schmoll und G. Kunnert als Bevollmächtigte,

– der ungarischen Regierung, vertreten durch D. Csoknyai und M. Z. Fehér als Bevollmächtigte,

– der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch B.‑R. Killmann und N. Yerrell als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssachen zu entscheiden,



folgendes

Urteil

1 Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 2 Buchst. j, Art. 4 und Art. 7 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs‑ und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (ABl. 2004, L 46, S. 1).

2 Sie ergehen im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen E EAD (im Folgenden: E), einem Luftfahrtunternehmen, und einem Fluggast (Rechtssache C‑650/23) sowie zwischen der Flightright GmbH, einer Gesellschaft für Rechtshilfe, an die zwei Fluggäste ihre etwaigen Ansprüche auf Ausgleichsleistungen abgetreten haben, und der Condor Flugdienst GmbH (im Folgenden: Condor), einem Luftfahrtunternehmen (Rechtssache C‑705/23), betreffend die an diese Fluggäste zu zahlenden Ausgleichsleistungen im Sinne der Verordnung Nr. 261/2004.

Rechtlicher Rahmen

Verordnung Nr. 261/2004

3 Im ersten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 261/2004 heißt es:

„Die Maßnahmen der [Europäischen] Gemeinschaft im Bereich des Luftverkehrs sollten unter anderem darauf abzielen, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen. Ferner sollte den Erfordernissen des Verbraucherschutzes im Allgemeinen in vollem Umfang Rechnung getragen werden.“

4 Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Verordnung Nr. 261/2004 sieht vor:

„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck



b) ‚ausführendes Luftfahrtunternehmen‘ ein Luftfahrtunternehmen, das im Rahmen eines Vertrags mit einem Fluggast oder im Namen einer anderen – juristischen oder natürlichen – Person, die mit dem betreffenden Fluggast in einer Vertragsbeziehung steht, einen Flug durchführt oder durchzuführen beabsichtigt;





d) ‚Reiseunternehmen‘ einen Veranstalter im Sinne von Artikel 2 Nummer 2 der Richtlinie 90/314/EWG des Rates vom 13. Juni 1990 über Pauschalreisen [(ABl. 1990, L 158, S. 59)], mit Ausnahme von Luftfahrtunternehmen;



g) ‚Buchung‘ den Umstand, dass der Fluggast über einen Flugschein oder einen anderen Beleg verfügt, aus dem hervorgeht, dass die Buchung von dem Luftfahrtunternehmen oder dem Reiseunternehmen akzeptiert und registriert wurde;



j) ‚Nichtbeförderung‘ die Weigerung, Fluggäste zu befördern, obwohl sie sich unter den in Artikel 3 Absatz 2 genannten Bedingungen am Flugsteig eingefunden haben, sofern keine vertretbaren Gründe für die Nichtbeförderung gegeben sind, z. B. im Zusammenhang mit der Gesundheit oder der allgemeinen oder betrieblichen Sicherheit oder unzureichenden Reiseunterlagen;



l) ‚Annullierung‘ die Nichtdurchführung eines geplanten Fluges, für den zumindest ein Platz reserviert war.“

5 Art. 3 („Anwendungsbereich“) der Verordnung Nr. 261/2004 bestimmt:

„(1) Diese Verordnung gilt

a) für Fluggäste, die auf Flughäfen im Gebiet eines Mitgliedstaats, das den Bestimmungen des Vertrags unterliegt, einen Flug antreten;



(2) Absatz 1 gilt unter der Bedingung, dass die Fluggäste

a) über eine bestätigte Buchung für den betreffenden Flug verfügen und – außer im Fall einer Annullierung gemäß Artikel 5 – sich

– wie vorgegeben und zu der zuvor schriftlich (einschließlich auf elektronischem Wege) von dem Luftfahrtunternehmen, dem Reiseunternehmen oder einem zugelassenen Reisevermittler angegebenen Zeit zur Abfertigung einfinden

oder, falls keine Zeit angegeben wurde,

– spätestens 45 Minuten vor der veröffentlichten Abflugzeit zur Abfertigung einfinden oder

b) von einem Luftfahrtunternehmen oder Reiseunternehmen von einem Flug, für den sie eine Buchung besaßen, auf einen anderen Flug verlegt wurden, ungeachtet des Grundes hierfür.



(6) Diese Verordnung lässt die aufgrund der Richtlinie [90/314] bestehenden Fluggastrechte unberührt. Diese Verordnung gilt nicht für Fälle, in denen eine Pauschalreise aus anderen Gründen als der Annullierung des Fluges annulliert wird.“

6 Art. 4 („Nichtbeförderung“) Abs. 3 der Verordnung lautet:

„Wird Fluggästen gegen ihren Willen die Beförderung verweigert, so erbringt das ausführende Luftfahrtunternehmen diesen unverzüglich die Ausgleichsleistungen gemäß Artikel 7 und die Unterstützungsleistungen gemäß den Artikeln 8 und 9.“

7 Art. 5 („Annullierung“) Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 261/2004 sieht vor:

„Bei Annullierung eines Fluges [wird] den betroffenen Fluggästen



c) vom ausführenden Luftfahrtunternehmen ein Anspruch auf Ausgleichsleistungen gemäß Artikel 7 eingeräumt, es sei denn,

i) sie werden über die Annullierung mindestens zwei Wochen vor der planmäßigen Abflugzeit unterrichtet, oder

ii) sie werden über die Annullierung in einem Zeitraum zwischen zwei Wochen und sieben Tagen vor der planmäßigen Abflugzeit unterrichtet und erhalten ein Angebot zur anderweitigen Beförderung, das es ihnen ermöglicht, nicht mehr als zwei Stunden vor der planmäßigen Abflugzeit abzufliegen und ihr Endziel höchstens vier Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit zu erreichen, oder

iii) sie werden über die Annullierung weniger als sieben Tage vor der planmäßigen Abflugzeit unterrichtet und erhalten ein Angebot zur anderweitigen Beförderung, das es ihnen ermöglicht, nicht mehr als eine Stunde vor der planmäßigen Abflugzeit abzufliegen und ihr Endziel höchstens zwei Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit zu erreichen.“



8 Art. 7 („Ausgleichsanspruch“) Abs. 1 dieser Verordnung bestimmt:

„Wird auf diesen Artikel Bezug genommen, so erhalten die Fluggäste Ausgleichszahlungen in folgender Höhe:

a) 250 [Euro] bei allen Flügen über eine Entfernung von 1 500 km oder weniger,

b) 400 [Euro] bei allen innergemeinschaftlichen Flügen über eine Entfernung von mehr als 1 500 km und bei allen anderen Flügen über eine Entfernung zwischen 1 500 km und 3 500 km,

…“

9 Art. 13 („Regressansprüche“) dieser Verordnung sieht vor:

„In Fällen, in denen ein ausführendes Luftfahrtunternehmen eine Ausgleichszahlung leistet oder die sonstigen sich aus dieser Verordnung ergebenden Verpflichtungen erfüllt, kann keine Bestimmung dieser Verordnung in dem Sinne ausgelegt werden, dass sie das Recht des Luftfahrtunternehmens beschränkt, nach geltendem Recht bei anderen Personen, auch Dritten, Regress zu nehmen. Insbesondere beschränkt diese Verordnung in keiner Weise das Recht des ausführenden Luftfahrtunternehmens, Erstattung von einem Reiseunternehmen oder einer anderen Person zu verlangen, mit der es in einer Vertragsbeziehung steht. Gleichfalls kann keine Bestimmung dieser Verordnung in dem Sinne ausgelegt werden, dass sie das Recht eines Reiseunternehmens oder eines nicht zu den Fluggästen zählenden Dritten, mit dem das ausführende Luftfahrtunternehmen in einer Vertragsbeziehung steht, beschränkt, vom ausführenden Luftfahrtunternehmen gemäß den anwendbaren einschlägigen Rechtsvorschriften eine Erstattung oder Entschädigung zu verlangen.“

Richtlinie 2015/2302

10 Die Richtlinie (EU) 2015/2302 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2015 über Pauschalreisen und verbundene Reiseleistungen, zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 und der Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Richtlinie 90/314/EWG des Rates (ABl. 2015, L 326, S. 1) definiert in ihrem Art. 3 Nr. 8 den „Reiseveranstalter“ als „einen Unternehmer, der entweder direkt oder über einen anderen Unternehmer oder gemeinsam mit einem anderen Unternehmer Pauschalreisen zusammenstellt und verkauft oder zum Verkauf anbietet, oder den Unternehmer, der die Daten des Reisenden im Einklang mit Nummer 2 Buchstabe b Ziffer v an einen anderen Unternehmer übermittelt“.



11 Art. 14 Abs. 5 dieser Richtlinie bestimmt:

„Das Recht auf Schadenersatz oder Preisminderung nach Maßgabe dieser Richtlinie lässt die Rechte von Reisenden nach der Verordnung [Nr. 261/2004] … und nach Maßgabe internationaler Übereinkünfte unberührt. Die Reisenden sind berechtigt, Forderungen nach dieser Richtlinie und den genannten Verordnungen und nach internationalen Übereinkünften geltend zu machen. Die nach dieser Richtlinie gewährte Schadenersatzzahlung oder Preisminderung wird von der nach Maßgabe der genannten Verordnungen und nach internationalen Übereinkünften gewährten Schadenersatzzahlung oder Preisminderung abgezogen und umgekehrt, um eine Überkompensation zu verhindern.“

12 Gemäß Art. 29 dieser Richtlinie gelten Bezugnahmen auf die Richtlinie 90/314, die durch die Richtlinie 2015/2302 aufgehoben wurde, als Bezugnahmen auf die letztgenannte Richtlinie.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

Rechtssache C‑650/23

13 Einem Fluggast, DW, wurde die Buchung seines (Rück‑)Fluges von Heraklion (Griechenland) nach Linz (Österreich) von dem Reiseunternehmen, bei dem er eine Pauschalreise gebucht hatte, bestätigt. Dieser von E durchzuführende Rückflug war für den 29. September 2019 vorgesehen und hätte um 18 Uhr in Heraklion starten und um 20 Uhr in Linz ankommen sollen (im Folgenden: ursprünglich geplanter Rückflug).

14 Am 28. September 2019 teilte der Reiseveranstalter diesem Fluggast mit, dass sich die Flugzeiten und der Zielflughafen seines Rückflugs geändert hätten. Gemäß dieser Mitteilung war Endziel dieses Fluges nun Wien-Schwechat (Österreich) und der Abflug sollte am 29. September 2019 um 23.30 Uhr erfolgen. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass diese Mitteilung durch irgendein Verhalten von E veranlasst wurde.

15 E, ein Mitglied der International Air Transport Association (IATA), ist ein Charterunternehmen und führt als solches selbst keine Flugbuchungen durch. Rund 24 Stunden vor Abflug erhielt E eine Passagierliste mit den Vor- und den Nachnamen aller zu befördernden Passagiere; weitere Kontaktdaten wurden ihr vom Reiseveranstalter nicht zur Verfügung gestellt. Auf dieser Liste war der Name von DW nicht enthalten.

16 Aufgrund der Mitteilung vom 28. September 2019 fand sich DW nicht zur Abfertigung des ursprünglich geplanten Rückflugs ein.



17 DW verlangte von E Schadensersatz in Höhe von 400 Euro zuzüglich Zinsen und stützte sich dabei auf Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 261/2004. Da der Reiseveranstalter im Namen des Luftfahrtunternehmens einen Flugschein ausstellen dürfe, gelte zwangsläufig dasselbe für alle späteren Änderungen seiner Buchung. Insoweit könne ihm nicht vorgeworfen werden, dass er sich nicht zur Abfertigung des ursprünglich geplanten Rückflugs eingefunden habe, da ihm seine Umbuchung auf einen anderen Flug mitgeteilt worden sei. Ihm sei daher gegen seinen Willen der Einstieg ab dem Zeitpunkt der Umbuchung verweigert worden, so dass er einen Anspruch auf Ausgleichsleistung habe.

18 E macht dagegen geltend, der ursprünglich geplante Rückflug sei weitgehend wie geplant durchgeführt worden und der Reiseveranstalter habe DW ohne Absprache mit ihr umgebucht. Diese Umbuchung könne keine dem Luftfahrtunternehmen zurechenbare Nichtbeförderung begründen. DW könne auch keinen Ausgleichsanspruch geltend machen, da er sich nicht rechtzeitig zur Abfertigung eingefunden habe. Da er über eine bestätigte Buchung für den ursprünglich geplanten Flug verfügt habe, wäre er bei rechtzeitigem Erscheinen am Flugsteig trotz der Umbuchung befördert worden.

19 Mit Urteil vom 27. März 2023 verurteilte das Bezirksgericht Schwechat (Österreich) E zur Zahlung von 400 Euro zuzüglich Zinsen an DW sowie zum Ersatz seiner Prozesskosten. Die Umbuchung sei E zuzurechnen, ohne dass es darauf ankomme, ob das Luftfahrtunternehmen oder der Reiseveranstalter die Umbuchung vorgenommen habe. Die Tatsache, dass DW, der vom Reiseveranstalter über die Umbuchung auf einen anderen Flug informiert worden sei, sich nicht rechtzeitig zur Abfertigung eingefunden habe, sei unschädlich für seinen auf Nichtbeförderung gestützten Anspruch auf Ausgleichsleistung. Insoweit sei es nicht relevant, ob E mit DW in einer direkten Vertragsbeziehung stehe oder ob sie selbständig Passagiere umbuchen oder Flugtickets ausstellen könne, weil sie nach Art. 13 der Verordnung Nr. 261/2004 u. a. beim Reiseveranstalter Regress nehmen könne. Schließlich wies das Bezirksgericht darauf hin, dass das Luftfahrtunternehmen nicht behauptet habe, dass „vertretbare Gründe für die Nichtbeförderung“ im Sinne von Art. 2 Buchst. j dieser Verordnung gegeben gewesen seien.

20 E legte gegen dieses Urteil Berufung beim Landesgericht Korneuburg (Österreich), dem vorlegenden Gericht, ein. Sie begründete diese Berufung im Wesentlichen damit, dass eine Nichtbeförderung schon tatbestandsmäßig nicht vorliege und ihr die Umbuchung durch den Reiseveranstalter nicht zurechenbar sei.

21 Nach Auffassung des Landesgerichts ergibt sich aus Art. 4 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004, dass das ausführende Luftfahrtunternehmen dem Fluggast eine Ausgleichszahlung gemäß Art. 7 dieser Verordnung zu leisten hat. Nach ständiger Rechtsprechung des vorlegenden Gerichts sei ein Fluggast bei einer antizipierten Nichtbeförderung, also wenn ihm bereits zuvor – wahrheitsgemäß oder auch nicht – mitgeteilt worden sei, dass er auf dem gebuchten Flug nicht befördert werde oder dieser gar nicht stattfinde, von der Verpflichtung befreit, sich rechtzeitig am Flugsteig einzufinden, sofern er über eine bestätigte Buchung verfüge und keine vertretbaren Gründe für die Nichtbeförderung vorlägen. Von einem Fluggast könne nicht verlangt werden, dass er zu einem Flug erscheine, auf dem er nicht befördert werde.

22 Aus dem Urteil vom 21. Dezember 2021, Azurair u. a. (C‑146/20, C‑188/20, C‑196/20 und C‑270/20, EU:C:2021:1038, Rn. 47 ff.), ergebe sich, dass ein Fluggast über eine „bestätigte Buchung“ im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 261/2004 verfüge, wenn er von dem Reiseunternehmen, mit dem er in einer Vertragsbeziehung stehe, einen „anderen Beleg“ im Sinne von Art. 2 Buchst. g dieser Verordnung erhalten habe, durch den ihm die Beförderung auf einem bestimmten, durch Abflug- und Ankunftsort, Abflug- und Ankunftszeit und Flugnummer individualisierten Flug versprochen werde; dies gelte auch dann, wenn das Reiseunternehmen vom betreffenden Luftfahrtunternehmen keine Bestätigung in Bezug auf die Abflug- und Ankunftszeit dieses Fluges erhalten habe. Das Risiko, dass Reiseunternehmen im Rahmen ihrer Tätigkeiten den Fluggästen ungenaue Auskünfte erteilen, sei nämlich vom Luftfahrtunternehmen zu tragen. Das vorlegende Gericht möchte jedoch wissen, ob dieser Ansatz, dem Luftfahrtunternehmen die Verantwortung für Handlungen des Reiseveranstalters aufzuerlegen, auch Anwendung findet, wenn – wie im vorliegenden Fall – der keinen Weisungen des Luftfahrtunternehmens unterliegende Reiseveranstalter eine von ihm selbst vorgenommene Buchung ändert.

23 Unter diesen Umständen hat das Landesgericht Korneuburg beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Sind Art. 7 Abs. 1, Art. 4 Abs. 3 und Art. 2 Buchst. j der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen, dass das ausführende Luftfahrtunternehmen dem Fluggast eine Ausgleichsleistung zu erbringen hat, wenn der Fluggast im Rahmen einer Pauschalreise über eine bestätigte Buchung eines Reiseunternehmens über Hin- und Rückflug verfügt; dieses Reiseunternehmen dem Fluggast am Vortag des geplanten (Rück‑)Fluges mitgeteilt hat, dass sich der Flugplan durch einen Wechsel der Flugnummer, der Flugzeit und des Endziels geändert habe; der Fluggast sich daher für den ursprünglich gebuchten Flug nicht unter den in Art. 3 Abs. 2 dieser Verordnung genannten Bedingungen am Flugsteig eingefunden hat; der ursprünglich gebuchte Flug aber tatsächlich wie geplant durchgeführt wird; und das Luftfahrtunternehmen den Fluggast auch befördert hätte, wenn dieser sich unter den in Art. 3 Abs. 2 der Verordnung genannten Bedingungen am Flugsteig eingefunden hätte?



Rechtssache C‑705/23

24 Zwei Fluggäste hatten über einen Reiseveranstalter eine Pauschalreise für den Zeitraum vom 18. Juli 2020 bis 30. Juli 2020 gebucht. Teil dieser Reise waren die von Condor durchzuführenden Hin- und Rückflüge zwischen Düsseldorf (Deutschland) und Fuerteventura (Spanien).

25 Der Reiseveranstalter teilte diesen beiden Fluggästen mit, dass der Hinflug storniert worden sei und sie auf einen Flug am 20. Juli 2020 umgebucht würden. Aufgrund dieser Information erschienen die Fluggäste am 18. Juli 2020 nicht am Flughafen, sondern fanden sich dort erst am 20. Juli 2020 ein. Sie behaupten außerdem, dass der Reiseveranstalter sie hierüber erst acht Tage vor dem Datum des Hinflugs informiert habe.

26 Condor tritt dieser Sachverhaltsdarstellung entgegen und weist darauf hin, dass der ursprüngliche Flug vom 18. Juli 2020 ordnungsgemäß durchgeführt worden sei.

27 Die beiden Fluggäste traten ihre Ansprüche an Flightright, eine Gesellschaft für Rechtshilfe, ab; diese erhob Klage vor dem Amtsgericht Düsseldorf (Deutschland) auf Zahlung von Ausgleichsleistungen in Höhe von insgesamt 800 Euro gemäß Art. 4 Abs. 3 und Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 261/2004 in Verbindung mit § 398 BGB.

28 Flightright macht geltend, das Verhalten des Reiseveranstalters sei dem Luftfahrtunternehmen zuzurechnen und stelle eine antizipierte Nichtbeförderung dar.

29 Nach Auffassung von Condor liegt dagegen hier kein Fall der Nichtbeförderung vor, da sie den ursprünglichen Flug ordnungsgemäß durchgeführt habe. Eine Nichtbeförderung setze zudem ein Verhalten des Luftfahrtunternehmens voraus. Hier sei die Mitteilung über die Änderung des Termins für den Hinflug jedoch durch den Reiseveranstalter erfolgt.

30 Gegen das klageabweisende Urteil des Amtsgerichts Düsseldorf vom 3. November 2022 legte Flightright beim Landgericht Düsseldorf (Deutschland), dem vorlegenden Gericht, Berufung ein.

31 Nach Auffassung des Landgerichts stellt sich in der vorliegenden Rechtssache die neue Frage, ob es sich bei einer vom Reiseveranstalter ausgesprochenen antizipierten Nichtbeförderung um eine „Nichtbeförderung“ im Sinne von Art. 4 der Verordnung Nr. 261/2004 handelt, wobei keine Rechtfertigungsgründe für die Nichtbeförderung im Sinne von Art. 2 Buchst. j der Verordnung Nr. 261/2004 ersichtlich seien. Überdies sei gemäß dem Urteil vom 26. Oktober 2023, LATAM Airlines Group (C‑238/22, EU:C:2023:815, Rn. 40 ff.), eine analoge Anwendung von Art. 5 Abs. 1 Buchst. c Ziff. i bis iii dieser Verordnung, der die Annullierung von Flügen betrifft, im Rahmen von Ansprüchen wegen Nichtbeförderung ausgeschlossen; einer Klärung der Frage, ob die beiden betroffenen Fluggäste bereits früher als acht Tage vor dem Flugdatum über die Umbuchung informiert wurden, bedürfe es nicht.

32 Außerdem schließt das vorlegende Gericht aus dem Urteil vom 21. Dezember 2021, Azurair u. a. (C‑146/20, C‑188/20, C‑196/20 und C‑270/20, EU:C:2021:1038), dass die beiden Fluggäste unter den Umständen des Ausgangsrechtsstreits über eine „bestätigte Buchung“ im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 261/2004 verfügten.

33 Eine vom Reiseveranstalter mittels Umbuchungs- oder Stornierungsinformation mitgeteilte antizipierte Nichtbeförderung kann nach Auffassung des vorlegenden Gerichts eine „Nichtbeförderung“ im Sinne von Art. 4 der Verordnung Nr. 261/2004 darstellen. Hierfür könne sprechen, dass anders als in der spanischen und der französischen Sprachfassung dieser Bestimmung, in denen die ausführende Fluggesellschaft ausdrücklich als diejenige genannt werde, die sich weigere, Fluggäste an Bord zu nehmen, zahlreiche andere Sprachfassungen (etwa die dänische, die deutsche, die englische, die italienische, die niederländische, die portugiesische und die schwedische) offenließen, durch wen die Verweigerung erfolge.

34 Zudem komme für den Fluggast, der der Umbuchung nicht zugestimmt habe, eine solche Umbuchung einer Nichtbeförderung auf dem ursprünglich vorgesehenen Flug gleich. Daher könne es erforderlich sein, die Umbuchung in den Tatbestand der Nichtbeförderung einzubeziehen, um den Pauschalfluggast davor zu schützen, dass ihm der Schutz der Verordnung Nr. 261/2004 entzogen werde.

35 Schließlich ergebe sich aus dem Urteil vom 21. Dezember 2021, Azurair u. a. (C‑146/20, C‑188/20, C‑196/20 und C‑270/20, EU:C:2021:1038, Rn. 46 bis 51), dass eine „bestätigte Buchung“ im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 261/2004 vom Reiseveranstalter herausgegeben werden könne, und zwar selbst dann, wenn das Luftfahrtunternehmen die betreffenden Flugzeiten nicht gegenüber dem Reiseveranstalter bestätigt habe, es also an einer „Deckungsbuchung“ fehle. Diese Verordnung ziele nämlich darauf ab, das Risiko, dass Reiseunternehmen im Rahmen ihrer Tätigkeiten den Fluggästen ungenaue Auskünfte erteilen, dem Luftfahrtunternehmen aufzuerlegen. Unter diesem Blickwinkel habe der Fluggast nicht Teil an der zwischen dem Luftfahrtunternehmen und dem Reiseunternehmen bestehenden Beziehung, und es werde von ihm nicht verlangt, dass er sich insoweit Informationen beschaffe.

36 Für das vorlegende Gericht ist die Auslegung in diesem Urteil auf eine vom Reiseveranstalter wegen einer „Flugstornierung“ vorgenommenen Umbuchung des Fluggasts übertragbar.

37 Unter diesen Umständen hat das Landgericht Düsseldorf beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist Art. 4 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin gehend auszulegen, dass eine Nichtbeförderung des Fluggasts durch das Luftfahrtunternehmen in Form einer antizipierten Beförderungsverweigerung auch dann vorliegt, wenn ein Reiseveranstalter den Fluggast mittels Umbuchungsmitteilung darüber informiert, dass der Flug storniert worden sei, eine Annullierung des Fluges durch das Luftfahrtunternehmen jedoch gar nicht stattgefunden hat und der Flug auch tatsächlich ordnungsgemäß durchgeführt wird?

Zu den Vorlagefragen

38 Die vorlegenden Gerichte wollen mit ihren Fragen, die zusammen zu prüfen sind, im Wesentlichen jeweils wissen, ob Art. 4 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 2 Buchst. j der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen ist, dass ein Fluggast, der im Rahmen einer Pauschalreise eine bestätigte Buchung für einen Flug hatte, vom ausführenden Luftfahrtunternehmen die Ausgleichsleistung im Sinne von Art. 7 Abs. 1 der Verordnung verlangen kann, wenn der Reiseveranstalter dem Fluggast – ohne zuvor das Luftfahrtunternehmen hierüber zu informieren – mitgeteilt hat, dass der ursprünglich vorgesehene Flug nicht durchgeführt werde, obwohl dieser wie vorgesehen stattfand.

39 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass erstens die Fluggäste im Rahmen einer Pauschalreise berechtigt sind, sich auf die Verordnung Nr. 261/2004 zu berufen. Denn ihr rechtlicher Schutz kann nicht ausschließlich durch die Richtlinie 2015/2302 gewährleistet werden (vgl. Urteil vom 26. März 2020, Primera Air Scandinavia, C‑215/18, EU:C:2020:235, Rn. 35). Vor diesem Hintergrund bestimmt Art. 3 Abs. 6 dieser Verordnung, dass diese „Verordnung … die aufgrund der [durch die Richtlinie 2015/2302 ersetzten] Richtlinie [90/314] bestehenden Fluggastrechte unberührt [lässt]“. Spiegelbildlich dazu bestätigt Art. 14 Abs. 5 der Richtlinie 2015/2302 ausdrücklich, dass der Schadensersatz oder die Preisminderung nach Maßgabe dieser Richtlinie und der Schadensersatz oder die Preisminderung nach Maßgabe u. a. der Verordnung Nr. 261/2004 miteinander verrechnet werden, um eine Überkompensation zu vermeiden.

40 Somit folgt aus Art. 3 Abs. 6 dieser Verordnung und aus Art. 14 Abs. 5 der Richtlinie 2015/2302, dass die jeweiligen Anwendungsbereiche dieser beiden Sekundärrechtsakte sich möglicherweise überschneiden. Dann ist die gleichzeitige Berufung auf diese Bestimmungen dadurch beschränkt, dass sie eine Überkompensation der vom Fluggast erlittenen Schäden verweigern.

41 Zweitens geht aus den zwei Vorabentscheidungsersuchen eindeutig hervor, dass die beiden den Ausgangsrechtsstreitigkeiten zugrunde liegenden Flüge wie vorgesehen durchgeführt wurden. Folglich kann keiner der beiden fraglichen Flüge als annulliert angesehen werden, da Art. 2 Buchst. l der Verordnung Nr. 261/2004 die „Annullierung“ als „die Nichtdurchführung eines geplanten Fluges, für den zumindest ein Platz reserviert war“, definiert. Die von den Reiseveranstaltern an die in den beiden Ausgangsverfahren in Rede stehenden Fluggäste gerichteten Mitteilungen sind daher im Hinblick auf den Begriff „Nichtbeförderung“ im Sinne von Art. 2 Buchst. j dieser Verordnung zu verstehen.

42 Nach dieser Klarstellung ist zu bestimmen, ob zum einen der Begriff „Nichtbeförderung“ auch die antizipierte Nichtbeförderung auf einem Flug umfasst, der gleichwohl durchgeführt wurde, und ob zum anderen das Luftfahrtunternehmen für falsche Informationen betreffend die Verlegung oder Stornierung eines Fluges, die den Fluggästen vom Reiseunternehmen mitgeteilt werden, haftbar gemacht werden kann.

43 Als Erstes ergibt sich aus dem Urteil vom 26. Oktober 2023, LATAM Airlines Group (C‑238/22, EU:C:2023:815, Rn. 39), dass Art. 4 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 in Verbindung mit ihrem Art. 2 Buchst. j dahin auszulegen ist, dass ein ausführendes Luftfahrtunternehmen, das einen Fluggast im Voraus darüber unterrichtet hat, dass es ihm gegen seinen Willen die Beförderung auf einem Flug verweigern werde, für den er über eine bestätigte Buchung verfügt, dem Fluggast eine Ausgleichszahlung leisten muss, selbst wenn er sich nicht unter den in Art. 3 Abs. 2 der Verordnung genannten Bedingungen am Flugsteig eingefunden hat.

44 Der Umstand, dass die Information betreffend die Nichtbeförderung dem Fluggast vorab nicht vom ausführenden Luftfahrtunternehmen, sondern vom Reiseveranstalter mitgeteilt wurde, kann keine andere Auslegung dieser Bestimmungen zur Folge haben.

45 Als Zweites ist der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu entnehmen, dass das ausführende Luftfahrtunternehmen für falsche Informationen betreffend die Verlegung oder Stornierung eines Fluges, die den Fluggästen vom Reiseunternehmen mitgeteilt werden, haftbar gemacht werden kann.

46 Erstens unterscheiden nämlich mehrere Bestimmungen der Verordnung Nr. 261/2004 für ihre Anwendung nicht zwischen dem ausführenden Luftfahrtunternehmen und dem Reiseveranstalter. Dies gilt u. a. für Art. 2 Buchst. g dieser Verordnung, der den Begriff „Buchung“ als den Umstand definiert, „dass der Fluggast über einen Flugschein oder einen anderen Beleg verfügt, aus dem hervorgeht, dass die Buchung von dem Luftfahrtunternehmen oder dem Reiseunternehmen akzeptiert und registriert wurde“. Dies trifft auch für Art. 3 Abs. 2 Buchst. a erster Gedankenstrich der Verordnung zu, wonach die Zeit, zu der sich der Fluggast zur Abfertigung einfinden muss, vom Luftfahrtunternehmen, von einem Reiseunternehmen oder von einem zugelassenen Reisevermittler angegeben werden kann. Auch bei Art. 3 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung, wonach der Fluggast sowohl vom Luftfahrtunternehmen als auch vom Reiseunternehmen auf einen anderen Flug verlegt werden kann, ist dies der Fall (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2021, Azurair u. a., C‑146/20, C‑188/20, C‑196/20 und C‑270/20, EU:C:2021:1038, Rn. 47).

47 Gemäß diesem Urteil können die Fluggäste sich im Rahmen von Art. 3 Abs. 2 Buchst. a und b der Verordnung Nr. 261/2004 unterschiedslos auf die Auskünfte verlassen, die ihnen vom ausführenden Luftfahrtunternehmen oder dem Reiseunternehmen in Bezug auf die Boardingzeit oder ihre Umbuchung erteilt werden.

48 Zweitens trägt eine solche Auslegung dazu bei, wie im ersten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 261/2004 vorgesehen, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen. Vor diesem Hintergrund zielt diese Verordnung darauf ab, das Risiko, dass Reiseunternehmen im Rahmen ihrer Tätigkeiten den Fluggästen ungenaue Auskünfte erteilen, dem Luftfahrtunternehmen aufzuerlegen. Da der Fluggast nicht an der zwischen dem Luftfahrtunternehmen und dem Reiseunternehmen bestehenden Beziehung teilhat, kann von ihm nicht verlangt werden, dass er sich insoweit Informationen beschafft (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2021, Azurair u. a., C‑146/20, C‑188/20, C‑196/20 und C‑270/20, EU:C:2021:1038, Rn. 48 und 49).

49 Jedenfalls ist darauf hinzuweisen, dass ein ausführendes Luftfahrtunternehmen, das aufgrund eines Verhaltens des Reiseunternehmens den Fluggästen eine Ausgleichszahlung nach der Verordnung Nr. 261/2004 leisten müsste, die Möglichkeit haben kann, gegen das Reiseunternehmen Regressansprüche gemäß Art. 13 der Verordnung zu erheben. Ein solcher Regress kann daher die finanzielle Belastung dieses Beförderungsunternehmens aus dieser Verpflichtung mildern oder sogar beseitigen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. Januar 2006, IATA und ELFAA, C‑344/04, EU:C:2006:10, Rn. 90, vom 19. November 2009, Sturgeon u. a., C‑402/07 und C‑432/07, EU:C:2009:716, Rn. 68, sowie vom 21. Dezember 2021, Azurair u. a., C‑146/20, C‑188/20, C‑196/20 und C‑270/20, EU:C:2021:1038, Rn. 61).

50 Ferner ist das auf eine entsprechende Anwendung des Urteils vom 4. Juli 2018, Wirth u. a. (C‑532/17, EU:C:2018:527), gestützte Vorbringen von E zurückzuweisen. E macht insoweit geltend, dass ein Charterunternehmen wie sie, genauso wie der Mieter im Fall eines Vertrags über die Vermietung eines Flugzeugs mit Besatzung („wet lease“), keine operationelle Entscheidungsgewalt in Bezug auf die Frage habe, ob, wann und mit welchen Fluggästen der Flug durchgeführt werde.

51 Insoweit genügt der Hinweis, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs bei einem Angebot eines Luftfahrtunternehmens für den Luftverkehr, das dem Angebot entspricht, auf das ein Reiseunternehmen im Rahmen seiner Beziehung zu einem Fluggast zurückgegriffen hat – sei es auch vorbehaltlich etwaiger Änderungen dieses Angebots –, davon auszugehen ist, dass das Luftfahrtunternehmen im Sinne von Art. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 261/2004 einen Flug durchzuführen beabsichtigt, so dass es als „ausführendes Luftfahrtunternehmen“ im Sinne dieser Bestimmung eingestuft werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2021, Azurair u. a., C‑146/20, C‑188/20, C‑196/20 und C‑270/20, EU:C:2021:1038, Rn. 59 und 62, sowie Beschluss vom 10. März 2023, Eurowings [nicht existenter Flug], C‑607/22, EU:C:2023:201, Rn. 21).

52 Überdies ist das Vorbringen von E in Wirklichkeit darauf gerichtet, dem vom Reiseveranstalter eingesetzten Luftfahrtunternehmen die Eigenschaft als „ausführendes Luftfahrtunternehmen“ im Sinne von Art. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 261/2004 abzustreiten. Art. 2 Buchst. d dieser Verordnung definiert das „Reiseunternehmen“ aber als einen Veranstalter im Sinne von Art. 3 Nr. 8 der Richtlinie 2015/2302 „mit Ausnahme von Luftfahrtunternehmen“. Folgte man der Argumentation von E, wäre das paradoxe Ergebnis hiervon, dass ein Charterflug nicht von einem ausführenden Luftfahrtunternehmen erbracht würde, da danach diese Eigenschaft weder dem Charterunternehmen noch dem Reiseunternehmen zuerkannt würde.

53 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 4 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 2 Buchst. j der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen ist, dass ein Fluggast, der im Rahmen einer Pauschalreise eine bestätigte Buchung für einen Flug hatte, vom ausführenden Luftfahrtunternehmen die Ausgleichsleistung im Sinne von Art. 7 Abs. 1 der Verordnung verlangen kann, wenn der Reiseveranstalter dem Fluggast – ohne zuvor das Luftfahrtunternehmen hierüber zu informieren – mitgeteilt hat, dass der ursprünglich vorgesehene Flug nicht durchgeführt werde, obwohl dieser wie vorgesehen stattfand.

Kosten

54 Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den bei den vorlegenden Gerichten anhängigen Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieser Gerichte. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 4 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 in Verbindung mit Art. 2 Buchst. j der Verordnung Nr. 261/2004

ist dahin auszulegen, dass

ein Fluggast, der im Rahmen einer Pauschalreise eine bestätigte Buchung für einen Flug hatte, vom ausführenden Luftfahrtunternehmen die Ausgleichsleistung im Sinne von Art. 7 Abs. 1 der Verordnung verlangen kann, wenn der Reiseveranstalter dem Fluggast – ohne zuvor das Luftfahrtunternehmen hierüber zu informieren – mitgeteilt hat, dass der ursprünglich vorgesehene Flug nicht durchgeführt werde, obwohl dieser wie vorgesehen stattfand.

Jääskinen

Gavalec

Ziemele

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 17. Oktober 2024.

Der Kanzler


Der Präsident

A. Calot Escobar


K. Lenaerts

* Verfahrenssprache: Deutsch.

Quelle: https://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=261%252F2004&docid=291256&pageIndex=0&doclang=de&mode=req&dir=&occ=first&part=1&cid=8256052#ctx1

EuGH, Urteil v. 13. Juni 2024, C‑385/23

Neuartiger Technischer Defekt an erst kürzlich in Betrib genommenem Flugzeugtyp kann außergewöhnlichen Umstand darstellen, sofern Hersteller im Nachhinein einen versteckten Konstruktionsfehler anerkennt.

Leitsatz der Kanzlei Woicke

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Achte Kammer)

13. Juni 2024(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Luftverkehr – Verordnung (EG) Nr. 261/2004 – Art. 5 Abs. 3 – Ausgleichszahlungen an die Fluggäste bei großer Verspätung oder Annullierung eines Fluges – Befreiung von der Ausgleichspflicht – Außergewöhnliche Umstände – Technische Störungen, die durch einen vom Hersteller nach der Flugannullierung aufgedeckten versteckten Konstruktionsfehler verursacht wurden – System zur Messung der Treibstoffmenge des Flugzeugs“

In der Rechtssache C‑385/23

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Korkein oikeus (Oberstes Gericht, Finnland) mit Entscheidung vom 22. Juni 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 22. Juni 2023, in dem Verfahren

Matkustaja A

gegen

Finnair Oyj

erlässt

DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten N. Piçarra sowie der Richter N. Jääskinen und M. Gavalec (Berichterstatter),

Generalanwältin: L. Medina,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– des Matkustaja A, vertreten durch K. Väänänen, Kuluttaja-asiamies, sowie J. Suurla, Johtava asiantuntija,

– der Finnair Oyj, vertreten durch T. Väätäinen, Asianajaja,

– der finnischen Regierung, vertreten durch M. Pere als Bevollmächtigte,

– der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und J. M. Hoogveld als Bevollmächtigte,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch T. Simonen und N. Yerrell als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (ABl. 2004, L 46, S. 1).

2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Matkustaja A (im Folgenden A), einem Fluggast, und dem Luftfahrtunternehmen Finnair Oyj wegen dessen Weigerung, diesem Fluggast, dessen Flug annulliert wurde, einen Ausgleich zu leisten.

Rechtlicher Rahmen

3 In den Erwägungsgründen 1, 14 und 15 der Verordnung Nr. 261/2004 heißt es:

„(1) Die Maßnahmen der [Europäischen] Gemeinschaft im Bereich des Luftverkehrs sollten unter anderem darauf abzielen, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen. Ferner sollte den Erfordernissen des Verbraucherschutzes im Allgemeinen in vollem Umfang Rechnung getragen werden.



(14) Wie nach dem Übereinkommen [zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr, geschlossen am 28. Mai 1999 in Montreal und genehmigt im Namen der Europäischen Gemeinschaft durch den Beschluss 2001/539/EG des Rates vom 5. April 2001 (ABl. 2001, L 194, S. 38)] sollten die Verpflichtungen für ausführende Luftfahrtunternehmen in den Fällen beschränkt oder ausgeschlossen sein, in denen ein Vorkommnis auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären. Solche Umstände können insbesondere bei politischer Instabilität, mit der Durchführung des betreffenden Fluges nicht zu vereinbarenden Wetterbedingungen, Sicherheitsrisiken, unerwarteten Flugsicherheitsmängeln und den Betrieb eines ausführenden Luftfahrtunternehmens beeinträchtigenden Streiks eintreten.

(15) Vom Vorliegen außergewöhnlicher Umstände sollte ausgegangen werden, wenn eine Entscheidung des Flugverkehrsmanagements zu einem einzelnen Flugzeug an einem bestimmten Tag zur Folge hat, dass es bei einem oder mehreren Flügen des betreffenden Flugzeugs zu einer großen Verspätung, einer Verspätung bis zum nächsten Tag oder zu einer Annullierung kommt, obgleich vom betreffenden Luftfahrtunternehmen alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen wurden, um die Verspätungen oder Annullierungen zu verhindern.“

4 Art. 5 („Annullierung“) dieser Verordnung bestimmt:

„(1) Bei Annullierung eines Fluges [wird] den betroffenen Fluggästen



c) vom ausführenden Luftfahrtunternehmen ein Anspruch auf Ausgleichsleistungen gemäß Artikel 7 eingeräumt, es sei denn,

i) sie werden über die Annullierung mindestens zwei Wochen vor der planmäßigen Abflugzeit unterrichtet, oder

ii) sie werden über die Annullierung in einem Zeitraum zwischen zwei Wochen und sieben Tagen vor der planmäßigen Abflugzeit unterrichtet und erhalten ein Angebot zur anderweitigen Beförderung, das es ihnen ermöglicht, nicht mehr als zwei Stunden vor der planmäßigen Abflugzeit abzufliegen und ihr Endziel höchstens vier Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit zu erreichen, oder

iii) sie werden über die Annullierung weniger als sieben Tage vor der planmäßigen Abflugzeit unterrichtet und erhalten ein Angebot zur anderweitigen Beförderung, das es ihnen ermöglicht, nicht mehr als eine Stunde vor der planmäßigen Abflugzeit abzufliegen und ihr Endziel höchstens zwei Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit zu erreichen.



(3) Ein ausführendes Luftfahrtunternehmen ist nicht verpflichtet, Ausgleichszahlungen gemäß Artikel 7 zu leisten, wenn es nachweisen kann, dass die Annullierung auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären.

…“

5 Art. 7 („Ausgleichsanspruch“) Abs. 1 der Verordnung bestimmt:

„Wird auf diesen Artikel Bezug genommen, so erhalten die Fluggäste Ausgleichszahlungen in folgender Höhe:

a) 250 [Euro] bei allen Flügen über eine Entfernung von 1 500 km oder weniger,

b) 400 [Euro] bei allen innergemeinschaftlichen Flügen über eine Entfernung von mehr als 1 500 km und bei allen anderen Flügen über eine Entfernung zwischen 1 500 km und 3 500 km,

c) 600 [Euro] bei allen nicht unter Buchstabe a) oder b) fallenden Flügen.

…“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

6 A hatte bei Finnair einen für den 25. März 2016 geplanten Flug von Helsinki (Finnland) nach Bangkok (Thailand) gebucht. Dieser Flug sollte mit einem Flugzeug durchgeführt werden, das seit etwas mehr als fünf Monaten im Einsatz war.

7 Beim Befüllen des Treibstofftanks kurz vor dem Start kam es zu einer technischen Störung bei der Treibstoffanzeige dieses Flugzeugs. Da diese Störung als wesentliche Beeinträchtigung der Flugsicherheit angesehen wurde, annullierte Finnair den geplanten Flug und führte ihn, wie das vorlegende Gericht ausführt, erst am nächsten Tag, d. h. am 26. März 2016, mit einem Reserveflugzeug durch. Der Flug erreichte den Zielort mit einer Verspätung von etwa 20 Stunden.

8 Da es sich bei dem ursprünglich vorgesehenen Flugzeug um ein neues Modell handelte, war der in Rede stehende Fehler, der weltweit erstmals auftrat, vor dem Auftreten dieser Störung unbekannt. Daher hatten weder der Flugzeughersteller noch die Flugsicherheitsbehörde Kenntnis von diesem Fehler und konnten ihn deshalb nicht melden.

9 Finnair leitete sofort Ermittlungen zur Klärung der Ursache der Störung der Treibstoffanzeige ein. Nach etwa 24 Stunden wurde die Störung behoben, indem der Treibstofftank entleert und danach wieder aufgefüllt wurde. Anschließend war die Maschine wieder flugfähig.

10 Spätere, eingehendere Untersuchungen des Herstellers des Flugzeugs ergaben, dass diese Störung auf einen versteckten, sämtliche Flugzeuge dieses Typs betreffenden Konstruktionsfehler zurückzuführen war.

11 Diese Flugzeuge flogen jedoch weiter, bis eine Software-Aktualisierung im Februar 2017 die Störung endgültig beseitigte.

12 Da sich Finnair weigerte, A eine pauschale Ausgleichszahlung in Höhe von 600 Euro gemäß Art. 5 Abs. 1 Buchst. c und Art. 7 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 261/2004 zu zahlen, erhob A Klage beim Käräjäoikeus (Gericht erster Instanz, Finnland). Finnair machte geltend, dass die in Rede stehende Störung einen „außergewöhnlichen Umstand“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 dieser Verordnung darstelle und dass Finnair alle ihr zumutbaren Maßnahmen ergriffen habe.

13 Das Gericht gab der Klage von A mit der Begründung statt, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Störung zwar auf einen schwer vorhersehbaren Konstruktionsfehler zurückzuführen sei, aber Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit eines Luftfahrtunternehmens sei. Der bloße Umstand, dass der Flugzeughersteller Finnair keine Anweisungen dazu gegeben habe, wie sie sich im Fall einer derartigen, einen neuen Flugzeugtyp betreffenden Störung verhalten sollte, habe das betreffende Vorkommnis nicht außergewöhnlich werden lassen.

14 Finnair legte gegen das Urteil des Käräjäoikeus (Gericht erster Instanz) Berufung beim Hovioikeus (Berufungsgericht, Finnland) ein. Dieses Gericht stellte fest, dass die Störung der Treibstoffanzeige als „außergewöhnlicher Umstand“ anzusehen sei, da sie nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit von Finnair sei und aufgrund ihrer Natur oder Ursache auch nicht von ihr tatsächlich beherrschbar sei.

15 A legte Rechtsmittel beim Korkein oikeus (Oberstes Gericht, Finnland), dem vorlegenden Gericht, ein.

16 Dieses Gericht fragt sich, ob eine technische Störung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die ein neues Flugzeug betrifft, einen „außergewöhnlichen Umstand“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 darstellt.

17 Das Gericht hat insbesondere Zweifel daran, ob eine technische Störung ein Vorkommnis mit externer Ursache im Sinne des Urteils vom 7. Juli 2022, SATA International – Azores Airlines (Ausfall des Betankungssystems) (C‑308/21, EU:C:2022:533) und daher einen „außergewöhnlichen Umstand“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 dieser Verordnung darstellt, wenn sie die Sicherheit eines Fluges beeinträchtigt und der Flugzeughersteller erst nach Annullierung dieses Fluges anerkennt, dass sie auf einen versteckten Konstruktionsfehler zurückzuführen ist, der sämtliche Flugzeuge dieses Typs betrifft.

18 Falls dies zu verneinen ist, fragt sich das vorlegende Gericht, ob die Rechtsprechung des Gerichtshofs zum vorzeitigen Auftreten von Störungen an bestimmten technischen Teilen auf den Fall eines versteckten Konstruktionsfehlers, der sich erstmals an einem neuen Flugzeugtyp zeigt, übertragbar ist. Es sei nämlich nicht ungewöhnlich, dass ein neues Flugzeugmodell in den ersten Phasen seiner Inbetriebnahme versteckte Fehler aufweise.

19 Unter diesen Umständen hat der Korkein oikeus (Oberstes Gericht) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Kann sich ein Luftfahrtunternehmen auf außergewöhnliche Umstände im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 allein deshalb berufen, weil der Flugzeughersteller gemeldet hat, dass ein versteckter, sämtliche Flugzeuge dieses Typs betreffender und die Flugsicherheit beeinträchtigender Konstruktionsfehler vorlag, obwohl diese Meldung erst nach Verspätung oder Annullierung des Fluges erfolgte?

2. Falls die erste Frage verneint wird und zu prüfen ist, ob die Umstände auf Vorkommnisse zurückzuführen sind, die Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betroffenen Luftfahrtunternehmens sind und aufgrund ihrer Natur oder Ursache von ihm tatsächlich zu beherrschen sind, ist dann die Rechtsprechung des Gerichtshofs zum vorzeitigen Auftreten von Störungen an bestimmten technischen Teilen in einem Fall wie dem vorliegenden anwendbar, in dem weder der Hersteller noch das Luftfahrtunternehmen zum Zeitpunkt der Annullierung des Fluges wussten, welcher Art der Fehler des in Rede stehenden neuen Flugzeugtyps war und wie er behoben werden konnte?

Zu den Vorlagefragen

20 Mit seinen beiden Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen ist, dass das Auftreten einer unerwarteten und neuartigen technischen Störung, die ein neues, vor Kurzem in Betrieb genommenes Flugzeugmodell betrifft und das Luftfahrtunternehmen zur Annullierung eines Fluges veranlasst, unter den Begriff „außergewöhnliche Umstände“ im Sinne dieser Bestimmung fällt, wenn der Hersteller dieses Flugzeugs nach der Annullierung dieses Fluges anerkennt, dass diese Störung durch einen versteckten Konstruktionsfehler verursacht wurde, der sämtliche Flugzeuge dieses Typs betraf und die Flugsicherheit beeinträchtigte.

21 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 für den Fall der Annullierung eines Fluges vorsieht, dass den betroffenen Fluggästen vom ausführenden Luftfahrtunternehmen ein Anspruch auf Ausgleichsleistungen gemäß Art. 7 Abs. 1 dieser Verordnung eingeräumt wird, es sei denn, sie wurden über diese Annullierung innerhalb der in Art. 5 Abs. 1 vorgesehenen Fristen unterrichtet.

22 Nach Art. 5 Abs. 3 dieser Verordnung in Verbindung mit deren Erwägungsgründen 14 und 15 ist das Luftfahrtunternehmen von seiner Verpflichtung zu Ausgleichszahlungen befreit, wenn es nachweisen kann, dass die Annullierung auf „außergewöhnliche Umstände“ zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären, und wenn es bei Eintritt eines solchen Umstands zudem nachweisen kann, dass es die der Situation angemessenen Maßnahmen ergriffen hat, indem es alle ihm zur Verfügung stehenden personellen, materiellen und finanziellen Mittel eingesetzt hat, um zu vermeiden, dass dieser zur Annullierung oder zur großen Verspätung des betreffenden Fluges führt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. März 2021, Airhelp, C‑28/20, EU:C:2021:226, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung).

23 Da dieser Art. 5 Abs. 3 eine Ausnahme vom Grundsatz des Ausgleichsanspruchs der Fluggäste darstellt, und in Anbetracht des mit der Verordnung Nr. 261/2004 verfolgten Ziels, das nach ihrem ersten Erwägungsgrund darin besteht, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen, ist der Begriff „außergewöhnliche Umstände“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 eng auszulegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. April 2018, Krüsemann u. a., C‑195/17, C‑197/17 bis C‑203/17, C‑226/17, C‑228/17, C‑254/17, C‑274/17, C‑275/17, C‑278/17 bis C‑286/17 und C‑290/17 bis C‑292/17, EU:C:2018:258, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).

24 Als „außergewöhnliche Umstände“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 werden Vorkommnisse angesehen, die ihrer Natur oder Ursache nach nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betreffenden Luftfahrtunternehmens sind und von ihm nicht tatsächlich beherrschbar sind, wobei diese beiden Bedingungen kumulativ sind und ihr Vorliegen von Fall zu Fall zu beurteilen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. März 2021, Airhelp, C‑28/20, EU:C:2021:226, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).

25 Somit stellen technische Störungen als solche, sofern sie nicht die beiden in der vorstehenden Randnummer genannten kumulativen Voraussetzungen erfüllen, keine „außergewöhnlichen Umstände“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 dar (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. Dezember 2008, Wallentin-Hermann, C‑549/07, EU:C:2008:771, Rn. 25, und vom 12. März 2020, Finnair, C‑832/18, EU:C:2020:204, Rn. 39).

26 Vor diesem Hintergrund ist zu beurteilen, ob es einen „außergewöhnlichen Umstand“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 darstellen kann, wenn eine unerwartete und neuartige technische Störung ein neues, vor Kurzem in Betrieb genommenes Flugzeugmodell betrifft und sich nach der Annullierung eines Fluges herausstellt, dass sie durch einen versteckten Konstruktionsfehler verursacht wurde, der sämtliche Flugzeuge dieses Typs betraf und die Flugsicherheit beeinträchtigte.

27 Als Erstes ist zu bestimmen, ob es sich bei einer technischen Störung, die die in der vorstehenden Randnummer genannten Merkmale aufweist, ihrer Natur oder Ursache nach um ein Vorkommnis handeln kann, das nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betreffenden Luftfahrtunternehmens ist.

28 Insoweit hat der Gerichtshof entschieden, dass Luftfahrtunternehmen angesichts der besonderen Bedingungen, unter denen der Luftverkehr durchgeführt wird, und des Maßes an technologischer Komplexität der Flugzeuge, das dazu führt, dass der Betrieb von Flugzeugen unausweichlich technische Probleme, Pannen oder das vorzeitige und unerwartete Auftreten von Störungen an bestimmten Teilen eines Flugzeugs mit sich bringt, im Rahmen ihrer Tätigkeit gewöhnlich solchen Problemen gegenüberstehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. April 2019, Germanwings, C‑501/17, EU:C:2019:288, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung).

29 Daraus folgt, dass die Behebung eines technischen Problems, das aus einer Panne, der mangelhaften Wartung eines Flugzeugs oder dem vorzeitigen und unerwarteten Auftreten von Störungen an bestimmten Teilen eines Flugzeugs resultiert, als Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des Luftfahrtunternehmens gilt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. Dezember 2008, Wallentin-Hermann, C‑549/07, EU:C:2008:771, Rn. 25, vom 17. September 2015, van der Lans, C‑257/14, EU:C:2015:618, Rn. 41 und 42, sowie vom 12. März 2020, Finnair, C‑832/18, EU:C:2020:204, Rn. 41).

30 Eine technische Störung ist jedoch nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des Luftfahrtunternehmens und kann daher unter den Begriff „außergewöhnliche Umstände“ fallen, wenn der Hersteller der Maschinen, aus denen die Flotte des betroffenen Luftfahrtunternehmens besteht, oder eine zuständige Behörde nach der Inbetriebnahme der Maschinen entdeckt, dass diese einen versteckten Fabrikationsfehler aufweisen, der die Flugsicherheit beeinträchtigt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. Dezember 2008, Wallentin-Hermann, C‑549/07, EU:C:2008:771, Rn. 26, und vom 17. September 2015, van der Lans, C‑257/14, EU:C:2015:618, Rn. 38).

31 Im vorliegenden Fall steht, wie aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, fest, dass die technische Störung auf einen versteckten Konstruktionsfehler zurückzuführen ist, der sämtliche Flugzeuge dieses Typs betraf und die Flugsicherheit beeinträchtigte, so dass dieses Vorkommnis nach der in der vorstehenden Randnummer angeführten Rechtsprechung nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des Luftfahrtunternehmens ist.

32 Als Zweites ist zu prüfen, ob eine technische Störung, die die in Rn. 26 des vorliegenden Urteils genannten Merkmale aufweist, als ein Vorkommnis anzusehen ist, das vom betreffenden Luftfahrtunternehmen in keiner Weise tatsächlich beherrschbar ist, d. h. als ein Vorkommnis, das für das Luftfahrtunternehmen überhaupt nicht kontrollierbar ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. März 2021, Airhelp, C‑28/20, EU:C:2021:226, Rn. 36).

33 Grundsätzlich sind technische Störungen oder Pannen vom Luftfahrtunternehmen zwar tatsächlich beherrschbar, da die Vermeidung bzw. Behebung solcher Störungen und Pannen Teil der Aufgabe des Luftfahrtunternehmens ist, für die Wartung und den reibungslosen Betrieb des von ihm zu wirtschaftlichen Zwecken genutzten Flugzeugs zu sorgen (Urteil vom 17. September 2015, van der Lans, C‑257/14, EU:C:2015:618, Rn. 43). Anders verhält es sich jedoch bei einem versteckten Konstruktionsfehler eines Flugzeugs.

34 Auch wenn das Luftfahrtunternehmen für die Wartung und den reibungslosen Betrieb des von ihm zu wirtschaftlichen Zwecken genutzten Flugzeugs zu sorgen hat, ist zum einen nämlich fraglich, ob in dem Fall, dass ein versteckter Konstruktionsfehler vom Hersteller des betreffenden Flugzeugs oder von der zuständigen Behörde erst nach der Annullierung eines Fluges aufgedeckt wird, tatsächlich über die Kompetenz verfügt, den Fehler ausfindig zu machen und zu beheben, so dass nicht davon auszugehen ist, dass das Zutagetreten eines solchen Fehlers für das Unternehmen kontrollierbar ist.

35 Zum anderen ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Begriff „außergewöhnliche Umstände“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004, dass Vorkommnisse mit im Hinblick auf das ausführende Luftfahrtunternehmen „interner“ Ursache von solchen mit „externer“ Ursache zu unterscheiden sind und nur Vorkommnisse der letzteren Art vom Luftfahrtunternehmen möglicherweise nicht tatsächlich beherrschbar sind. Unter den Begriff „Vorkommnisse mit externer Ursache“ fallen solche, die auf die Tätigkeit des Luftfahrtunternehmens und auf äußere Umstände zurückzuführen sind, die in der Praxis mehr oder weniger häufig vorkommen, aber vom Luftfahrtunternehmen nicht beherrschbar sind, weil sie auf die Handlung eines Dritten, etwa eines anderen Luftfahrtunternehmens oder einer öffentlichen oder privaten Stelle, zurückgehen, die in den Flug- oder den Flughafenbetrieb eingreifen (Urteil vom 7. Juli 2022, SATA International – Azores Airlines [Ausfall des Betankungssystems], C‑308/21, EU:C:2022:533, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).

36 Im vorliegenden Fall ist daher zu prüfen, ob die nach der Entscheidung des Luftfahrtunternehmens, einen Flug zu annullieren, erfolgte Meldung oder Anerkenntnis des Herstellers, dass ein versteckter Konstruktionsfehler vorliegt, der eine Maschine betrifft und die Flugsicherheit beeinträchtigen kann, die Handlung eines in den Flugbetrieb des Luftfahrtunternehmens eingreifenden Dritten darstellen und somit ein Vorkommnis mit externer Ursache sein kann.

37 Insoweit ist klarzustellen, dass sich aus der in den Rn. 30 und 35 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung nicht ergibt, dass der Gerichtshof die Einstufung eines versteckten Konstruktionsfehlers als „außergewöhnlichen Umstand“ von der Voraussetzung abhängig gemacht hätte, dass der Flugzeughersteller oder die zuständige Behörde das Vorliegen dieses Fehlers vor dem Auftreten der dadurch verursachten technischen Störung aufgedeckt hat. Auf den Zeitpunkt, zu dem der Zusammenhang zwischen der technischen Störung und dem versteckten Konstruktionsfehler vom Flugzeughersteller oder von der zuständigen Behörde aufgedeckt wird, kommt es nämlich nicht an, sofern der versteckte Konstruktionsfehler zum Zeitpunkt der Annullierung des Fluges vorlag und das Luftfahrtunternehmen über keine Kontrollmittel verfügte, um diesen Fehler zu beheben.

38 Die Einstufung einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden als „außergewöhnlicher Umstand“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 steht im Einklang mit dem Ziel dieser Verordnung, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen, wie es in ihrem ersten Erwägungsgrund heißt. Dieses Ziel impliziert nämlich, dass für Luftfahrtunternehmen keine Anreize geschaffen werden sollten, die aufgrund eines solchen Vorfalls erforderlichen Maßnahmen zu unterlassen, indem sie der Aufrechterhaltung und der Pünktlichkeit ihrer Flüge einen höheren Stellenwert einräumen als deren Sicherheit (vgl. entsprechend Urteile vom 4. Mai 2017, Pešková und Peška, C‑315/15, EU:C:2017:342, Rn. 25, sowie vom 4. April 2019, Germanwings, C‑501/17, EU:C:2019:288, Rn. 28).

39 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen ist, dass das Auftreten einer unerwarteten und neuartigen technischen Störung, die ein neues, vor Kurzem in Betrieb genommenes Flugzeugmodell betrifft und das Luftfahrtunternehmen zur Annullierung eines Fluges veranlasst, unter den Begriff „außergewöhnliche Umstände“ im Sinne dieser Bestimmung fällt, wenn der Hersteller dieses Flugzeugs nach der Annullierung anerkennt, dass diese Störung durch einen versteckten Konstruktionsfehler verursacht wurde, der sämtliche Flugzeuge dieses Typs betraf und die Flugsicherheit beeinträchtigte.

Kosten

40 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 5 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91

ist dahin auszulegen, dass

das Auftreten einer unerwarteten und neuartigen technischen Störung, die ein neues, vor Kurzem in Betrieb genommenes Flugzeugmodell betrifft und das Luftfahrtunternehmen zur Annullierung eines Fluges veranlasst, unter den Begriff „außergewöhnliche Umstände“ im Sinne dieser Bestimmung fällt, wenn der Hersteller dieses Flugzeugs nach der Annullierung anerkennt, dass diese Störung durch einen versteckten Konstruktionsfehler verursacht wurde, der sämtliche Flugzeuge dieses Typs betraf und die Flugsicherheit beeinträchtigte.

Unterschriften

Quelle: https://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=261%252F2004&docid=287074&pageIndex=0&doclang=de&mode=req&dir=&occ=first&part=1&cid=8521355#ctx1

EuGH, Urteil v. 13. Juni 2025, C‑411/23

Verstreckter Defekt am Fluggerät kann außergewöhnlichen Umstand auch dann darstellen, wenn Luftfahrtunternehmen hierüber frühzeitig informiert wurde. Luftfahrtunternehmen ist im Rahmen des Zumutbaren verpflichtet, Ersatzflugzeuge in Reserve zu halten.

Leitsätze der Kanzlei Woicke

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Achte Kammer)

13. Juni 2024(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Luftverkehr – Verordnung (EG) Nr. 261/2004 – Art. 5 Abs. 3 – Ausgleichszahlungen für Fluggäste bei großer Verspätung oder Annullierung von Flügen – Befreiung von der Ausgleichspflicht – Außergewöhnliche Umstände – Zumutbare Vorbeugungsmaßnahmen – Technische Störungen, die durch einen versteckten Konstruktionsfehler verursacht wurden – Konstruktionsfehler des Triebwerks eines Flugzeugs – Pflicht des Luftfahrtunternehmens, Ersatzflugzeuge vorzuhalten“

In der Rechtssache C‑411/23

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sąd Okręgowy w Warszawie (Regionalgericht Warschau, Polen) mit Entscheidung vom 26. Mai 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 3. Juli 2023, in dem Verfahren

D. S.A.

gegen

P. S.A.

erlässt

DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten N. Piçarra sowie der Richter N. Jääskinen und M. Gavalec (Berichterstatter),

Generalanwältin: L. Medina,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– der D. S.A., vertreten durch P. Gad, K. Puchalska und K. Żbikowska, Adwokaci,

– der P. S.A., vertreten durch E. Cieplak-Greszta, Adwokat,

– der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch N. Yerrell und B. Sasinowska als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (ABl. 2004, L 46, S. 1).

2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der D. S.A., vormals P.[R] (im Folgenden: Klägerin des Ausgangsverfahrens), der Zessionarin der Rechte von J. D., und der P. S.A., einem Luftfahrtunternehmen (im Folgenden: im Ausgangsverfahren in Rede stehendes Luftfahrtunternehmen), wegen dessen Weigerung, J. D., einem Fluggast, dessen Flug eine große Ankunftsverspätung hatte, einen Ausgleich zu leisten.

Rechtlicher Rahmen

3 Die Erwägungsgründe 1, 14 und 15 der Verordnung Nr. 261/2004 lauten:

„(1) Die Maßnahmen der [Europäischen] Gemeinschaft im Bereich des Luftverkehrs sollten unter anderem darauf abzielen, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen. Ferner sollte den Erfordernissen des Verbraucherschutzes im Allgemeinen in vollem Umfang Rechnung getragen werden.



(14) Wie nach dem Übereinkommen [zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr, geschlossen am 28. Mai 1999 in Montreal und genehmigt im Namen der Europäischen Gemeinschaft durch den Beschluss 2001/539/EG des Rates vom 5. April 2001 (ABl. 2001, L 194, S. 38)] sollten die Verpflichtungen für ausführende Luftfahrtunternehmen in den Fällen beschränkt oder ausgeschlossen sein, in denen ein Vorkommnis auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären. Solche Umstände können insbesondere bei politischer Instabilität, mit der Durchführung des betreffenden Fluges nicht zu vereinbarenden Wetterbedingungen, Sicherheitsrisiken, unerwarteten Flugsicherheitsmängeln und den Betrieb eines ausführenden Luftfahrtunternehmens beeinträchtigenden Streiks eintreten.

(15) Vom Vorliegen außergewöhnlicher Umstände sollte ausgegangen werden, wenn eine Entscheidung des Flugverkehrsmanagements zu einem einzelnen Flugzeug an einem bestimmten Tag zur Folge hat, dass es bei einem oder mehreren Flügen des betreffenden Flugzeugs zu einer großen Verspätung, einer Verspätung bis zum nächsten Tag oder zu einer Annullierung kommt, obgleich vom betreffenden Luftfahrtunternehmen alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen wurden, um die Verspätungen oder Annullierungen zu verhindern.“

4 Art. 5 („Annullierung“) dieser Verordnung bestimmt:

„(1) Bei Annullierung eines Fluges [wird] den betroffenen Fluggästen



c) vom ausführenden Luftfahrtunternehmen ein Anspruch auf Ausgleichsleistungen gemäß Artikel 7 eingeräumt, es sei denn, [sie werden über die Annullierung des Fluges unterrichtet]



(3) Ein ausführendes Luftfahrtunternehmen ist nicht verpflichtet, Ausgleichszahlungen gemäß Artikel 7 zu leisten, wenn es nachweisen kann, dass die Annullierung auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären.

…“

5 Art. 7 („Ausgleichsanspruch“) Abs. 1 der Verordnung sieht vor:

„Wird auf diesen Artikel Bezug genommen, so erhalten die Fluggäste Ausgleichszahlungen in folgender Höhe:

a) 250 [Euro] bei allen Flügen über eine Entfernung von 1 500 km oder weniger,

b) 400 [Euro] bei allen innergemeinschaftlichen Flügen über eine Entfernung von mehr als 1 500 km und bei allen anderen Flügen über eine Entfernung zwischen 1 500 km und 3 500 km,

c) 600 [Euro] bei allen nicht unter Buchstabe a) oder b) fallenden Flügen.

…“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

6 Am 2. Juli 2018 schloss J. D. mit dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Luftfahrtunternehmen einen Vertrag über einen Luftbeförderungsdienst für einen Flug von Kraków (Krakau, Polen) nach Chicago (Vereinigte Staaten).

7 Zuvor, nämlich im April 2018, hatte der Hersteller des Triebwerks, mit dem das für diesen Flug vorgesehene Flugzeug ausgestattet war, diesem Luftfahrtunternehmen eine Anweisung und ein Bulletin übermittelt, mit denen das Vorliegen eines versteckten Konstruktionsfehlers offenbart wurde, der die Hochdruckverdichterschaufeln der Triebwerke betraf, mit denen die Flugzeuge des betreffenden Modells ausgestattet waren (im Folgenden: Konstruktionsfehler des Triebwerks). Ferner wurde mit diesen Dokumenten eine Reihe von Beschränkungen für den Einsatz dieser Flugzeuge vorgeschrieben. Das Luftfahrtunternehmen macht geltend, es habe sich ab diesem Zeitpunkt mehrfach an verschiedene Unternehmen gewandt und versucht, zusätzliche Flugzeuge zu chartern, um dem etwaigen Zutagetreten eines Konstruktionsfehlers am Triebwerk eines der Flugzeuge seiner Flotte zu begegnen.

8 Am 28. Juni 2018, d. h. vier Tage vor dem geplanten Flug, kam es bei einem Flug mit dem Flugzeug, das für den von J. D. gebuchten Flug vorgesehen war, zu einer Triebwerksstörung. Gemäß den Empfehlungen des Triebwerksherstellers untersuchte das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Luftfahrtunternehmen das betroffene Triebwerk notfallmäßig und stellte einen Konstruktionsfehler des Triebwerks fest. Nach Rücksprache mit dem Triebwerkshersteller wurde das betroffene Triebwerk außer Betrieb genommen, abmontiert und zur Reparatur an ein Wartungszentrum geschickt. Da aufgrund einer weltweiten Triebwerksknappheit nicht sofort ein Ersatztriebwerk verfügbar war, konnte das schadhafte Triebwerk erst am 5. Juli 2018 ausgetauscht werden, so dass das Flugzeug am darauffolgenden 7. Juli wieder in Betrieb genommen wurde.

9 In diesem Zusammenhang führte das Luftfahrtunternehmen den für den 2. Juli 2018 geplanten Flug an diesem Tag nicht mit dem ursprünglich vorgesehenen Flugzeug, sondern mit einem Ersatzflugzeug durch, das bei der Ankunft eine Verspätung von mehr als drei Stunden gegenüber der ursprünglich geplanten Ankunftszeit hatte.

10 Am 18. Juli 2018 trat J. D. seine Forderung, die sich aus der großen Verspätung bei der Ankunft des Fluges ergab, an die Klägerin des Ausgangsverfahrens ab.

11 Das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Luftfahrtunternehmen lehnte es ab, die in Art. 7 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 261/2004 vorgesehene Ausgleichszahlung in Höhe von 600 Euro zu leisten, weil die Verspätung bei der Ankunft des betreffenden Fluges darauf zurückzuführen sei, dass der Konstruktionsfehler des Triebwerks entdeckt worden sei. Es habe alle erdenklichen Maßnahmen ergriffen, um jegliche Widrigkeiten in Bezug auf den geplanten Flug zu minimieren. Angesichts dessen rief die Klägerin des Ausgangsverfahrens am 29. März 2019 den Sąd Rejonowy dla m. st. Warszawy w Warszawie (Rayongericht Warschau, Polen) an.

12 Mit Entscheidung vom 3. Dezember 2021 befand dieses erstinstanzliche Gericht, dass der bei der Notinspektion vom 28. Juni 2018 festgestellte Konstruktionsfehler des Triebwerks einen „außergewöhnlichen Umstand“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 darstelle und dass das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Luftfahrtunternehmen alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen habe, um für die Durchführung des Fluges ein Ersatzflugzeug vorzusehen.

13 Gegen diese Entscheidung legte die Klägerin des Ausgangsverfahrens beim Sąd Okręgowy w Warszawie (Regionalgericht Warschau, Polen), dem vorlegenden Gericht, Berufung ein.

14 Das vorlegende Gericht geht von der Prämisse aus, dass der Grund für die Verspätung des betreffenden Fluges im Vorliegen eines am 28. Juni 2018 bei einer Notinspektion des betreffenden Flugzeugs festgestellten Konstruktionsfehlers des Triebwerks liegt. Es hegt jedoch Zweifel in zweierlei Hinsicht.

15 Erstens ist es sich darüber im Unklaren, ob der Konstruktionsfehler des Triebwerks, der dem betreffenden Luftfahrtunternehmen vom Triebwerkshersteller im April 2018 durch Übermittlung einer Anweisung und eines Bulletins offenbart wurde, mit denen eine Reihe von Beschränkungen für den Einsatz des Flugzeugs vorgeschrieben wurde, unter den Begriff „außergewöhnlicher Umstand“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 – wie vom Gerichtshof in den Urteilen vom 22. Dezember 2008, Wallentin-Hermann (C‑549/07, EU:C:2008:771), vom 17. September 2015, van der Lans (C‑257/14, EU:C:2015:618), und vom 12. März 2020, Finnair (C‑832/18, EU:C:2020:204), ausgelegt – fallen kann, auch wenn das Zutagetreten dieses Fehlers vorhersehbar geworden war.

16 Insoweit hält es das vorlegende Gericht für zweifelhaft, dass der Konstruktionsfehler des Triebwerks zwangsläufig zutage treten musste. Bei den Inspektionen an verschiedenen Flugzeugen sei nämlich kein Riss in der Schaufelbasis festgestellt worden. Außerdem habe der Hersteller des Triebwerks weder die sofortige Außerbetriebnahme aller Flugzeuge empfohlen noch angegeben, dass diese nicht fliegen könnten.

17 In diesem Zusammenhang weist das vorlegende Gericht auch darauf hin, dass Luftfahrtunternehmen besonders strenge technische und administrative Verfahren einhalten müssten. So könne sich ein Luftfahrtunternehmen grundsätzlich nicht darauf berufen, dass es über das Auftreten technischer Probleme bei Flugzeugen, unabhängig von deren Ursache, keine Kontrolle habe, da es alle geeigneten Verfahren befolgen bzw. alle erforderlichen, möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen müsse, um einem Vorkommnis entgegenzuwirken, das zu einer Verspätung oder Annullierung von Flügen führen könnte.

18 Im vorliegenden Fall seien solche Verfahren eingehalten worden, und das Luftfahrtunternehmen sei den Empfehlungen des Triebwerksherstellers gefolgt, indem es Inspektionen im angegebenen Umfang und mit der angegebenen Häufigkeit durchgeführt habe. Somit ließe sich die Auffassung vertreten, dass diese Inspektionen Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des Luftfahrtunternehmens seien. Die Anwendung dieser Verfahren bedeute jedoch nicht, dass die Entdeckung des versteckten Konstruktionsfehlers, den das Triebwerk des betreffenden Flugzeugs aufweise, für das Luftfahrtunternehmen tatsächlich beherrschbar sei.

19 Zweitens fragt das vorlegende Gericht nach der Auslegung des Begriffs „alle zumutbaren Maßnahmen“ (im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004), die von einem Luftfahrtunternehmen erwartet werden können, wenn es mit dem Auftreten „außergewöhnlicher Umstände“ konfrontiert ist. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs führten nämlich nicht alle außergewöhnlichen Umstände zu einer Befreiung, sondern es obliege dem Luftfahrtunternehmen, das sich darauf berufen wolle, darüber hinaus den Nachweis zu führen, dass sich die betreffenden Umstände jedenfalls nicht durch der Situation angepasste Maßnahmen hätten vermeiden lassen, d. h. solche, die zu dem Zeitpunkt, zu dem die entsprechenden Umstände aufträten, für das Unternehmen in technischer und wirtschaftlicher Hinsicht tragbar seien. Vom Luftfahrtunternehmen könne nicht verlangt werden, dass es Opfer bringe, die angesichts seiner Kapazitäten nicht tragbar seien.

20 Insoweit sei fraglich, welchen Umfang die „zumutbaren Maßnahmen“ präventiver Art hätten, die von einem Luftfahrtunternehmen erwartet werden könnten, wenn die Feststellung eines versteckten Konstruktionsfehlers bei einem seiner Flugzeuge noch ungewiss sei. Es sei zwar zweifelhaft, dass vom Luftfahrtunternehmen im Rahmen dieser „zumutbaren Maßnahmen“ präventiver Art verlangt werden könne, dass es das Triebwerk austausche, bevor der Konstruktionsfehler tatsächlich festgestellt werde, oder dass es das Flugzeug außer Betrieb nehme, bis der Triebwerkshersteller den Konstruktionsfehler des Triebwerks behoben habe. Es sei aber nicht ausgeschlossen, dass man vom Luftfahrtunternehmen erwarten könne, dass es einen Plan erstelle, um als „Reserve“ über eine Flugzeugflotte mit vollständiger Besatzung zu verfügen, die im Fall des Eintritts außergewöhnlicher Umstände die planmäßigen Flüge durchführen könne.

21 Schließlich sei darauf hinzuweisen, dass das betreffende Luftfahrtunternehmen seit April 2018 nur acht Anbieter kontaktiert habe, um ein Ersatzflugzeug zu chartern, was nach Ansicht der Klägerin des Ausgangsverfahrens unzureichend sei, da das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Luftfahrtunternehmen es somit unterlassen habe, 18 weitere Luftfahrtunternehmen zu kontaktieren, darunter solche, die das sogenannte „Wet Lease“ praktizierten, d. h. die Vermietung von Flugzeugen mit Besatzung. Darüber hinaus merke die Klägerin des Ausgangsverfahrens an, dass die Bemühungen dieses Luftfahrtunternehmens, ein Ersatzflugzeug zu chartern, im September 2018 erfolgreich gewesen seien, was belege, dass das Unternehmen zu spät auf das wahrscheinliche Zutagetreten eines Konstruktionsfehlers am Triebwerk eines seiner Flugzeuge reagiert habe.

22 Unter diesen Umständen hat der Sąd Okręgowy w Warszawie (Regionalgericht Warschau) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Stellt der vom Hersteller entdeckte Konstruktionsfehler eines Flugzeugtriebwerks einen „außergewöhnlichen Umstand“ dar und ist er vom Begriff „unerwartete Mängel“ im Sinne der Erwägungsgründe 14 und 15 der Verordnung Nr. 261/2004 umfasst, wenn das Luftfahrtunternehmen einige Monate vor dem Flug von einem möglichen Konstruktionsfehler Kenntnis hatte?

2. Falls der in der ersten Frage genannte Konstruktionsfehler einen „außergewöhnlichen Umstand“ im Sinne der Erwägungsgründe 14 und 15 der Verordnung Nr. 261/2004 darstellt: Ist im Rahmen des Ergreifens „aller zumutbaren Maßnahmen“, die im 14. Erwägungsgrund und in Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 genannt sind, vom Luftfahrtunternehmen zu erwarten, dass es angesichts der wahrscheinlichen Entdeckung eines Konstruktionsfehlers eines Flugzeugtriebwerks auf die Bereithaltung von Ersatzflugzeugen abzielende Präventivmaßnahmen im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 ergreift, um von seiner Verpflichtung befreit zu werden, die in Art. 5 Abs. 1 Buchst. c und Art. 7 Abs. 1 dieser Verordnung vorgesehene Ausgleichszahlung zu leisten?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

23 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen ist, dass die Entdeckung eines versteckten Konstruktionsfehlers am Triebwerk eines Flugzeugs, mit dem ein Flug durchgeführt werden soll, unter den Begriff „außergewöhnliche Umstände“ im Sinne dieser Bestimmung fällt, selbst wenn das Luftfahrtunternehmen vom Hersteller des Triebwerks mehrere Monate vor dem betreffenden Flug über das Vorliegen eines derartigen Fehlers informiert wurde.

24 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Fluggäste verspäteter Flüge im Hinblick auf die Anwendung des Ausgleichsanspruchs den Fluggästen annullierter Flüge gleichgestellt werden können und somit den in Art. 7 dieser Verordnung vorgesehenen Ausgleichsanspruch geltend machen können, wenn sie wegen eines verspäteten Fluges einen Zeitverlust von drei Stunden oder mehr erleiden, d. h., wenn sie ihr Endziel nicht früher als drei Stunden nach der von dem Luftfahrtunternehmen ursprünglich geplanten Ankunftszeit erreichen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. November 2009, Sturgeon u. a., C‑402/07 und C‑432/07, EU:C:2009:716, Rn. 69).

25 Nach Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 in Verbindung mit deren Erwägungsgründen 14 und 15 ist das Luftfahrtunternehmen von dieser Verpflichtung zu Ausgleichszahlungen befreit, wenn es nachweisen kann, dass die Annullierung bzw. die große Ankunftsverspätung auf „außergewöhnliche Umstände“ zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären, und wenn es bei Eintritt eines solchen Umstands zudem nachweisen kann, dass es die der Situation angemessenen Maßnahmen ergriffen hat, indem es alle ihm zur Verfügung stehenden personellen, materiellen und finanziellen Mittel eingesetzt hat, um zu vermeiden, dass dieser zur Annullierung oder zur großen Verspätung des betreffenden Fluges führt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. März 2021, Airhelp, C‑28/20, EU:C:2021:226, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung).

26 Da dieser Art. 5 Abs. 3 eine Ausnahme vom Grundsatz des Ausgleichsanspruchs der Fluggäste darstellt, und in Anbetracht des mit der Verordnung Nr. 261/2004 verfolgten Ziels, das nach ihrem ersten Erwägungsgrund darin besteht, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen, ist der Begriff „außergewöhnliche Umstände“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 eng auszulegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. April 2018, Krüsemann u. a., C‑195/17, C‑197/17 bis C‑203/17, C‑226/17, C‑228/17, C‑254/17, C‑274/17, C‑275/17, C‑278/17 bis C‑286/17 und C‑290/17 bis C‑292/17, EU:C:2018:258, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).

27 Als „außergewöhnliche Umstände“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 werden Vorkommnisse angesehen, die ihrer Natur oder Ursache nach nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betreffenden Luftfahrtunternehmens sind und von ihm nicht tatsächlich beherrschbar sind, wobei diese beiden Bedingungen kumulativ sind und ihr Vorliegen von Fall zu Fall zu beurteilen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. März 2021, Airhelp, C‑28/20, EU:C:2021:226, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).

28 Somit stellen technische Störungen als solche, sofern sie nicht die beiden in der vorstehenden Randnummer genannten kumulativen Voraussetzungen erfüllen, keine „außergewöhnlichen Umstände“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 dar (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. Dezember 2008, Wallentin-Hermann, C‑549/07, EU:C:2008:771, Rn. 25, und vom 12. März 2020, Finnair, C‑832/18, EU:C:2020:204, Rn. 39).

29 Vor diesem Hintergrund ist zu beurteilen, ob es einen „außergewöhnlichen Umstand“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 darstellen kann, wenn ein versteckter Konstruktionsfehler eines Flugzeugtriebwerks, der zu einer großen Verspätung bei der Ankunft eines Fluges führt, entdeckt wird und das Luftfahrtunternehmen vom Triebwerkshersteller mehrere Monate vor diesem Flug über das Vorliegen eines solchen Fehlers informiert worden war.

30 Als Erstes ist zu bestimmen, ob es sich bei einem versteckten Konstruktionsfehler, der die in der vorstehenden Randnummer genannten Merkmale aufweist, seiner Natur oder Ursache nach um ein Vorkommnis handeln kann, das nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des Luftfahrtunternehmens ist.

31 Insoweit hat der Gerichtshof entschieden, dass Luftfahrtunternehmen angesichts der besonderen Bedingungen, unter denen der Luftverkehr durchgeführt wird, und des Maßes an technologischer Komplexität der Flugzeuge, das dazu führt, dass der Betrieb von Flugzeugen unausweichlich technische Probleme, Pannen oder das vorzeitige und unerwartete Auftreten von Störungen an bestimmten Teilen eines Flugzeugs mit sich bringt, im Rahmen ihrer Tätigkeit gewöhnlich solchen Problemen gegenüberstehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. April 2019, Germanwings, C‑501/17, EU:C:2019:288, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung).

32 Daraus folgt, dass die Behebung eines technischen Problems, das aus einer Panne, der mangelhaften Wartung eines Flugzeugs oder dem vorzeitigen und unerwarteten Auftreten von Störungen an bestimmten Teilen eines Flugzeugs resultiert, als Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des Luftfahrtunternehmens gilt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. Dezember 2008, Wallentin-Hermann, C‑549/07, EU:C:2008:771, Rn. 25, vom 17. September 2015, van der Lans, C‑257/14, EU:C:2015:618, Rn. 41 und 42, sowie vom 12. März 2020, Finnair, C‑832/18, EU:C:2020:204, Rn. 41).

33 Eine technische Störung ist jedoch nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des Luftfahrtunternehmens und kann daher unter den Begriff „außergewöhnliche Umstände“ fallen, wenn der Hersteller der Maschinen, aus denen die Flotte des betroffenen Luftfahrtunternehmens besteht, oder eine zuständige Behörde nach der Inbetriebnahme der Maschinen entdeckt, dass diese einen versteckten Fabrikationsfehler aufweisen, der die Flugsicherheit beeinträchtigt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. Dezember 2008, Wallentin-Hermann, C‑549/07, EU:C:2008:771, Rn. 26, und vom 17. September 2015, van der Lans, C‑257/14, EU:C:2015:618, Rn. 38).

34 Im vorliegenden Fall steht, wie aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, fest, dass das ursprünglich für die Durchführung des verspäteten Fluges vorgesehene Flugzeug einen versteckten Konstruktionsfehler aufwies, der sämtliche Triebwerke desselben Typs betraf und die Flugsicherheit beeinträchtigte, und dass der Triebwerkshersteller einige Monate, bevor dieser Konstruktionsfehler am betreffenden Flugzeug festgestellt wurde, darauf hingewiesen hatte. Ein solches Vorkommnis ist nach der in der vorstehenden Randnummer angeführten Rechtsprechung nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des Luftfahrtunternehmens.

35 Als Zweites ist zu prüfen, ob die Entdeckung eines versteckten Konstruktionsfehlers des Triebwerks, der die in Rn. 29 des vorliegenden Urteils genannten Merkmale aufweist, als ein Vorkommnis anzusehen ist, das vom betreffenden Luftfahrtunternehmen in keiner Weise tatsächlich beherrschbar ist, d. h. als ein Vorkommnis, das für das Luftfahrtunternehmen überhaupt nicht kontrollierbar ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. März 2021, Airhelp, C‑28/20, EU:C:2021:226, Rn. 36).

36 Grundsätzlich sind technische Störungen oder Pannen vom Luftfahrtunternehmen zwar tatsächlich beherrschbar, da die Vermeidung bzw. Behebung solcher Störungen und Pannen Teil der Aufgabe des Luftfahrtunternehmens ist, für die Wartung und den reibungslosen Betrieb des von ihm zu wirtschaftlichen Zwecken genutzten Flugzeugs zu sorgen (Urteil vom 17. September 2015, van der Lans, C‑257/14, EU:C:2015:618, Rn. 43). Anders verhält es sich jedoch bei einem versteckten Konstruktionsfehler des Triebwerks eines Flugzeugs.

37 Auch wenn das Luftfahrtunternehmen für die Wartung und den reibungslosen Betrieb des von ihm zu wirtschaftlichen Zwecken genutzten Flugzeugs zu sorgen hat, ist zum einen nämlich fraglich, ob in dem Fall, dass ein versteckter Konstruktionsfehler vom Hersteller des betreffenden Flugzeugs, vom Hersteller des Triebwerks oder auch von der zuständigen Behörde erst nach der Inbetriebnahme dieses Flugzeugs aufgedeckt wird, dieses Luftfahrtunternehmen tatsächlich über die Kompetenz verfügt, den Fehler ausfindig zu machen und zu beheben, so dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass das Zutagetreten eines solchen Fehlers für das Unternehmen kontrollierbar ist.

38 Zum anderen ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Begriff „außergewöhnliche Umstände“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004, dass Vorkommnisse mit im Hinblick auf das Luftfahrtunternehmen „interner“ Ursache von solchen mit „externer“ Ursache zu unterscheiden sind und nur Vorkommnisse der letzteren Art vom Luftfahrtunternehmen möglicherweise nicht tatsächlich beherrschbar sind. Unter den Begriff „Vorkommnisse mit externer Ursache“ fallen solche, die auf die Tätigkeit des Luftfahrtunternehmens und auf äußere Umstände zurückzuführen sind, die in der Praxis mehr oder weniger häufig vorkommen, aber vom Luftfahrtunternehmen nicht beherrschbar sind, weil sie auf die Handlung eines Dritten, etwa eines anderen Luftfahrtunternehmens oder einer öffentlichen oder privaten Stelle, zurückgehen, die in den Flug- oder den Flughafenbetrieb eingreifen (Urteil vom 7. Juli 2022, SATA International – Azores Airlines [Ausfall des Betankungssystems], C‑308/21, EU:C:2022:533, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).

39 Im vorliegenden Fall ist daher zu prüfen, ob die vor dem betreffenden verspäteten Flug erfolgte Meldung oder Anerkenntnis des Triebwerksherstellers, dass ein versteckter, womöglich die Flugsicherheit beeinträchtigender Konstruktionsfehler eines Flugzeugtriebwerks vorliegt, die Handlung eines in den Flugbetrieb des Luftfahrtunternehmens eingreifenden Dritten darstellen und somit ein Vorkommnis mit externer Ursache sein kann.

40 Insoweit ist klarzustellen, dass sich aus der in den Rn. 33 und 38 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung nicht ergibt, dass der Gerichtshof die Einstufung eines versteckten Konstruktionsfehlers als „außergewöhnlichen Umstand“ von der Voraussetzung abhängig gemacht hätte, dass der Flugzeughersteller, der Triebwerkshersteller oder die zuständige Behörde das Vorliegen dieses Fehlers vor dem Auftreten der dadurch verursachten technischen Störung aufgedeckt hat. Auf den Zeitpunkt, zu dem der Zusammenhang zwischen der technischen Störung und dem versteckten Konstruktionsfehler vom Flugzeughersteller, vom Triebwerkshersteller oder von der zuständigen Behörde aufgedeckt wird, kommt es nämlich nicht an, sofern der versteckte Konstruktionsfehler zum Zeitpunkt der Annullierung oder der großen Verspätung des Fluges vorlag und das Luftfahrtunternehmen über keine Kontrollmittel verfügte, um diesen Fehler zu beheben.

41 Die Einstufung einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden als „außergewöhnlicher Umstand“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 steht im Einklang mit dem Ziel dieser Verordnung, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen, wie es in ihrem ersten Erwägungsgrund heißt. Dieses Ziel impliziert nämlich, dass für Luftfahrtunternehmen keine Anreize geschaffen werden sollten, die aufgrund eines solchen Vorfalls erforderlichen Maßnahmen zu unterlassen, indem sie der Aufrechterhaltung und der Pünktlichkeit ihrer Flüge einen höheren Stellenwert einräumen als deren Sicherheit (vgl. entsprechend Urteile vom 4. Mai 2017, Pešková und Peška, C‑315/15, EU:C:2017:342, Rn. 25, sowie vom 4. April 2019, Germanwings, C‑501/17, EU:C:2019:288, Rn. 28).

42 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen ist, dass die Entdeckung eines versteckten Konstruktionsfehlers am Triebwerk eines Flugzeugs, mit dem ein Flug durchgeführt werden soll, unter den Begriff „außergewöhnliche Umstände“ im Sinne dieser Bestimmung fällt, selbst wenn das Luftfahrtunternehmen vom Hersteller des Triebwerks mehrere Monate vor dem betreffenden Flug über das Vorliegen eines derartigen Fehlers informiert wurde.

Zur zweiten Frage

43 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen ist, dass ein Luftfahrtunternehmen im Rahmen „aller zumutbaren Maßnahmen“, die es zu ergreifen hat, um den Eintritt und die Folgen eines „außergewöhnlichen Umstands“ im Sinne dieser Bestimmung, wie etwa die Entdeckung eines versteckten Konstruktionsfehlers des Triebwerks eines seiner Flugzeuge, zu vermeiden, eine vorbeugende Maßnahme ergreifen muss, die darin besteht, eine Flotte von Ersatzflugzeugen in Reserve zu halten.

44 Wie in Rn. 25 des vorliegenden Urteils ausgeführt, ist das Luftfahrtunternehmen bei Eintritt eines „außergewöhnlichen Umstands“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 nur dann von seiner Verpflichtung zu Ausgleichszahlungen an die Fluggäste nach Art. 7 dieser Verordnung befreit, wenn es nachweisen kann, dass es die der Situation angemessenen Maßnahmen ergriffen hat, d. h. solche, die zu dem Zeitpunkt, zu dem die entsprechenden „außergewöhnlichen Umstände“ auftreten, für das Unternehmen insbesondere in technischer und wirtschaftlicher Hinsicht tragbar sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. Dezember 2008, Wallentin-Hermann, C‑549/07, EU:C:2008:771, Rn. 40, und vom 4. April 2019, Germanwings, C‑501/17, EU:C:2019:288, Rn. 31).

45 Das Unternehmen hat nachzuweisen, dass es ihm auch unter Einsatz aller ihm zur Verfügung stehenden personellen, materiellen und finanziellen Mittel offensichtlich nicht möglich gewesen wäre, ohne angesichts seiner Kapazitäten zum maßgeblichen Zeitpunkt nicht tragbare Opfer die außergewöhnlichen Umstände zu vermeiden, mit denen es konfrontiert war und die zur Annullierung bzw. großen Verspätung des Fluges geführt haben (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. Dezember 2008, Wallentin-Hermann, C‑549/07, EU:C:2008:771, Rn. 41, und vom 4. Mai 2017, Pešková und Peška, C‑315/15, EU:C:2017:342, Rn. 29).

46 Der Gerichtshof geht demnach von einer flexiblen, vom Einzelfall abhängigen Bedeutung des Begriffs „zumutbare Maßnahmen“ aus, und es ist Sache des nationalen Gerichts, zu beurteilen, ob in einem konkreten Fall angenommen werden kann, dass das Luftfahrtunternehmen die der Situation angemessenen Maßnahmen getroffen hat, d. h. Maßnahmen, die für das Unternehmen in technischer und wirtschaftlicher Hinsicht durchführbar waren, als die außergewöhnlichen Umstände aufgetreten sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. Dezember 2008, Wallentin-Hermann, C‑549/07, EU:C:2008:771, Rn. 42, vom 12. Mai 2011, Eglītis und Ratnieks, C‑294/10, EU:C:2011:303, Rn. 30, sowie vom 4. Mai 2017, Pešková und Peška, C‑315/15, EU:C:2017:342, Rn. 30).

47 Folglich kann Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 nicht dahin ausgelegt werden, dass er dem Luftfahrtunternehmen allgemein und undifferenziert als „zumutbare Maßnahmen“ im Sinne dieser Bestimmung vorschreibt, eine bestimmte Präventivmaßnahme zu ergreifen – wie etwa die, eine Flotte von Ersatzflugzeugen und die entsprechende Besatzung in Reserve zu halten, wenn es über das Vorliegen eines vom Triebwerkshersteller festgestellten Konstruktionsfehlers des Triebwerks informiert wird –, um dem Eintritt und den Folgen außergewöhnlicher Umstände vorzubeugen.

48 Um zu beurteilen, ob das Luftfahrtunternehmen „alle zumutbaren Maßnahmen“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 ergriffen hat, hat das vorlegende Gericht eine Gesamtwürdigung vorzunehmen. Zu berücksichtigen hat es dabei zum einen sämtliche Maßnahmen, die das Luftfahrtunternehmen seit seiner Kenntnisnahme vom Vorliegen eines vom Triebwerkshersteller offenbarten Konstruktionsfehlers des Triebwerks ergriffen hat, und zwar im Verhältnis zur Gesamtheit der Maßnahmen, die es ergreifen konnte, um sich gegen den Eintritt eines solchen außergewöhnlichen Umstands bei einem seiner Flugzeuge zu wappnen, und zum anderen die Schritte, die das Luftfahrtunternehmen, nachdem es diesen Fehler bei einem der Triebwerke des betreffenden Flugzeugs entdeckt hatte, unternommen hat, um die Annullierung oder große Verspätung des betreffenden Fluges zu verhindern.

49 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Einhaltung der gesetzlich vorgeschriebenen Mindesterfordernisse an Wartungsarbeiten an einem Flugzeug für sich allein nicht ausreicht, um nachzuweisen, dass ein Luftfahrtunternehmen „alle zumutbaren Maßnahmen“ im Sinne dieser Bestimmung ergriffen hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Dezember 2008, Wallentin-Hermann, C‑549/07, EU:C:2008:771, Rn. 43).

50 In diesem Zusammenhang ist es Sache des vorlegenden Gerichts, im Hinblick auf die finanziellen, materiellen und personellen Mittel des Luftfahrtunternehmens zu beurteilen, ob dieses in der Lage war, Flugzeuge nach den verschiedenen bestehenden Modalitäten, d. h. „Dry Lease“/„Wet Lease“, zur Verstärkung zu chartern, oder ob es unter Berücksichtigung dieser Mittel das Triebwerk im Rahmen eines Reparaturplans vorbeugend austauschen oder das Flugzeug bis zur Reparatur oder zum Austausch des Triebwerks durch den Hersteller außer Betrieb nehmen konnte. Dabei hat das vorlegende Gericht die geringe Verfügbarkeit von Ersatztriebwerken vor dem Hintergrund einer weltweiten Knappheit an Triebwerken sowie die Zeit zu berücksichtigen, die für den Einbau des neuen Triebwerks ab dem Zutagetreten des Konstruktionsfehlers erforderlich war.

51 Schließlich ist in Bezug auf diese Gesamtwürdigung noch darauf hinzuweisen, dass grundsätzlich nichts dagegenspricht, dass ein Luftfahrtunternehmen, das über das Vorliegen eines Konstruktionsfehlers des Triebwerks und dessen etwaiges Zutagetreten bei einem der von ihm betriebenen Flugzeuge informiert wird, als vorbeugende Maßnahme eine Ersatzflugzeugflotte mit der entsprechenden Besatzung in Reserve halten muss, wenn diese Maßnahme für das Unternehmen technisch, wirtschaftlich und personell tragbar ist, was zu beurteilen Sache des vorlegenden Gerichts ist.

52 Dagegen ist es ausgeschlossen, zu allen „zumutbaren Maßnahmen“, die von einem Luftfahrtunternehmen erwartet werden können, die von D. in ihren schriftlichen Erklärungen vorgeschlagene Maßnahme zu zählen, nämlich einem Luftfahrtunternehmen vorzuschreiben, sein Flugnetz im Verhältnis zu seiner operativen Kapazität automatisch neu zu dimensionieren. Eine solche Maßnahme kann nämlich im Stadium der Flugplanung bedeuten, dass aufgrund des hypothetischen Zutagetretens eines Konstruktionsfehlers zahlreiche Flüge annulliert oder mit großer Verspätung angesetzt werden, was dem Luftfahrtunternehmen gegebenenfalls Opfer abverlangt, die angesichts seiner Kapazitäten nicht tragbar sind.

53 Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen ist, dass ein Luftfahrtunternehmen im Rahmen „aller zumutbaren Maßnahmen“, die es zu ergreifen hat, um den Eintritt und die Folgen eines „außergewöhnlichen Umstands“ im Sinne dieser Bestimmung, wie etwa die Entdeckung eines versteckten Konstruktionsfehlers des Triebwerks eines seiner Flugzeuge, zu vermeiden, eine vorbeugende Maßnahme ergreifen kann, die darin besteht, eine Flotte von Ersatzflugzeugen in Reserve zu halten, vorausgesetzt, dass diese Maßnahme angesichts der Kapazitäten des Unternehmens zum maßgeblichen Zeitpunkt technisch und wirtschaftlich durchführbar ist.

Kosten

54 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt:

1. Art. 5 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91

ist dahin auszulegen, dass

die Entdeckung eines versteckten Konstruktionsfehlers am Triebwerk eines Flugzeugs, mit dem ein Flug durchgeführt werden soll, unter den Begriff „außergewöhnliche Umstände“ im Sinne dieser Bestimmung fällt, selbst wenn das Luftfahrtunternehmen vom Hersteller des Triebwerks mehrere Monate vor dem betreffenden Flug über das Vorliegen eines derartigen Fehlers informiert wurde.

2. Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004

ist dahin auszulegen, dass

ein Luftfahrtunternehmen im Rahmen „aller zumutbaren Maßnahmen“, die es zu ergreifen hat, um den Eintritt und die Folgen eines „außergewöhnlichen Umstands“ im Sinne dieser Bestimmung, wie etwa die Entdeckung eines versteckten Konstruktionsfehlers des Triebwerks eines seiner Flugzeuge, zu vermeiden, eine vorbeugende Maßnahme ergreifen kann, die darin besteht, eine Flotte von Ersatzflugzeugen in Reserve zu halten, vorausgesetzt, dass diese Maßnahme angesichts der Kapazitäten des Unternehmens zum maßgeblichen Zeitpunkt technisch und wirtschaftlich durchführbar ist.

Unterschriften

Quelle: https://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=261%252F2004&docid=287075&pageIndex=0&doclang=de&mode=req&dir=&occ=first&part=1&cid=8301161#ctx1

Aus Versehen einen Reisegutschein statt Geldbetrag akzeptiert? Häufig kein Problem!

Wer schriftlich – zum Beispiel durch Ausfüllen eines Online-Formulars – einen Reisegutschein akzeptiert, kann damit seinen Anspruch auf einen Geldbetrag ausschließen. Aber nur dann, „wenn er in der Lage war, eine zweckdienliche und informierte Wahl zu treffen“. Dies setzt voraus, „dass das Luftfahrtunternehmen dem Fluggast in lauterer Weise klare und umfassende Informationen über die verschiedenen ihm zur Verfügung stehenden Erstattungsmodalitäten gegeben hat“. So hat es der EuGH mit Urteil vom 21. März 2024 in der Rechtssache C‑76/23 entschieden.

Ein Fluggast hatte auf Rückzahlung seiner Ticketkosten geklagt, nachdem sein Flug annulliert worden war. Zunächst akzeptierte er online einen Reisegutschein, wollte dann aber doch lieber sein Geld zurück. Die maßgebliche EU-VO 261/2004 sieht die Möglichkeit eines Reisegutscheins anstelle des Geldbetrags ausdrücklich vor, allerdings nur mit schriftlicher Zustimmung des betroffenen Passagiers. Der Gerichtshof klärte nun, dass das Ausfüllen eines von der Fluggesellschaft bereitgestellten Online-Formulars durchaus eine „schriftliche Zustimmung“ darstellen kann. Allerdings müsse der Fluggast dafür in die Lage versetzt werden, diese Entscheidung auch sachkundig treffen zu können. Und das setze voraus, dass er in hinreichend klarer Weise zuvor über die verschiedenen Erstattungsmodalitäten aufgeklärt worden ist.

Wer also nicht verständlich darüber informiert wurde, dass er die Erstattung seiner Flugscheinkosten oder die ihm womöglich zustehende Ausgleichszahlung als Geldbetrag beanspruchen kann, darf diesen dann noch beanspruchen, wenn er den Reisegutschein unter Ausschluss sonstiger Ansprüche akzeptiert hat. Sinn ergeben kann ein Reisegutschein gleichwohl: insbesondere, wenn der Reisegutschein höher als der Erstattungsbetrag oder die Ausgleichszahlung ausfällt und der Passagier weiß, dass er schon bald Verwendung für den Gutschein hat. Nur seine Rechte kennen sollte der Fluggast dabei schon!

EuGH, Urteil v. 16. Mai 2024, C‑405/23

Fehlendes Personal für Gepäckverladung kann außergewöhnlichen Umstand darstellen.

Leitsatz der Kanzlei Woicke

In der Rechtssache C‑405/23

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landgericht Köln (Deutschland) mit Beschluss vom 22. Juni 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 3. Juli 2023, in dem Verfahren

Touristic Aviation Services Ltd

gegen

Flightright GmbH

erlässt

DER GERICHTSHOF (Neunte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin O. Spineanu-Matei, des Richters S. Rodin (Berichterstatter) und der Richterin L. S. Rossi,

Generalanwalt: A. Rantos,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– der Touristic Aviation Services Ltd, vertreten durch Rechtsanwältin S. Hendrix,

– der Flightright GmbH, vertreten durch Rechtsanwälte M. Michel und R. Weist,

– der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und J. M. Hoogveld als Bevollmächtigte,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch G. von Rintelen und N. Yerrell als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (ABl. 2004, L 46, S. 1).

2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Touristic Aviation Services Ltd (im Folgenden: TAS) und der Flightright GmbH über eine Ausgleichszahlung, die Flightright aus abgetretenem Recht der Fluggäste von TAS als ausführendem Luftfahrtunternehmen wegen der großen Verspätung eines Fluges fordert.

Unionsrecht

3 Art. 5 der Verordnung Nr. 261/2004 sieht vor:

„(1) Bei Annullierung eines Fluges werden den betroffenen Fluggästen

c) vom ausführenden Luftfahrtunternehmen ein Anspruch auf Ausgleichsleistungen gemäß Artikel 7 eingeräumt, es sei denn,

i) sie werden über die Annullierung mindestens zwei Wochen vor der planmäßigen Abflugzeit unterrichtet, oder

ii) sie werden über die Annullierung in einem Zeitraum zwischen zwei Wochen und sieben Tagen vor der planmäßigen Abflugzeit unterrichtet und erhalten ein Angebot zur anderweitigen Beförderung, das es ihnen ermöglicht, nicht mehr als zwei Stunden vor der planmäßigen Abflugzeit abzufliegen und ihr Endziel höchstens vier Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit zu erreichen, oder

iii) sie werden über die Annullierung weniger als sieben Tage vor der planmäßigen Abflugzeit unterrichtet und erhalten ein Angebot zur anderweitigen Beförderung, das es ihnen ermöglicht, nicht mehr als eine Stunde vor der planmäßigen Abflugzeit abzufliegen und ihr Endziel höchstens zwei Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit zu erreichen.

(3) Ein ausführendes Luftfahrtunternehmen ist nicht verpflichtet, Ausgleichszahlungen gemäß Artikel 7 zu leisten, wenn es nachweisen kann, dass die Annullierung auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären.

…“

4 Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 bestimmt:

„Wird auf diesen Artikel Bezug genommen, so erhalten die Fluggäste Ausgleichszahlungen in folgender Höhe:

a) 250 EUR bei allen Flügen über eine Entfernung von 1 500 km oder weniger,

b) 400 EUR bei allen innergemeinschaftlichen Flügen über eine Entfernung von mehr als 1 500 km und bei allen anderen Flügen über eine Entfernung zwischen 1 500 km und 3 500 km,

c) 600 EUR bei allen nicht unter Buchstabe a) oder b) fallenden Flügen.

…“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

5 Am 4. Juli 2021 kam es bei einem von TAS ausgeführten Flug vom Flughafen Köln-Bonn (Deutschland) zum Flughafen Kos (Griechenland) (im Folgenden: in Rede stehender Flug) bei der Ankunft zu einer Verspätung von drei Stunden und 49 Minuten.

6 Diese Verspätung war erstens darauf zurückzuführen, dass schon der Vorflug eine Verspätung von einer Stunde und 17 Minuten hatte, weil Check‑In-Personal fehlte, zweitens, dass die Gepäckverladung in das Flugzeug dadurch verzögert wurde, dass auch bei dem für diese Dienstleistung verantwortlichen Flughafenbetreiber Personal fehlte, was zu einer weiteren Verzögerung von zwei Stunden und 13 Minuten führte, und drittens, dass die nach Schließen der Türen eingetretenen Wetterbedingungen den Start noch einmal um 19 Minuten verzögerten.

7 In diesem Zusammenhang erhob Flightright, an die eine Reihe von Fluggästen des in Rede stehenden Fluges ihre Ausgleichsansprüche abgetreten hatten, beim Amtsgericht Köln (Deutschland) Klage auf Verurteilung von TAS, gemäß der Verordnung Nr. 261/2004 800 Euro pro Fluggast zuzüglich Zinsen an sie zu zahlen. Flightright machte vor diesem Gericht geltend, dass die Verspätung des in Rede stehenden Fluges nicht durch außergewöhnliche Umstände im Sinne von Art. 5 Abs. 3 dieser Verordnung gerechtfertigt werden könne.

8 Das Gericht gab der Klage statt, ohne die letztgenannte Frage zu prüfen, da diese Verspätung jedenfalls von TAS zu vermeiden gewesen sei, wenn sie alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen hätte, um ihr zu begegnen. Da TAS selbst geltend gemacht habe, dass sie erst spät Slots für den Vorflug erhalten habe, sei daraus nämlich zu folgern, dass sie gewusst habe, dass der in Rede stehende Flug eine Verspätung von mindestens drei Stunden haben werde. TAS habe jedoch nicht nachgewiesen, dass sie dann alle ihr zur Verfügung stehenden zumutbaren Maßnahmen zur Verhinderung bzw. Reduzierung dieser Verspätung ergriffen habe.

9 TAS legte gegen das Urteil beim Landgericht Düsseldorf (Deutschland), dem vorlegenden Gericht, Berufung ein. Dieses ist der Ansicht, dass das erstinstanzliche Gericht die Frage hätte prüfen müssen, ob der Personalmangel bei dem Betreiber des Flughafens Köln-Bonn, der von TAS als Ursache für die große Verspätung des in Rede stehenden Fluges angeführt worden sei, einen „außergewöhnlichen Umstand“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 darstelle.

10 Bei Bejahung dieser Frage sollte TAS Flightright nämlich keinen Ausgleich leisten müssen, da der ihr zurechenbare Teil der Verspätung des in Rede stehenden Fluges drei Stunden nicht erreiche. Wäre hingegen davon auszugehen, dass die Gepäckverladung unabhängig davon, ob sie vom Flughafenbetreiber durchgeführt werde, Teil der normalen Tätigkeit eines Luftfahrtunternehmens im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs sei, könnte ein Personalmangel bei dem Flughafenbetreiber nicht als „außergewöhnlicher Umstand“ qualifiziert werden. In diesem Fall wäre die Verurteilung von TAS zu bestätigen, da allein die wetterbedingte Verzögerung nach Schließen der Türen um 19 Minuten berücksichtigt werden könnte und eine TAS zurechenbare Verspätung von mehr als drei Stunden verbliebe.

11 Einerseits könnte der Gepäckverladedienst nach Auffassung des vorlegenden Gerichts der normalen Ausübung der Tätigkeit eines Luftfahrtunternehmens im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs zuzuordnen sein, weil er unmittelbar der Erfüllung der den Fluggästen von dem betreffenden Luftfahrtunternehmen geschuldeten Beförderungsleistung diene, unabhängig davon, ob die Erbringung dieser Dienstleistung dem Flughafenbetreiber obliege. Andererseits könnte sich gerade aus dem Umstand, dass diese Dienstleistung vom Flughafenbetreiber und nicht vom Luftfahrtunternehmen selbst oder von einem von ihm bestimmten Dienstleister erbracht werde, ergeben, dass der Mangel an Verladepersonal als für das Luftfahrtunternehmen unbeherrschbare „externe Ursache“ anzusehen wäre, die auf dessen normale Tätigkeit eingewirkt habe, was die Befreiung von seiner Ausgleichspflicht rechtfertigen würde. In Deutschland werde diese Dienstleistung nämlich grundsätzlich von einem Flughafenunternehmen erbracht, auch wenn die Nutzer eines Flughafens nach der deutschen Regelung die Bodenabfertigungsdienste entweder selbst durchführen oder von einem Dienstleister ihrer Wahl durchführen lassen könnten.

12 Unter diesen Umständen hat das Landgericht Köln beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen, dass es sich bei einem Mangel an Personal bei dem Flughafenbetreiber oder einem von dem Flughafenbetreiber beauftragten Unternehmen für die von diesem zu erbringende Gepäckverladung um einen außergewöhnlichen Umstand im Sinne dieser Vorschrift handelt, der von außen unbeherrschbar auf die normale Tätigkeit des diesen Dienst des Flughafenbetreibers/des von diesem beauftragten Unternehmens nutzenden Luftfahrtunternehmens einwirkt, oder ist die Gepäckverladung durch den Flughafenbetreiber/ein von diesem beauftragtes Unternehmen und ein bei diesem bestehender Mangel an Verladepersonal der normalen Ausübung der Tätigkeit dieses Luftfahrtunternehmens zuzurechnen, so dass eine Exkulpation nach Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 nur dann in Betracht kommt, wenn der Grund für den Personalmangel einen außergewöhnlichen Umstand im Sinne dieser Vorschrift darstellt?

Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens

13 Flightright hält das Vorabentscheidungsersuchen für unzulässig, da es eine für die Beantwortung der Vorlagefrage erforderliche Angabe nicht enthalte, nämlich, ob TAS aufgrund ihrer vertraglichen Beziehung Kontrolle über den für die Gepäckverladung in die Flugzeuge verantwortlichen Betreiber des Flughafens Köln-Bonn ausübe.

14 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass es nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs allein Sache des nationalen Gerichts ist, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, anhand der Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der Fragen zu beurteilen, die es dem Gerichtshof vorlegt, wobei für die Fragen eine Vermutung der Entscheidungserheblichkeit gilt. Der Gerichtshof ist folglich grundsätzlich gehalten, über die ihm vorgelegte Frage zu befinden, wenn sie die Auslegung oder die Gültigkeit einer Vorschrift des Unionsrechts betrifft, es sei denn, dass die erbetene Auslegung offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, dass das Problem hypothetischer Natur ist oder dass der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der Frage erforderlich sind (Urteil vom 22. Februar 2024, Unedic, C‑125/23, EU:C:2024:163, Rn. 35).

15 Im vorliegenden Fall gibt das vorlegende Gericht in seinem Vorabentscheidungsersuchen zwar nicht an, ob TAS eine tatsächliche Kontrolle über den Betreiber des Flughafens Köln-Bonn ausübt oder nicht, dies hindert den Gerichtshof jedoch nicht daran, die Vorlagefrage unter Berücksichtigung dieser beiden Möglichkeiten sachdienlich zu beantworten.

16 Folglich ist das Vorabentscheidungsersuchen zulässig.

Zur Vorlagefrage

17 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen ist, dass es sich bei einem Mangel an Personal bei dem für die Gepäckverladung in die Flugzeuge verantwortlichen Flughafenbetreiber um einen „außergewöhnlichen Umstand“ im Sinne dieser Vorschrift handeln kann.

18 Hierzu ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die Art. 5 und 7 der Verordnung Nr. 261/2004 im Licht des Grundsatzes der Gleichbehandlung dahin auszulegen sind, dass die Fluggäste verspäteter Flüge im Hinblick auf die Anwendung des in Art. 7 Abs. 1 dieser Verordnung vorgesehenen Ausgleichsanspruchs den Fluggästen annullierter Flüge gleichgestellt werden können und diesen Ausgleichsanspruch geltend machen können, wenn sie wegen eines verspäteten Fluges einen Zeitverlust von drei Stunden oder mehr erleiden, d. h., wenn sie ihr Endziel nicht früher als drei Stunden nach der von dem Luftfahrtunternehmen ursprünglich geplanten Ankunftszeit erreichen (Urteil vom 25. Januar 2024, Laudamotion und Ryanair, C‑54/23, EU:C:2024:74, Rn. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung).

19 Nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 261/2004 haben die von einem bei der Ankunft am Endziel um drei Stunden oder mehr verspäteten Flug betroffenen Fluggäste demzufolge gegen das ausführende Luftfahrtunternehmen einen Anspruch auf Ausgleichsleistungen gemäß Art. 7 Abs. 1 dieser Verordnung, es sei denn, sie wurden zuvor innerhalb der in Art. 5 Abs. 1 Buchst. c Ziff. i bis iii der Verordnung vorgesehenen Fristen über die Verspätung unterrichtet.

20 Eine solche Verspätung begründet jedoch dann keinen Ausgleichsanspruch der Fluggäste, wenn das ausführende Luftfahrtunternehmen nachweisen kann, dass die große Verspätung auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 ergriffen worden wären (Urteil vom 7. Juli 2022, SATA International – Azores Airlines [Ausfall des Betankungssystems], C‑308/21, EU:C:2022:533, Rn. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung).

21 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs werden als „außergewöhnliche Umstände“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 Vorkommnisse angesehen, die ihrer Natur oder Ursache nach nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betreffenden Luftfahrtunternehmens sind und von ihm nicht tatsächlich beherrschbar sind, wobei diese beiden Bedingungen kumulativ sind und ihr Vorliegen von Fall zu Fall zu beurteilen ist (Urteil vom 11. Mai 2023, TAP Portugal [Tod des Kopiloten], C‑156/22 bis C‑158/22, EU:C:2023:393, Rn. 18 und die dort angeführte Rechtsprechung).

22 Im vorliegenden Fall ist die bei der Ankunft des in Rede stehenden Fluges festgestellte Verspätung von mehr als drei Stunden zwar auf mehrere Gründe zurückzuführen, die Vorlagefrage betrifft jedoch ausschließlich die Verspätung, die mit dem Mangel an Personal verbunden ist, das vom Flughafenbetreiber für die Gepäckverladung eingesetzt wird.

23 Als Erstes hat der Gerichtshof zu der Voraussetzung, dass das in Rede stehende Vorkommnis seiner Natur oder Ursache nach nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betreffenden Luftfahrtunternehmens ist, in Bezug auf das Betanken eines Flugzeugs mit Treibstoff entschieden, dass dieser Vorgang zwar grundsätzlich zur normalen Ausübung der Tätigkeit eines Luftfahrtunternehmens gehört, ein im Rahmen des Betankungsvorgangs aufgetretenes Problem, das auf einem allgemeinen Ausfall des Treibstoffsystems beruhte, das vom Flughafen verwaltet wurde, diese Voraussetzung jedoch erfüllte, da ein solches Vorkommnis nicht als untrennbar mit dem Betrieb des Flugzeugs, das einen verspäteten Flug durchgeführt hat, verbunden angesehen werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. Juli 2022, SATA International – Azores Airlines [Ausfall des Betankungssystems], C‑308/21, EU:C:2022:533, Rn. 22 und 23).

24 Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, in Anbetracht der Umstände des Ausgangsverfahrens zu beurteilen, ob im vorliegenden Fall die bei der Gepäckverladung festgestellten Mängel als allgemeine Mängel im Sinne der in der vorhergehenden Randnummer angeführten Rechtsprechung anzusehen sind. Wäre dies der Fall, könnten solche Mängel daher weder ihrer Natur noch ihrer Ursache nach ein Vorkommnis darstellen, das Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betreffenden Luftfahrtunternehmens ist.

25 Als Zweites ist zu der Voraussetzung, dass das in Rede stehende Vorkommnis von dem betreffenden ausführenden Luftfahrtunternehmen nicht tatsächlich beherrschbar ist, darauf hinzuweisen, dass Vorkommnisse mit „interner“ Ursache von Vorkommnissen zu unterscheiden sind, deren Ursache für das Luftfahrtunternehmen „extern“ ist. Unter diesen Begriff fallen als sogenannte „externe“ Ereignisse, diejenigen Ereignisse, die auf die Tätigkeit eines Luftfahrtunternehmens und auf äußere Umstände zurückzuführen sind, die in der Praxis mehr oder weniger häufig vorkommen, aber von einem Luftfahrtunternehmen nicht beherrschbar sind, weil sie auf ein Naturereignis oder die Handlung eines Dritten, etwa eines anderen Luftfahrtunternehmens oder einer öffentlichen oder privaten Stelle, zurückgehen, die in den Flug- oder den Flughafenbetrieb eingreifen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn das Treibstoffsystem eines Flughafens, das von dessen Betreiber oder einem Dritten verwaltet wird, allgemein ausfällt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. Juli 2022, SATA International – Azores Airlines [Ausfall des Betankungssystems], C‑308/21, EU:C:2022:533, Rn. 25 und 26).

26 Im vorliegenden Fall weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die Gepäckverladung in das Flugzeug von TAS wegen des Mangels an Personal, das vom Betreiber des Flughafens Köln-Bonn für diesen Vorgang eingesetzt werde, verzögert worden sei.

27 Es ist Sache dieses Gerichts, angesichts der Umstände des Ausgangsverfahrens zu beurteilen, ob die bei der Gepäckverladung am Flughafen Köln-Bonn festgestellten Mängel von TAS nicht beherrschbar waren. Dies wäre insbesondere dann nicht der Fall, wenn TAS befugt wäre, eine tatsächliche Kontrolle über den Betreiber dieses Flughafens auszuüben.

28 Sollte das vorlegende Gericht der Auffassung sein, dass die große Verspätung des in Rede stehenden Fluges tatsächlich auf außergewöhnliche Umstände im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 zurückzuführen war, wird es ferner zu beurteilen haben, ob das Luftfahrtunternehmen angesichts sämtlicher Umstände des Ausgangsrechtsstreits sowie der von dem betreffenden Luftfahrtunternehmen vorgelegten Nachweise, nachgewiesen hat, dass sich diese Umstände auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären und dass es gegen dessen Folgen die der Situation angemessenen Vorbeugungsmaßnahmen – ohne angesichts der Kapazitäten seines Unternehmens zum maßgeblichen Zeitpunkt nicht tragbare Opfer – ergriffen hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. Juli 2022, SATA International – Azores Airlines [Ausfall des Betankungssystems], C‑308/21, EU:C:2022:533, Rn. 27).

29 Insoweit wäre z. B. dann davon auszugehen, dass das Luftfahrtunternehmen in der Lage gewesen wäre, die bei der Gepäckverladung festgestellte Verspätung zu verhindern, wenn es ihm möglich gewesen wäre, für diesen Vorgang zu dem Zeitpunkt, zu dem es wusste oder hätte wissen müssen, dass der Flughafenbetreiber nicht über ausreichende Kapazitäten verfügte, um diese Dienstleistungen unverzüglich zu erbringen, die Dienste eines anderen Dienstleisters in Anspruch zu nehmen, der über diese Kapazitäten verfügte.

30 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen ist, dass es sich bei einem Mangel an Personal bei dem für die Gepäckverladung in die Flugzeuge verantwortlichen Flughafenbetreiber um einen „außergewöhnlichen Umstand“ im Sinne dieser Vorschrift handeln kann. Das Luftfahrtunternehmen, dessen Flug aufgrund eines solchen außergewöhnlichen Umstands eine große Verspätung hatte, muss jedoch zur Befreiung von seiner Verpflichtung zu Ausgleichszahlungen an die Fluggäste gemäß Art. 7 der Verordnung Nr. 261/2004 nachweisen, dass sich dieser Umstand auch dann nicht hätte vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären und dass es gegen dessen Folgen die der Situation angemessenen Vorbeugungsmaßnahmen ergriffen hat.

Kosten

31 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Neunte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 5 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91

ist dahin auszulegen, dass

es sich bei einem Mangel an Personal bei dem für die Gepäckverladung in die Flugzeuge verantwortlichen Flughafenbetreiber um einen „außergewöhnlichen Umstand“ im Sinne dieser Vorschrift handeln kann. Das Luftfahrtunternehmen, dessen Flug aufgrund eines solchen außergewöhnlichen Umstands eine große Verspätung hatte, muss jedoch zur Befreiung von seiner Verpflichtung zu Ausgleichszahlungen an die Fluggäste gemäß Art. 7 der Verordnung nachweisen, dass sich dieser Umstand auch dann nicht hätte vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären und dass es gegen dessen Folgen die der Situation angemessenen Vorbeugungsmaßnahmen ergriffen hat.

Spineanu-Matei

Rodin

Rossi

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 16. Mai 2024.

Der Kanzler

Die Kammerpräsidentin

A. Calot Escobar

O. Spineanu-Matei

Quelle:

https://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=261%252F2004&docid=286148&pageIndex=0&doclang=de&mode=req&dir=&occ=first&part=1&cid=7284012#ctx1

EuGH, Urteil v. 21. März 2024, C‑76/23

Einverständnis mit Reisegutschein nur wirksam, wenn Fluggast in lauterer Weise klar und umfassend über Fluggastrechte informiert wurde.

Leitsatz der Kanzlei Woicke

In der Rechtssache C‑76/23

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landgericht Frankfurt am Main (Deutschland) mit Entscheidung vom 2. Januar 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 13. Februar 2023, in dem Verfahren

Cobult UG

gegen

TAP Air Portugal SA

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin K. Jürimäe, des Präsidenten des Gerichtshofs K. Lenaerts in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Dritten Kammer sowie der Richter N. Piçarra, N. Jääskinen und M. Gavalec (Berichterstatter),

Generalanwalt: G. Pitruzzella,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– der französischen Regierung, vertreten durch J.‑L. Carré, B. Herbaut und B. Travard als Bevollmächtigte,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Braun, G. von Rintelen, G. Wilms und N. Yerrell als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 7 Abs. 3 und Art. 8 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (ABl. 2004, L 46, S. 1).

2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Cobult UG als Zessionarin der Rechte eines Fluggasts und der TAP Air Portugal SA, einem Luftfahrtunternehmen, über die Erstattung der Flugscheinkosten dieses Fluggasts, dessen Flug annulliert wurde.

Rechtlicher Rahmen

3 Die Erwägungsgründe 1, 2, 4 und 20 der Verordnung Nr. 261/2004 lauten:

„(1) Die Maßnahmen der Gemeinschaft im Bereich des Luftverkehrs sollten unter anderem darauf abzielen, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen. Ferner sollte den Erfordernissen des Verbraucherschutzes im Allgemeinen in vollem Umfang Rechnung getragen werden.

(2) Nichtbeförderung und Annullierung oder eine große Verspätung von Flügen sind für die Fluggäste ein Ärgernis und verursachen ihnen große Unannehmlichkeiten.

(4) Die Gemeinschaft sollte deshalb die mit der genannten Verordnung festgelegten Schutzstandards erhöhen, um die Fluggastrechte zu stärken und um sicherzustellen, dass die Geschäftstätigkeit von Luftfahrtunternehmen in einem liberalisierten Markt harmonisierten Bedingungen unterliegt.

(20) Die Fluggäste sollten umfassend über ihre Rechte im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen informiert werden, damit sie diese Rechte wirksam wahrnehmen können.“

4 Art. 5 Abs. 1 Buchst. a und c dieser Verordnung sieht vor:

„Bei Annullierung eines Fluges werden den betroffenen Fluggästen

a) vom ausführenden Luftfahrtunternehmen Unterstützungsleistungen gemäß Artikel 8 angeboten,

c) vom ausführenden Luftfahrtunternehmen ein Anspruch auf Ausgleichszahlungen gemäß Artikel 7 eingeräumt …“

5 Art. 7 („Ausgleichsanspruch“) dieser Verordnung bestimmt in den Abs. 1 und 3:

„(1) Wird auf diesen Artikel Bezug genommen, so erhalten die Fluggäste Ausgleichszahlungen …

(3) Die Ausgleichszahlungen nach Absatz 1 erfolgen durch Barzahlung, durch elektronische oder gewöhnliche Überweisung, durch Scheck oder, mit schriftlichem Einverständnis des Fluggasts, in Form von Reisegutscheinen und/oder anderen Dienstleistungen.“

6 Art. 8 („Anspruch auf Erstattung oder anderweitige Beförderung“) der Verordnung sieht in Abs. 1 Buchst. a vor:

„Wird auf diesen Artikel Bezug genommen, so können Fluggäste wählen zwischen

a) – der binnen sieben Tagen zu leistenden vollständigen Erstattung der Flugscheinkosten nach den in Artikel 7 Absatz 3 genannten Modalitäten zu dem Preis, zu dem der Flugschein erworben wurde, für nicht zurückgelegte Reiseabschnitte sowie für bereits zurückgelegte Reiseabschnitte, wenn der Flug im Hinblick auf den ursprünglichen Reiseplan des Fluggastes zwecklos geworden ist …“

Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

7 Ein von einem Fluggast bei TAP Air Portugal als ausführendem Luftfahrtunternehmen für den 1. Juli 2020 zu einem Preis von 1 447,02 Euro gebuchter Flug mit Anschlussflug von Fortaleza (Brasilien) über Lissabon (Portugal) nach Frankfurt am Main (Deutschland) wurde von diesem Unternehmen annulliert.

8 Das Luftfahrtunternehmen hält seit dem 19. Mai 2020 auf der Homepage seiner Website u. a. für von ihm annullierte Flüge ein Verfahren zur Einleitung von Erstattungen bereit. Die Fluggäste haben dabei die Wahl zwischen einer sofortigen Erstattung in Form eines Reisegutscheins, wenn sie ein Online‑Formular ausfüllen, und anderen Formen der Erstattung, beispielsweise durch einen Geldbetrag, die aber voraussetzen, dass die Fluggäste zuvor mit dem „Contact-Center“ des Luftfahrtunternehmens Kontakt aufgenommen haben, damit es den Sachverhalt prüfen kann.

9 Nach den Erstattungsbedingungen, die ausschließlich in englischer Sprache verfügbar sind und denen der Fluggast zustimmen muss, nachdem er die erforderlichen Eingaben (Flugscheinnummer, Nachname, E‑Mail‑Adresse und Telefonnummer) gemacht hat, ist eine Rückerstattung der Flugscheinkosten in Geld ausgeschlossen, wenn der Fluggast die Erstattung in Form eines Reisegutscheins wählt.

10 TAP Air Portugal behauptet, der betreffende Fluggast habe am 4. Juni 2020 die Erstattung durch Ausstellung eines Gutscheins beantragt und per E‑Mail einen Gutschein in Höhe von 1 737,52 Euro – den Kosten des ursprünglichen Flugscheins nebst eines Zuschlags – zugesandt bekommen.

11 Am 30. Juli 2020 trat der Fluggast seine Ansprüche gegen TAP Air Portugal an Cobult ab, die dieses Unternehmen am gleichen Tag aufforderte, den Preis des annullierten Fluges in Geld binnen 14 Tagen zu erstatten.

12 Angesichts der Weigerung von TAP Air Portugal, die begehrte Erstattung vorzunehmen, erhob Cobult Klage beim zuständigen erstinstanzlichen Gericht, die mit der Begründung abgewiesen wurde, dass die vom Fluggast abgetretenen Ansprüche durch die Erstattung in Form eines Reisegutscheins erloschen seien.

13 Cobult legte gegen dieses Urteil beim Landgericht Frankfurt am Main (Deutschland), dem vorlegenden Gericht, Berufung ein.

14 Das vorlegende Gericht hegt Zweifel hinsichtlich der Auslegung von Art. 7 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004, wonach die Erstattung der Flugscheinkosten in Form eines Reisegutscheins nur „mit schriftlichem Einverständnis des Fluggasts“ erfolgen kann. Es fragt insbesondere nach der Tragweite der Wendung „mit schriftlichem Einverständnis des Fluggasts“, um beurteilen zu können, ob die von TAP Air Portugal auf ihrer Website vorgegebenen Erstattungsmodalitäten mit dieser Bestimmung vereinbar sind. Hierzu führt das vorlegende Gericht aus, das Erfordernis eines schriftlichen Einverständnisses des Fluggasts könne nach einem ersten Ansatz als zusätzliches Formerfordernis angesehen werden, mit dem der Fluggast davor gewarnt werden solle, vorschnell und unüberlegt einen Reisegutschein zu wählen, der eine Erstattungsform darstelle, die der Unionsgesetzgeber als für den Fluggast weniger günstig angesehen habe. Unter diesen Umständen stünde Art. 7 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 dem von TAP Air Portugal praktizierten Verfahren zur Erstattung der Flugscheinkosten in Form eines Reisegutscheins entgegen.

15 Nach einem zweiten Ansatz würde das Erfordernis einer schriftlichen Zustimmung des Fluggasts in Form einer Zustimmung auf dem Postweg oder per E‑Mail den Erstattungszeitraum ausdehnen und zugleich den mit der Bearbeitung der Erstattungen verbundenen Verwaltungsaufwand für die Luftfahrtunternehmen erhöhen. Demnach könnte ein mehrstufiges Online-Erstattungsverfahren wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende als den Anforderungen von Art. 7 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 genügend eingestuft werden.

16 Unter diesen Umständen hat das Landgericht Frankfurt am Main beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist Art. 7 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 dahingehend auszulegen, dass ein schriftliches Einverständnis des Fluggasts zur Erstattung der Flugscheinkosten im Sinne des Art. 8 Abs. 1 Buchst. a erster Spiegelstrich dieser Verordnung durch einen Reisegutschein schon dann vorliegt, wenn der Fluggast einen solchen Gutschein auf der Internetseite des ausführenden Luftfahrtunternehmens unter Ausschluss einer nachträglichen Auszahlung der Flugscheinkosten in Geld auswählt und per E‑Mail zugesandt erhält, während eine Erstattung der Flugscheinkosten in Geld nur nach vorheriger Kontaktaufnahme mit dem ausführenden Luftfahrtunternehmen möglich ist?

Zur Vorlagefrage

17 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 7 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 in Verbindung mit ihrem Art. 8 Abs. 1 Buchst. a dahin auszulegen ist, dass im Fall der Annullierung eines Fluges durch das ausführende Luftfahrtunternehmen davon auszugehen ist, dass der Fluggast sein „schriftliches Einverständnis“ mit einer Erstattung der Flugscheinkosten in Form eines Reisegutscheins erteilt hat, wenn er auf der Website des Luftfahrtunternehmens ein Online-Formular ausgefüllt und darin diese Form der Erstattung unter Ausschluss der Auszahlung eines Geldbetrags gewählt hat, wobei die letztgenannte Erstattungsform von der Einhaltung eines Verfahrens abhing, das zusätzliche beim Kundendienst des Luftfahrtunternehmens zu unternehmende Schritte umfasste.

18 Nach Art. 8 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 261/2004 in Verbindung mit ihrem Art. 5 Abs. 1 Buchst. a hat der Fluggast bei Annullierung eines Fluges Anspruch auf eine binnen sieben Tagen zu leistende vollständige Erstattung der Flugscheinkosten nach den in Art. 7 Abs. 3 der Verordnung genannten Modalitäten zu dem Preis, zu dem der Flugschein erworben wurde.

19 Die letztgenannte Bestimmung sieht vor, dass die Erstattung durch Barzahlung, durch elektronische oder gewöhnliche Überweisung, durch Scheck oder, mit schriftlichem Einverständnis des Fluggasts, in Form von Reisegutscheinen und/oder anderen Dienstleistungen erfolgt.

20 Aus Art. 7 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 8 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 261/2004 ergibt sich, dass der Unionsgesetzgeber mit diesen Bestimmungen einen Rahmen für die Modalitäten der Erstattung der Flugscheinkosten bei Annullierung eines Fluges geschaffen hat. Dabei zeigt der Aufbau von Art. 7 Abs. 3 der Verordnung, dass die Erstattung der Flugscheinkosten in erster Linie durch Zahlung eines Geldbetrags zu erfolgen hat. Demgegenüber stellt die Erstattung in Form von Reisegutscheinen eine subsidiäre Erstattungsmodalität dar, die nur mit „schriftlichem Einverständnis des Fluggasts“ zulässig ist.

21 In der Verordnung Nr. 261/2004 wird nicht definiert, was unter dem „schriftliche[n] Einverständnis des Fluggasts“ zu verstehen ist.

22 Hierzu ist zum einen festzustellen, dass unter dem Begriff „Einverständnis“ nach seinem üblichen Sinn eine nach Aufklärung freiwillig erteilte Zustimmung verstanden wird. Im Kontext von Art. 7 Abs. 3 der Verordnung verlangt dieser Begriff daher, dass der Fluggast nach Aufklärung freiwillig zugestimmt hat, die Erstattung seiner Flugscheinkosten in Form eines Reisegutscheins zu erhalten.

23 Zum anderen ist, soweit Art. 7 Abs. 3 der Verordnung ein „schriftliches“ Einverständnis des Fluggasts verlangt, festzustellen, dass die verschiedenen Sprachfassungen dieser Bestimmung voneinander abweichen.

24 Während nämlich in der französischen Sprachfassung dieser Bestimmung („accord signé du passager“) und ihr entsprechend in der bulgarischen („с подписано съгласие на пътника“), spanischen („previo acuerdo firmado por el pasajero“), tschechischen („v případě dohody podepsané cestujícím“), griechischen („εφόσον συμφωνήσει ενυπογράφως ο επιβάτης“), englischen („with the signed agreement of the passenger“), italienischen („previo accordo firmato dal passeggero“), lettischen („saņemot pasažiera parakstītu piekrišanu“), litauischen („keleiviui savo parašu patvirtinus, kad jis su tuo sutinka“), maltesischen („bil-ftehim iffirmat tal-passiġġier“) und finnischen („matkustajan allekirjoitetulla suostumuksella“) Sprachfassung ein vom Fluggast unterzeichnetes Einverständnis verlangt wird, setzt nach ihrer dänischen („med passagerens skriftlige billigelse“), deutschen („mit schriftlichem Einverständnis des Fluggasts“), estnischen („kirjalikul kokkuleppel reisijaga“), kroatischen („uz pisanu suglasnost putnika“), ungarischen („az utas írásos beleegyezése esetén“), niederländischen („met de schriftelijke toestemming van de passagier“), polnischen („za pisemną zgodą pasażera“), portugiesischen („com o acordo escrito do passageiro“), rumänischen („cu acordul scris al pasagerului“), slowakischen („s písomným súhlasom cestujúceho“), slowenischen („s pisnim soglasjem potnika“) und schwedischen („med passagerarens skriftliga samtycke“) Sprachfassung die Erstattung in Form von Reisegutscheinen das schriftliche Einverständnis des Fluggasts voraus.

25 Nach ständiger Rechtsprechung kann die in einer der Sprachfassungen einer Bestimmung des Unionsrechts verwendete Formulierung nicht als alleinige Grundlage für die Auslegung dieser Bestimmung herangezogen werden oder Vorrang vor den anderen Sprachfassungen beanspruchen. Die Bestimmungen des Unionsrechts müssen nämlich im Licht der Fassungen in allen Sprachen der Union einheitlich ausgelegt und angewandt werden. Weichen die verschiedenen Sprachfassungen eines Rechtstexts der Union voneinander ab, ist die fragliche Bestimmung anhand der allgemeinen Systematik und des Zwecks der Regelung auszulegen, zu der sie gehört (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 2. Dezember 2022, Compania Naţională de Transporturi Aeriene Tarom, C‑229/22, EU:C:2022:978, Rn. 21 und die dort angeführte Rechtsprechung).

26 Insoweit ergibt sich zum einen aus den Erwägungsgründen 1, 2 und 4 der Verordnung Nr. 261/2004, dass sie ein hohes Schutzniveau für Fluggäste und Verbraucher sicherstellen soll, indem ihre Rechte in einer Reihe von Situationen, die für sie ein Ärgernis sind und ihnen große Unannehmlichkeiten verursachen, gestärkt werden und ihnen standardisiert und sofort Ersatz geleistet wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. April 2021, Austrian Airlines, C‑826/19, EU:C:2021:318, Rn. 26).

27 Zum anderen folgt aus dem 20. Erwägungsgrund dieser Verordnung, dass Fluggäste, deren Flug annulliert wurde, umfassend über ihre Rechte informiert werden sollten, damit sie diese Rechte wirksam wahrnehmen können.

28 Wie der Gerichtshof unter Verweis auf den 20. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 261/2004 entschieden hat, muss das ausführende Luftfahrtunternehmen den Fluggästen die Informationen liefern, die erforderlich sind, damit sie eine zweckdienliche und informierte Wahl in Bezug auf die Geltendmachung des in Art. 8 Abs. 1 der Verordnung vorgesehenen Anspruchs auf Erstattung treffen können, ohne dass dessen Zuerkennung eine aktive Mitwirkung des Fluggasts erfordert (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. Juli 2019, Rusu, C‑354/18, EU:C:2019:637, Rn. 50 bis 55).

29 In diesem Rahmen ist im Licht des Ziels, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen, und der dem ausführenden Luftfahrtunternehmen obliegenden Informationspflicht davon auszugehen, dass die Wendung „mit schriftlichem Einverständnis des Fluggasts“ in Art. 7 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 erstens voraussetzt, dass der Fluggast in der Lage war, eine zweckdienliche und informierte Wahl zu treffen und somit nach Aufklärung freiwillig der Erstattung seiner Flugscheinkosten in Form eines Reisegutscheins anstelle eines Geldbetrags zuzustimmen.

30 Dabei obliegt es dem Luftfahrtunternehmen, dem Fluggast, dessen Flug annulliert wurde, in lauterer Weise klare und umfassende Informationen über die verschiedenen Erstattungsmodalitäten seiner Flugscheinkosten zu geben, die er nach Art. 7 Abs. 3 der Verordnung hat.

31 Stehen dem Fluggast solche Informationen nicht zur Verfügung, kann hingegen nicht davon ausgegangen werden, dass er in der Lage ist, eine zweckdienliche und informierte Wahl zu treffen und somit nach Aufklärung freiwillig einer Erstattung in Form eines Reisegutscheins zuzustimmen.

32 Daher kann nicht davon ausgegangen werden, dass ein Fluggast sein „Einverständnis“ im Sinne von Art. 7 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 erteilt hat, wenn das ausführende Luftfahrtunternehmen, etwa auf seiner Website, Informationen über die Erstattungsmodalitäten von Flugscheinkosten bereitstellt, die mehrdeutig oder unvollständig oder in einer Sprache abgefasst sind, deren Beherrschung durch den Fluggast bei vernünftiger Betrachtung nicht erwartet werden kann, oder die in unlauterer Weise erteilt werden, etwa wenn die Erstattung der Flugscheinkosten durch einen Geldbetrag einem Verfahren unterliegt, das gegenüber der Erstattung in Form eines Reisegutscheins zusätzliche Schritte umfasst.

33 Eine solche Schlussfolgerung ist umso mehr geboten, als die Hinzufügung solcher zusätzlichen Schritte geeignet ist, die Erlangung einer Erstattung in Form eines Geldbetrags zu erschweren und somit das vom Unionsgesetzgeber vorgesehene, in Rn. 20 des vorliegenden Urteils dargelegte Verhältnis zwischen den beiden Erstattungsmodalitäten umzukehren, im Widerspruch zu dem mit der Verordnung Nr. 261/2004 verfolgten Ziel, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen.

34 Zweitens ist in Bezug auf die Form des Einverständnisses des Fluggasts zu ergänzen, dass, sofern er klare und umfassende Informationen erhalten hat, sein „schriftliche[s] Einverständnis“ im Sinne von Art. 7 Abs. 3 der Verordnung, wie sich im Wesentlichen aus den Erklärungen der französischen Regierung ergibt, insbesondere seine ausdrücklich erklärte, endgültige und eindeutige Annahme einer Erstattung der Flugscheinkosten in Form eines Reisegutscheins umfassen kann, die dadurch erfolgt, dass er ein auf der Website des ausführenden Luftfahrtunternehmens ausgefülltes Formular versendet, ohne dass dieses seine handschriftliche oder digitalisierte Unterschrift enthält.

35 Diese Auslegung von Art. 7 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 wahrt den Ausgleich zwischen den jeweiligen Interessen der Fluggäste und der ausführenden Luftfahrtunternehmen, den der Unionsgesetzgeber durch den Erlass der Verordnung Nr. 261/2004 schaffen wollte (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. November 2009, Sturgeon u. a., C‑402/07 und C‑432/07, EU:C:2009:716, Rn. 67, und vom 23. Oktober 2012, Nelson u. a., C‑581/10 und C‑629/10, EU:C:2012:657, Rn. 39).

36 Würde man ausschließen, dass das „schriftliche Einverständnis des Fluggasts“ mit einer Erstattung der Flugscheinkosten in Form eines Reisegutscheins mittels eines vom Fluggast auf der Website des ausführenden Luftfahrtunternehmens auszufüllenden Formulars erteilt werden kann, erschiene dies nämlich nicht nur überzogen, sondern auch unangemessen, da ein solcher Ausschluss den mit der Bearbeitung der Erstattungen verbundenen Verwaltungsaufwand für das Luftfahrtunternehmen erhöhen würde und geeignet wäre, das Erstattungsverfahren für den Fluggast zu verzögern, was seinen Interessen letztlich zuwiderlaufen könnte.

37 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 7 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 in Verbindung mit ihrem Art. 8 Abs. 1 Buchst. a und im Licht ihres 20. Erwägungsgrundes dahin auszulegen ist, dass im Fall der Annullierung eines Fluges durch das ausführende Luftfahrtunternehmen davon auszugehen ist, dass der Fluggast sein „schriftliches Einverständnis“ mit einer Erstattung der Flugscheinkosten in Form eines Reisegutscheins erteilt hat, wenn er auf der Website des Luftfahrtunternehmens ein Online-Formular ausgefüllt und darin diese Erstattungsmodalität unter Ausschluss der Auszahlung eines Geldbetrags gewählt hat, sofern er in der Lage war, eine zweckdienliche und informierte Wahl zu treffen und somit der Erstattung seiner Flugscheinkosten in Form eines Reisegutscheins anstelle eines Geldbetrags nach Aufklärung zuzustimmen; dies setzt voraus, dass das Luftfahrtunternehmen dem Fluggast in lauterer Weise klare und umfassende Informationen über die verschiedenen ihm zur Verfügung stehenden Erstattungsmodalitäten gegeben hat.

Kosten

38 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 7 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 ist in Verbindung mit ihrem Art. 8 Abs. 1 Buchst. a und im Licht ihres 20. Erwägungsgrundes

dahin auszulegen, dass

im Fall der Annullierung eines Fluges durch das ausführende Luftfahrtunternehmen davon auszugehen ist, dass der Fluggast sein „schriftliches Einverständnis“ mit einer Erstattung der Flugscheinkosten in Form eines Reisegutscheins erteilt hat, wenn er auf der Website des Luftfahrtunternehmens ein Online-Formular ausgefüllt und darin diese Erstattungsmodalität unter Ausschluss der Auszahlung eines Geldbetrags gewählt hat, sofern er in der Lage war, eine zweckdienliche und informierte Wahl zu treffen und somit der Erstattung seiner Flugscheinkosten in Form eines Reisegutscheins anstelle eines Geldbetrags nach Aufklärung zuzustimmen; dies setzt voraus, dass das Luftfahrtunternehmen dem Fluggast in lauterer Weise klare und umfassende Informationen über die verschiedenen ihm zur Verfügung stehenden Erstattungsmodalitäten gegeben hat.

Jürimäe

Leanerts

Piçarra

Jääskinen

Gavalec

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 21. März 2024.

Der Kanzler

Die Kammerpräsidentin

A. Calot Escobar

K. Jürimäe

Quelle:

https://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=261%252F2004&docid=284090&pageIndex=0&doclang=de&mode=req&dir=&occ=first&part=1&cid=7284012#ctx1

EuGH, Urteil v. 29. Februar 2024, C-11/23

Ausgleichsverpflichtung ergibt sich unmittelbar aus der EU-VO 261/2004. Abtretungsverbote von Ansprüchen aus der EU-VO 261/2004 unzulässig.

Leitsätze der Kanzlei Woicke

In der Rechtssache C‑11/23

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Juzgado de lo Mercantil n.º 1 de Palma de Mallorca (Handelsgericht Nr. 1 Palma de Mallorca, Spanien) mit Entscheidung vom 31. Oktober 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 12. Januar 2023, in dem Verfahren

Eventmedia Soluciones SL

gegen

Air Europa Líneas Aéreas SAU

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin K. Jürimäe (Berichterstatterin), des Präsidenten des Gerichtshofs K. Lenaerts in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Dritten Kammer sowie der Richter N. Piçarra, N. Jääskinen und M. Gavalec,

Generalanwalt: M. Szpunar,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– der Eventmedia Soluciones SL, vertreten durch R. M. Jiménez Varela, Procuradora, und A. M. Martínez Cuadros, Abogada,

– der Air Europa Líneas Aéreas SAU, vertreten durch N. de Dorremochea Guiot, Procurador, und E. Olea Ballesteros, Abogado,

– der spanischen Regierung, vertreten durch L. Aguilera Ruiz als Bevollmächtigten,

– der litauischen Regierung, vertreten durch S. Grigonis und V. Kazlauskaitė-Švenčionienė als Bevollmächtigte,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch J. L. Buendía Sierra, N. Ruiz García und G. Wilms als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 5 Abs. 1 Buchst. c und Abs. 3, Art. 7 Abs. 1 und Art. 15 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (ABl. 2004, L 46, S. 1) sowie von Art. 6 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen (ABl. 1993, L 95, S. 29).

2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Eventmedia Soluciones SL (im Folgenden: Eventmedia), der Zessionarin der Forderungen von sechs Fluggästen, und der Air Europa Líneas Aéreas SAU (im Folgenden: Air Europa) wegen einer Ausgleichsleistung aufgrund der Annullierung eines Flugs.

Unionsrecht

Verordnung (EG) Nr. 44/2001

3 Die Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1) sah in Art. 5 Nr. 1 Buchst. a vor:

„Eine Person, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, kann in einem anderen Mitgliedstaat verklagt werden:

  1. a) wenn ein Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag den Gegenstand des Verfahrens bilden, vor dem Gericht des Ortes, an dem die Verpflichtung erfüllt worden ist oder zu erfüllen wäre…“ Verordnung Nr. 261/2004

4 Die Erwägungsgründe 1, 7 und 20 der Verordnung Nr. 261/2004 lauten:

„(1) Die Maßnahmen der Gemeinschaft im Bereich des Luftverkehrs sollten unter anderem darauf abzielen, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen. Ferner sollte den Erfordernissen des Verbraucherschutzes im Allgemeinen in vollem Umfang Rechnung getragen werden.

(7) Damit diese Verordnung wirksam angewandt wird, sollten die durch sie geschaffenen Verpflichtungen dem ausführenden Luftfahrtunternehmen obliegen, das einen Flug durchführt oder durchzuführen beabsichtigt, und zwar unabhängig davon, ob der Flug mit einem eigenen Luftfahrzeug oder mit einem mit oder ohne Besatzung gemieteten Luftfahrzeug oder in sonstiger Form durchgeführt wird.

(20) Die Fluggäste sollten umfassend über ihre Rechte im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen informiert werden, damit sie diese Rechte wirksam wahrnehmen können.“

5 In Art. 1 Abs. 1 Buchst. b dieser Verordnung heißt es:

„Durch diese Verordnung werden unter den in ihr genannten Bedingungen Mindestrechte für Fluggäste in folgenden Fällen festgelegt:

b) Annullierung des Flugs…“

6 Art. 2 Buchst. b dieser Verordnung definiert den Begriff „ausführendes Luftfahrtunternehmen“ als „ein Luftfahrtunternehmen, das im Rahmen eines Vertrags mit einem Fluggast oder im Namen einer anderen – juristischen oder natürlichen – Person, die mit dem betreffenden Fluggast in einer Vertragsbeziehung steht, einen Flug durchführt oder durchzuführen beabsichtigt“.

7 Art. 3 („Anwendungsbereich“) Abs. 5 dieser Verordnung bestimmt:

„Diese Verordnung gilt für alle ausführenden Luftfahrtunternehmen, die Beförderungen für Fluggäste im Sinne der Absätze 1 und 2 erbringen. Erfüllt ein ausführendes Luftfahrtunternehmen, das in keiner Vertragsbeziehung mit dem Fluggast steht, Verpflichtungen im Rahmen dieser Verordnung, so wird davon ausgegangen, dass es im Namen der Person handelt, die in einer Vertragsbeziehung mit dem betreffenden Fluggast steht.“

8 In Art. 5 („Annullierung“) der Verordnung Nr. 261/2004 heißt es:

„(1) Bei Annullierung eines Fluges [wird] den betroffenen Fluggästen

c) vom ausführenden Luftfahrtunternehmen ein Anspruch auf Ausgleichsleistungen gemäß Artikel 7 eingeräumt, es sei denn, … sie werden über die Annullierung … unterrichtet…

(3) Ein ausführendes Luftfahrtunternehmen ist nicht verpflichtet, Ausgleichszahlungen gemäß Artikel 7 zu leisten, wenn es nachweisen kann, dass die Annullierung auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären.

…“

9 Art. 7 („Ausgleichsanspruch“) der Verordnung Nr. 261/2004 bestimmt in Abs. 1 Unterabs. 1:

„Wird auf diesen Artikel Bezug genommen, so erhalten die Fluggäste Ausgleichszahlungen in folgender Höhe:

a) 250 [Euro] bei allen Flügen über eine Entfernung von 1 500 km oder weniger,

b) 400 [Euro] bei allen innergemeinschaftlichen Flügen über eine Entfernung von mehr als 1 500 km und bei allen anderen Flügen über eine Entfernung zwischen 1 500 km und 3 500 km,

c) 600 [Euro] bei allen nicht unter Buchstabe a) oder b) fallenden Flügen.“

10 Art. 15 („Ausschluss der Rechtsbeschränkung“) dieser Verordnung sieht vor:

„(1) Die Verpflichtungen gegenüber Fluggästen gemäß dieser Verordnung dürfen – insbesondere durch abweichende oder restriktive Bestimmungen im Beförderungsvertrag – nicht eingeschränkt oder ausgeschlossen werden.

(2) Wird dennoch eine abweichende oder restriktive Bestimmung bei einem Fluggast angewandt oder wird der Fluggast nicht ordnungsgemäß über seine Rechte unterrichtet und hat er aus diesem Grund einer Ausgleichsleistung zugestimmt, die unter der in dieser Verordnung vorgesehenen Leistung liegt, so ist der Fluggast weiterhin berechtigt, die erforderlichen Schritte bei den zuständigen Gerichten oder Stellen zu unternehmen, um eine zusätzliche Ausgleichsleistung zu erhalten.“

Richtlinie 93/13

11 Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass missbräuchliche Klauseln in Verträgen, die ein Gewerbetreibender mit einem Verbraucher geschlossen hat, für den Verbraucher unverbindlich sind, und legen die Bedingungen hierfür in ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften fest; sie sehen ferner vor, dass der Vertrag für beide Parteien auf derselben Grundlage bindend bleibt, wenn er ohne die missbräuchlichen Klauseln bestehen kann.“

12 Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass im Interesse der Verbraucher und der gewerbetreibenden Wettbewerber angemessene und wirksame Mittel vorhanden sind, damit der Verwendung missbräuchlicher Klauseln durch einen Gewerbetreibenden in den Verträgen, die er mit Verbrauchern schließt, ein Ende gesetzt wird.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

13 Sechs Fluggäste, die von der Annullierung eines für den 24. März 2022 geplanten Flugs vom Flughafen Viru Viru von Santa Cruz (Bolivien) nach Madrid (Spanien) betroffen waren, traten ihre Ausgleichsforderungen gegen Air Europa an Eventmedia, eine Handelsgesellschaft, ab.

14 In der Folge erhob Eventmedia beim Juzgado de lo Mercantil n.º 1 de Palma de Mallorca (Handelsgericht Nr. 1 Palma de Mallorca, Spanien), dem vorlegenden Gericht, gegen Air Europa Klage auf Ausgleichszahlung in Höhe von 600 Euro für jeden dieser Fluggäste auf der Grundlage der Verordnung Nr. 261/2004.

15 Vor diesem Gericht bestreitet Air Europa die Klagebefugnis von Eventmedia. Die Forderungsabtretung sei rechtlich nicht wirksam, da sie gegen das in Art. 15 Abs. 1 ihrer Allgemeinen Beförderungsbedingungen vorgesehene Verbot der Übertragung von Passagierrechten (im Folgenden: in Rede stehende Klausel) verstoße. In dieser Klausel heißt es: „Die Haftung von Air Europa und die eines jeden Flugunternehmens gemäß Artikel 1 richtet sich nach den Beförderungsbedingungen des das Ticket ausstellenden Flugunternehmens, sofern nichts anderes bestimmt ist. Die Rechte, die dem Passagier entsprechen, sind persönlich und eine Übertragung wird nicht erlaubt.“

16 Das vorlegende Gericht erläutert, dass ein Fluggast nach spanischem Recht seinen in der Verordnung Nr. 261/2004 vorgesehenen Ausgleichsanspruch gegen das ausführende Luftfahrtunternehmen in einem sogenannten „vereinfachten“ Verfahren gerichtlich geltend machen könne, ohne sich durch einen Rechtsanwalt vertreten lassen zu müssen. In der Praxis machten Fluggäste aufgrund der von den meisten Luftfahrtunternehmen aufgebrachten Gegenwehr und der Komplexität der Verfahrensvorschriften selten von dieser Möglichkeit Gebrauch. Außerdem könne ein Fluggast einem Rechtsanwalt eine Prozessvollmacht erteilen, damit dieser in seinem Namen und für seine Rechnung vor Gericht auftrete.

17 Schließlich könne ein Fluggast nach spanischem Recht seine Forderung gegen das Luftfahrtunternehmen u. a. an eine Stelle abtreten, die auf Anträge nach der Verordnung Nr. 261/2004 spezialisiert sei. In einem solchen Fall trete diese Stelle im eigenen Namen und für eigene Rechnung unter Wahrnehmung ihres Interesses als Zessionarin in das Verfahren ein.

18 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass die in Rede stehende Klausel diese Möglichkeit für Fluggäste, ihre Rechte abzutreten, einschränke. Es fragt daher, ob eine solche Klausel mit dem Unionsrecht vereinbar ist.

19 Zunächst hält es das vorlegende Gericht für erforderlich, festzustellen, ob eine Klausel in den Allgemeinen Beförderungsbedingungen, die die Abtretung der dem Fluggast zustehenden Ansprüche verbietet, eine unter Art. 15 der Verordnung Nr. 261/2004 fallende Einschränkung der Verpflichtungen gegenüber Fluggästen darstellt. Wäre dies der Fall, wäre die in Rede stehende Klausel kraft Gesetzes nichtig, da sie gegen eine zwingende oder prohibitive Vorschrift im Sinne des spanischen Rechts verstieße.

20 Sodann sei es vor dem Hintergrund unterschiedlicher Ansätze der spanischen Gerichte wesentlich, die Natur des in Art. 5 und Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 vorgesehenen Ausgleichsanspruchs zu bestimmen. Insoweit könnten die Urteile vom 7. März 2018, flightright u. a. (C‑274/16, C‑447/16 und C‑448/16, EU:C:2018:160, Rn. 63), und vom 26. März 2020, Primera Air Scandinavia (C‑215/18, EU:C:2020:235, Rn. 49), darauf hindeuten, dass es sich um ein vertragliches Recht handele. Dagegen spreche der Umstand, dass Art. 5 der Verordnung Nr. 261/2004 im Licht des siebten Erwägungsgrundes und von Art. 2 Buchst. b dieser Verordnung das ausführende Luftfahrtunternehmen auch dann haftbar mache, wenn es in keiner Vertragsbeziehung mit dem Fluggast stehe, dafür, dass der Fluggast seinen Ausgleichsanspruch unmittelbar aus dieser Verordnung ableite.

21 Hilfsweise, für den Fall, dass Art. 15 der Verordnung Nr. 261/2004 einer Klausel, die die Abtretung der Ansprüche des Fluggasts verbietet, nicht entgegensteht, oder für den Fall, dass der in dieser Verordnung vorgesehene Ausgleichsanspruch eine vertragliche Grundlage hat, fragt das vorlegende Gericht schließlich, wie die Richtlinie 93/13 auszulegen sei. Es fragt insoweit, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen es in einem Rechtsstreit zwischen zwei Gewerbetreibenden von Amts wegen die Missbräuchlichkeit einer Klausel feststellen könne, die in einem Vertrag enthalten sei, der zwischen einem dieser Gewerbetreibenden und einem Verbraucher geschlossen worden sei, der seine Rechte an den anderen Gewerbetreibenden abgetreten habe.

22 Unter diesen Umständen hat der Juzgado de lo Mercantil n.º 1 de Palma de Mallorca (Handelsgericht Nr. 1 Palma de Mallorca) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

  1. Kann die Einbeziehung einer Klausel wie der in Rede stehenden in einen Luftbeförderungsvertrag als gemäß Art. 15 der Verordnung Nr. 261/2004 ausgeschlossene Rechtsbeschränkung angesehen werden, weil sie die Verpflichtungen des Luftfahrtunternehmens einschränkt, indem sie für Fluggäste die Möglichkeit beschränkt, sich ihren Ausgleichsanspruch bei Annullierung eines Flugs durch Abtretung der Forderung erfüllen zu lassen?
  2. Ist Art. 7 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 5 Abs. 1 Buchst. c und Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen, dass es sich bei der Zahlung der zulasten des ausführenden Luftfahrtunternehmens vorgesehenen Ausgleichsleistungen wegen Annullierung eines Flugs unabhängig davon, ob ein Beförderungsvertrag mit dem Fluggast besteht und das Luftfahrtunternehmen seine Vertragspflichten schuldhaft verletzt hat, um eine durch diese Verordnung auferlegte Verpflichtung handelt?
  3. Sind, hilfsweise, für den Fall, dass die genannte Klausel keine gemäß Art. 15 der Verordnung Nr. 261/2004 ausgeschlossene Rechtsbeschränkung darstellt oder der Ausgleichsanspruch vertraglicher Natur ist, Art. 6 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 dahin auszulegen, dass das nationale Gericht, das über eine Klage auf Erfüllung des in Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 vorgesehenen Anspruchs auf Ausgleichsleistungen wegen Annullierung eines Flugs zu entscheiden hat, von Amts wegen die etwaige Missbräuchlichkeit einer Klausel des Beförderungsvertrag zu prüfen hat, mit der dem Fluggast die Abtretung seiner Rechte untersagt wird, wenn die Klage vom Zessionar erhoben wird, bei dem es sich im Gegensatz zum Zedenten nicht um einen Verbraucher und Dienstleistungsnehmer handelt?
  4. Falls die Prüfung von Amts wegen durchzuführen ist, kann die Verpflichtung zur Unterrichtung des Verbrauchers und zur Feststellung, ob er die Missbräuchlichkeit der Klausel geltend macht oder der Klausel zustimmt, unter Berücksichtigung der konkludenten Handlung entfallen, dass er seinen Anspruch unter Verstoß gegen die möglicherweise missbräuchliche Klausel, mit der die Abtretung der Forderung untersagt wird, übertragen hat? Zu den Vorlagefragen Zur zweiten Frage

23 Mit seiner zweiten Frage, die zuerst zu prüfen ist, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 5 Abs. 1 Buchst. c und Abs. 3 sowie Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen sind, dass sich im Fall der Annullierung eines Flugs der Anspruch der Fluggäste gegen das ausführende Luftfahrtunternehmen auf die in diesen Bestimmungen vorgesehene Ausgleichsleistung und die entsprechende Verpflichtung des ausführenden Luftfahrtunternehmens zu deren Zahlung aus dieser Verordnung ergeben, oder dahin, dass dieser Anspruch und diese Verpflichtung ihre Grundlage in einem gegebenenfalls zwischen dem betreffenden Luftfahrtunternehmen und dem betreffenden Fluggast geschlossenen Vertrag oder sogar in der schuldhaften Nichterfüllung eines solchen Vertrags durch das Luftfahrtunternehmen finden.

24 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind bei der Auslegung einer Bestimmung des Unionsrechts nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Kontext und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (Urteile vom 11. Mai 2017, Krijgsman, C‑302/16, EU:C:2017:359, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 29. September 2022, LOT (Von einer Verwaltungsbehörde auferlegter Ausgleich), C‑597/20, EU:C:2022:735, Rn. 21).

25 Nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 261/2004 wird bei Annullierung eines Flugs den betroffenen Fluggästen „vom ausführenden Luftfahrtunternehmen ein Anspruch auf Ausgleichsleistungen“ gemäß Art. 7 der Verordnung „eingeräumt“, es sei denn, sie werden über die Annullierung in der in Art. 5 Abs. 1 Buchst. c vorgesehenen Weise unterrichtet (Urteil vom 21. Dezember 2021, Airhelp, C‑263/20, EU:C:2021:1039, Rn. 49). Abs. 3 dieses Artikels legt die Voraussetzungen fest, unter denen das ausführende Luftfahrtunternehmen von der Leistung von Ausgleichszahlungen befreit ist, wenn die Annullierung auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Dezember 2008, Wallentin-Hermann, C‑549/07, EU:C:2008:771, Rn. 20).

26 In Art. 7 Abs. 1 der Verordnung ist die Höhe der Ausgleichszahlung, auf die ein Fluggast Anspruch hat, wenn in der Verordnung auf diese Bestimmung Bezug genommen wird, pauschal festgelegt.

27 In Anbetracht des Wortlauts dieser Bestimmungen und nach Maßgabe der Rechtsprechung des Gerichtshofs gehört das Recht auf eine standardisierte und pauschal berechnete Ausgleichszahlung zulasten des ausführenden Luftfahrtunternehmens zu den wesentlichen Rechten, die den Fluggästen durch die Verordnung Nr. 261/2004 verliehen wurden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. März 2020, Primera Air Scandinavia, C‑215/18, EU:C:2020:235, Rn. 37).

28 Daraus folgt, dass sich im Fall der Annullierung eines Flugs der Ausgleichsanspruch der Fluggäste nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 261/2004 und die entsprechende Verpflichtung des ausführenden Luftfahrtunternehmens, die in Art. 7 Abs. 1 dieser Verordnung vorgesehene Ausgleichszahlung zu leisten, unmittelbar aus der Verordnung ergeben. Es kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass dieser Anspruch und diese Verpflichtung ihre Grundlage in einem Vertrag haben, der gegebenenfalls zwischen dem betreffenden Fluggast und dem betreffenden ausführenden Luftfahrtunternehmen geschlossen wurde, und erst recht nicht in der schuldhaften Nichterfüllung eines solchen Vertrags durch das Luftfahrtunternehmen.

29 Diese Auslegung wird durch den Kontext von Art. 5 Abs. 1 Buchst. c und Abs. 3 sowie von Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 und auch durch das Ziel dieser Verordnung bestätigt.

30 Was erstens den fraglichen Kontext betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass durch die Verordnung Nr. 261/2004, wie es in ihrem Art. 1 Abs. 1 Buchst. b heißt, Mindestrechte für Fluggäste bei Annullierung ihres Flugs unter den in dieser Verordnung genannten Bedingungen „festgelegt“ werden.

31 Ferner ergibt sich aus Art. 2 Buchst. b in Verbindung mit Art. 3 Abs. 5 der Verordnung Nr. 261/2004, dass sich der Fluggast eines annullierten oder verspäteten Flugs gegenüber dem ausführenden Luftfahrtunternehmen auf diese Verordnung berufen kann, selbst wenn zwischen dem Fluggast und dem Luftfahrtunternehmen kein Vertrag geschlossen wurde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. März 2020, Primera Air Scandinavia, C‑215/18, EU:C:2020:235, Rn. 27 bis 29).

32 Diese Bestimmungen stützen somit die Auslegung, wonach sich der Anspruch der Fluggäste auf Ausgleichsleistungen nach den Art. 5 und 7 der Verordnung Nr. 261/2004 im Fall der Annullierung ihres Flugs unmittelbar aus dieser Verordnung ergibt.

33 Was zweitens das Ziel der Verordnung Nr. 261/2004 betrifft, so besteht dieses, wie aus deren erstem Erwägungsgrund hervorgeht, darin, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen, so dass die ihnen zuerkannten Rechte weit auszulegen sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 4. Oktober 2012, Rodríguez Cachafeiro und Martínez-Reboredo Varela-Villamor, C‑321/11, EU:C:2012:609, Rn. 25, sowie vom 30. April 2020, Blue Air – Airline Management Solutions, C‑584/18, EU:C:2020:324, Rn. 93).

34 Die in Rn. 28 des vorliegenden Urteils dargelegte Auslegung von Art. 5 Abs. 1 Buchst. c in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 steht mit diesem Ziel in Einklang, da durch sie sichergestellt wird, dass jeder von einer Flugannullierung betroffene Fluggast unter den in diesen Bestimmungen vorgesehenen Voraussetzungen unabhängig davon einen Ausgleichsanspruch hat, ob er mit dem ausführenden Luftfahrtunternehmen einen Beförderungsvertrag geschlossen hat oder nicht.

35 Diese Auslegung ist im Übrigen keineswegs unvereinbar mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs, wonach Klagen im Zusammenhang mit dem Ausgleichsanspruch nach der Verordnung Nr. 261/2004 einen „Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag“ im Sinne von Art. 5 Nr. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 betreffen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 7. März 2018, flightright u. a., C‑274/16, C‑447/16 und C‑448/16, EU:C:2018:160, Rn. 63 bis 65, sowie vom 26. März 2020, Primera Air Scandinavia, C‑215/18, EU:C:2020:235, Rn. 49). Mit dieser Rechtsprechung zur gerichtlichen Zuständigkeit in Zivil- und Handelssachen wollte der Gerichtshof nämlich eine einheitliche Anwendung des Begriffs „Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag“ im Sinne dieser Bestimmung sicherstellen, indem er entschieden hat, dass es für die Anwendung dieses Begriffs unerheblich ist, wenn der Beförderungsvertrag vom Fluggast nicht unmittelbar mit dem betreffenden ausführenden Luftfahrtunternehmen, sondern mit einem anderen Dienstleistungsträger, z. B. einem Reisebüro, geschlossen wurde. Wie die spanische Regierung und die Europäische Kommission geltend gemacht haben, soll diese Rechtsprechung nicht der Frage vorgreifen, was die eigentliche Grundlage des in der Verordnung Nr. 261/2004 vorgesehenen Ausgleichsanspruchs ist.

36 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass eine Klage, deren Ausgangspunkt in einem Vertrag liegt, auf die Geltendmachung eines Anspruchs gerichtet sein kann, der auf den Bestimmungen des betreffenden Vertrags als solchen oder auf Rechtsvorschriften beruht, die aufgrund dieses Vertrags anwendbar sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. November 2020, Wikingerhof, C‑59/19, EU:C:2020:950, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung). In einem Fall, wie er im Ausgangsverfahren vorliegt, hat die auf Ausgleichszahlung gerichtete Klage des Fluggasts bzw. eines Unternehmens, an das der Fluggast seine Ausgleichsforderung abgetreten hat, gegen das ausführende Luftfahrtunternehmen ihren Ausgangspunkt zwar notwendigerweise in einem Vertrag, sei es mit diesem Luftfahrtunternehmen oder mit einem anderen Dienstleister (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. März 2020, Primera Air Scandinavia, C‑215/18, EU:C:2020:235, Rn. 50 bis 52); jedoch ergibt sich der Ausgleichsanspruch, den dieser Fluggast bzw. dieses Unternehmen als Zessionar im Rahmen der Klage insbesondere im Fall der Annullierung eines Flugs geltend machen kann, selbst unmittelbar aus Art. 5 Abs. 1 Buchst. c in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004, wie aus den Rn. 28 und 32 des vorliegenden Urteils hervorgeht.

37 Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 5 Abs. 1 Buchst. c und Abs. 3 sowie Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen sind, dass sich im Fall der Annullierung eines Flugs der Anspruch der Fluggäste gegen das ausführende Luftfahrtunternehmen auf die in diesen Bestimmungen vorgesehene Ausgleichsleistung und die entsprechende Verpflichtung des ausführenden Luftfahrtunternehmens zu deren Zahlung unmittelbar aus dieser Verordnung ergeben.

Zur ersten Frage

38 Mit seiner ersten Frage, die an zweiter Stelle zu prüfen ist, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 15 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen ist, dass er der Einbeziehung einer Klausel in einen Beförderungsvertrag entgegensteht, die die Abtretung von Ansprüchen verbietet, die dem Fluggast gegenüber dem ausführenden Luftfahrtunternehmen nach den Bestimmungen dieser Verordnung zustehen.

39 Art. 15 („Ausschluss der Rechtsbeschränkung“) Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 bestimmt, dass die Verpflichtungen der Luftfahrtunternehmen gegenüber Fluggästen gemäß dieser Verordnung – insbesondere durch abweichende oder restriktive Bestimmungen im Beförderungsvertrag – nicht eingeschränkt oder ausgeschlossen werden dürfen.

40 Nach Maßgabe dieser Bestimmung und unter Berücksichtigung der Antwort auf die zweite Frage kann die Verpflichtung des ausführenden Luftfahrtunternehmens, im Fall der Annullierung eines Flugs die in Art. 7 Abs. 1 dieser Verordnung vorgesehene Ausgleichszahlung zu leisten, somit nicht vertraglich eingeschränkt oder ausgeschlossen werden.

41 Insoweit ist ergänzend darauf hinzuweisen, dass angesichts des u. a. Art. 15 der Verordnung Nr. 261/2004 zugrunde liegenden Ziels eines hohen Schutzniveaus für Fluggäste und der nach der in Rn. 33 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung gebotenen weiten Auslegung der Rechte der Fluggäste auch dieser Art. 15 weit auszulegen ist, soweit er den Ausschluss von Beschränkungen dieser Rechte festlegt (vgl. entsprechend Urteil vom 30. April 2020, Blue Air – Airline Management Solutions, C‑584/18, EU:C:2020:324, Rn. 102).

42 Angesichts der Verwendung des Wortes „insbesondere“ in dieser Bestimmung und in Anbetracht dieses Ziels müssen daher nicht nur Rechtsbeschränkungen als unzulässig angesehen werden, die in einem Beförderungsvertrag – einem vom Fluggast geschlossenen gegenseitigen Vertrag – enthalten sind, sondern erst recht auch solche, die in sonstigen – einseitig vom ausführenden Luftfahrtunternehmen verfassten – Dokumenten enthalten sind, auf die sich dieses gegenüber den betreffenden Fluggästen berufen möchte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 30. April 2020, Blue Air – Airline Management Solutions, C‑584/18, EU:C:2020:324, Rn. 102). Diese Bestimmung ist mithin auch auf Rechtsbeschränkungen anwendbar, die in Allgemeinen Beförderungsbedingungen enthalten sind.

43 Außerdem sind im Hinblick auf dieses Ziel und zur Gewährleistung der Wirksamkeit des Ausgleichsanspruchs der Fluggäste nicht nur solche Abweichungen oder Beschränkungen als unzulässig im Sinne von Art. 15 der Verordnung Nr. 261/2004 anzusehen, die sich unmittelbar auf diesen Anspruch als solchen beziehen, sondern auch solche, die zum Nachteil der Fluggäste die Modalitäten der Geltendmachung dieses Anspruchs im Verhältnis zu den anwendbaren Rechtsvorschriften beschränken.

44 Um ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen und sie in die Lage zu versetzen, ihre Rechte im Einklang mit dem im 20. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 261/2004 genannten Ziel wirksam wahrzunehmen, ist dem von einer Flugannullierung betroffenen Fluggast nämlich die Freiheit zu lassen, die wirksamste Art und Weise der Geltendmachung seines Anspruchs zu wählen, indem ihm insbesondere die Entscheidung überlassen wird, ob er sich unmittelbar an das ausführende Luftfahrtunternehmen wendet, die zuständigen Gerichte anruft oder – wenn dies im einschlägigen nationalen Recht vorgesehen ist – seine Forderung an einen Dritten abtritt, um Schwierigkeiten und Kosten zu vermeiden, die ihn davon abhalten könnten, für einen begrenzten Streitwert persönlich gegen das Luftfahrtunternehmen vorzugehen.

45 Daraus folgt, dass eine Klausel in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen des Beförderungsvertrags, die die Abtretung der Ansprüche des Fluggasts gegen das ausführende Luftfahrtunternehmen verbietet, eine ausgeschlossene Rechtsbeschränkung im Sinne von Art. 15 der Verordnung Nr. 261/2004 darstellt.

46 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 15 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen ist, dass er der Einbeziehung einer Klausel in einen Beförderungsvertrag entgegensteht, die die Abtretung von Ansprüchen verbietet, die dem Fluggast gegenüber dem ausführenden Luftfahrtunternehmen nach den Bestimmungen dieser Verordnung zustehen.

Zur dritten und zur vierten Frage

47 In Anbetracht der Antworten auf die ersten beiden Fragen sind die dritte und die vierte Frage nicht zu beantworten.

Kosten

48 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

  1. Art. 5 Abs. 1 Buchst. c und Abs. 3 sowie Art. 7 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91

sind dahin auszulegen, dass

sich im Fall der Annullierung eines Flugs der Anspruch der Fluggäste gegen das ausführende Luftfahrtunternehmen auf die in diesen Bestimmungen vorgesehene Ausgleichsleistung und die entsprechende Verpflichtung des ausführenden Luftfahrtunternehmens zu deren Zahlung unmittelbar aus dieser Verordnung ergeben.

  1. Art. 15 der Verordnung Nr. 261/2004

ist dahin auszulegen, dass

er der Einbeziehung einer Klausel in einen Beförderungsvertrag entgegensteht, die die Abtretung von Ansprüchen verbietet, die dem Fluggast gegenüber dem ausführenden Luftfahrtunternehmen nach den Bestimmungen dieser Verordnung zustehen.

Unterschriften

Quelle:

https://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=261%252F2004&docid=283292&pageIndex=0&doclang=de&mode=req&dir=&occ=first&part=1&cid=7284012#ctx1